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Erster Teil - Farben-Welten

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ten des Gegenstandes ausdrücken. Ein umfassendes größeres Ganze dagegen ist immer<br />

schwierig, und man bringt selten etwas Vollendetes zustande.«<br />

Montag, den 10. November 1823<br />

Goethe befindet sich seit einigen Tagen nicht zum besten; eine heftige Erkältung scheint<br />

in ihm zu stecken. Er hustet viel, obgleich laut und kräftig; doch scheint der Husten<br />

schmerzlich zu sein, denn er fasst dabei gewöhnlich mit der Hand nach der Seite des<br />

Herzens.<br />

Ich war diesen Abend vor dem Theater ein halbes Stündchen bei ihm. Er saß in einem<br />

Lehnstuhl, mit dem Rücken in ein Kissen gesenkt; das Reden schien ihm schwer zu<br />

werden.<br />

Nachdem wir einiges gesprochen, wünschte er, dass ich ein Gedicht lesen möchte, womit<br />

er ein neues jetzt im Werke begriffenes Heft von ›Kunst und Altertum‹ eröffnet. Er<br />

blieb in seinem Stuhle sitzen und bezeichnete mir den Ort, wo es lag. Ich nahm ein Licht<br />

und setzte mich ein wenig entfernt von ihm an seinen Schreibtisch, um es zu lesen.<br />

Das Gedicht trug einen wunderbaren Charakter, so dass ich mich nach einmaligem Lesen,<br />

ohne es jedoch ganz zu verstehen, davon eigenartig berührt und ergriffen fühlte. Es<br />

hatte die Verherrlichung des Paria zum Gegenstande und war als Trilogie behandelt. Der<br />

darin herrschende Ton war mir wie aus einer fremden Welt herüber, und die Darstellung<br />

der Art, dass mir die Belebung des Gegenstandes sehr schwer ward. Auch war Goethes<br />

persönliche Nähe einer reinen Vertiefung hinderlich; bald hörte ich ihn husten, bald hörte<br />

ich ihn seufzen, und so war mein Wesen geteilt: meine eine Hälfte las, und die andere<br />

war im Gefühl seiner Gegenwart. Ich musste das Gedicht daher lesen und wieder lesen,<br />

um nur einigermaßen hineinzukommen. Je mehr ich aber eindrang, von desto bedeutenderem<br />

Charakter und auf einer desto höheren Stufe der Kunst wollte es mir erscheinen.<br />

Ich sprach darauf mit Goethe sowohl über den Gegenstand als die Behandlung, wo mir<br />

denn durch einige seiner Andeutungen manches lebendiger entgegentrat.<br />

»Freilich,« sagte er darauf, »die Behandlung ist sehr knapp, und man muss gut eindringen,<br />

wenn man es recht besitzen will. Es kommt mir selber vor wie eine aus Stahldrähten<br />

geschmiedete Damaszenerklinge. Ich habe aber auch den Gegenstand vierzig Jahre<br />

mit mir herumgetragen, so dass er denn freilich Zeit hatte, sich von allem Ungehörigen<br />

zu läutern.«<br />

»Es wird Wirkung tun,«sagte ich, »wenn es beim Publikum hervortritt.«<br />

»Ach, das Publikum!« seufzete Goethe.<br />

»Sollte es nicht gut sein,« sagte ich, »wenn man dem Verständnis zu Hülfe käme und es<br />

machte wie bei der Erklärung eines Gemäldes, wo man durch Vorführung der vorhergegangenen<br />

Momente das wirklich Gegenwärtige zu beleben sucht?«<br />

»Ich bin nicht der Meinung«, sagte Goethe. »Mit Gemälden ist es ein anderes; weil aber<br />

ein Gedicht gleichfalls aus Worten besteht, so hebt ein Wort das andere auf.«<br />

Goethe scheint mir hierdurch sehr treffend die Klippe angedeutet zu haben, woran Ausleger<br />

von Gedichten gewöhnlich scheitern. Es frägt sich aber, ob es nicht möglich sei,<br />

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