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Erster Teil - Farben-Welten

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In der Dämmerung war ich ein halbes Stündchen bei Goethe. Er saß auf einem hölzernen<br />

Lehnstuhl vor seinem Arbeitstische; ich fand ihn in einer wunderbar sanften Stimmung,<br />

wie einer, der von himmlischem Frieden ganz erfüllt ist, oder wie einer, der an ein<br />

süßes Glück denkt, das er genossen hat und das ihm wieder in aller Fülle vor der Seele<br />

schwebt. Stadelmann musste mir einen Stuhl in seine Nähe setzen.<br />

Wir sprachen sodann vom Theater, welches zu meinen Hauptinteressen dieses Winters<br />

gehört. Raupachs ›Erdennacht‹ war das letzte gewesen, was ich gesehen. Ich gab mein<br />

Urteil darüber: dass das Stück nicht zur Erscheinung gekommen, wie es im Geiste des<br />

Dichters gelegen, dass mehr die Idee vorherrschte als das Leben, dass es mehr lyrisch<br />

als dramatisch sei, dass dasjenige, was durch fünf Akte hindurchgesponnen und hindurchgezogen<br />

wird, weit besser in zweien oder dreien wäre zu geben gewesen. Goethe<br />

fügte hinzu, dass die Idee des Ganzen sich um Aristokratie und Demokratie drehe, und<br />

dass dieses kein allgemein menschliches Interesse habe.<br />

Ich lobte dagegen, was ich von Kotzebue gesehen, nämlich seine ›Verwandtschaften‹<br />

und die ›Versöhnung‹. Ich lobte daran den frischen Blick ins wirkliche Leben, den glücklichen<br />

Griff für die interessanten Seiten desselben, und die mitunter sehr kernige wahre<br />

Darstellung. Goethe stimmte mir bei. »Was zwanzig Jahre sich erhält«, sagte er, »und<br />

die Neigung des Volkes hat, das muss schon etwas sein. Wenn er in seinem Kreise blieb<br />

und nicht über sein Vermögen hinausging, so machte Kotzebue in der Regel etwas Gutes.<br />

Es ging ihm wie Chodowiecki; die bürgerlichen Szenen gelangen auch diesem vollkommen,<br />

wollte er aber römische oder griechische Helden zeichnen, so ward es nichts.«<br />

Goethe nannte mir noch einige gute Stücke von Kotzebue, besonders ›Die beiden<br />

Klingsberge‹. »Es ist nicht zu leugnen,« fügte er hinzu, »er hat sich im Leben umgetan<br />

und die Augen offen gehabt.<br />

Geist und irgend Poesie«, fuhr Goethe fort, »kann man den neueren tragischen Dichtern<br />

nicht absprechen; allein den meisten fehlt das Vermögen der leichten lebendigen Darstellung;<br />

sie streben nach etwas, das über ihre Kräfte hinausgeht, und ich möchte sie in<br />

dieser Hinsicht forderte Talente nennen.«<br />

»Ich zweifle,« sagte ich, »dass solche Dichter ein Stück in Prosa schreiben können, und<br />

bin der Meinung, dass dies der wahre Probierstein ihres Talentes sein würde.« Goethe<br />

stimmte mir bei und fügte hinzu, dass die Verse den poetischen Sinn steigerten oder<br />

wohl gar hervorlockten.<br />

Wir sprachen darauf dies und jenes über vorhabende Arbeiten. Es war die Rede von<br />

seiner ›Reise über Frankfurt und Stuttgart nach der Schweiz‹, die er in drei Heften liegen<br />

hat und die er mir zusenden will, damit ich die Einzelnheiten lese und Vorschläge tue,<br />

wie daraus ein Ganzes zu machen. »Sie werden sehen,« sagte er, »es ist alles nur so<br />

hingeschrieben, wie es der Augenblick gab; an einen Plan und eine künstlerische Rundung<br />

ist dabei gar nicht gedacht, es ist, als wenn man einen Eimer Wasser ausgießt.«<br />

Ich freute mich dieses Gleichnisses, welches mir sehr geeignet erschien, um etwas<br />

durchaus Planloses zu bezeichnen.<br />

Montag, den 27. Oktober 1823<br />

Heute früh wurde ich bei Goethe auf diesen Abend zum Tee und Konzert eingeladen.<br />

Der Bediente zeigte mir die Liste der zu invitierenden Personen, woraus ich sah, dass<br />

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