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Erster Teil - Farben-Welten

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andern kehrt, ist auch desto unerträglicher. Zudem ist die Geschichte unserer eigenen<br />

Tage durchaus groß und bedeutend, die Schlachten von Leipzig und Waterloo ragen so<br />

gewaltig hervor, dass jene von Marathon und ähnliche andere nachgerade verdunkelt<br />

werden. Auch sind unsere einzelnen Helden nicht zurückgeblieben: die französischen<br />

Marschälle und Blücher und Wellington sind denen des Altertums völlig an die Seite zu<br />

setzen.«<br />

Das Gespräch wendete sich auf die neueste französische Literatur und der Franzosen<br />

täglich zunehmendes Interesse an deutschen Werken.<br />

»Die Franzosen«, sagte Goethe, »tun sehr wohl, dass sie anfangen, unsere Schriftsteller<br />

zu studieren und zu übersetzen; denn beschränkt in der Form und beschränkt in den<br />

Motiven, wie sie sind, bleibt ihnen kein anderes Mittel, als sich nach außen zu wenden.<br />

Mag man uns Deutschen eine gewisse Formlosigkeit vorwerfen, allein wir sind ihnen<br />

doch an Stoff überlegen. Die Theaterstücke von Kotzebue und Iffland sind so reich an<br />

Motiven, dass sie sehr lange daran werden zu pflücken haben, bis alles verbraucht sein<br />

wird. Besonders aber ist ihnen unsere philosophische Idealität willkommen; denn jedes<br />

Ideelle ist dienlich zu revolutionären Zwecken.<br />

Die Franzosen«, fuhr Goethe fort, »haben Verstand und Geist, aber kein Fundament und<br />

keine Pietät. Was ihnen im Augenblick dient, was ihrer Partei zugute kommen kann, ist<br />

ihnen das Rechte. Sie loben uns daher auch nie aus Anerkennung unserer Verdienste,<br />

sondern nur, wenn sie durch unsere Ansichten ihre Partei verstärken können.«<br />

Wir sprachen darauf über unsere eigene Literatur, und was einigen unserer neuesten<br />

jungen Dichter hinderlich.<br />

»Der Mehrzahl unserer jungen Poeten«, sagte Goethe, »fehlt weiter nichts, als dass ihre<br />

Subjektivität nicht bedeutend ist und dass sie im Objektiven den Stoff nicht zu finden<br />

wissen. Im höchsten Falle finden sie einen Stoff, der ihnen ähnlich ist, der ihrem Subjekte<br />

zusagt; den Stoff aber um sein selbst willen, weil er ein poetischer ist, auch dann zu<br />

ergreifen, wenn er dem Subjekt widerwärtig wäre, daran ist nicht zu denken.<br />

Aber, wie gesagt, wären es nur bedeutende Personagen, die durch große Studien und<br />

Lebensverhältnisse gebildet würden, so möchte es, wenigstens um unsere jungen Dichter<br />

lyrischer Art, dennoch sehr gut stehen.«<br />

Freitag, den 3. Dezember 1824<br />

Es war mir in diesen Tagen ein Antrag zugekommen, für ein englisches Journal unter<br />

sehr vorteilhaften Bedingungen monatliche Berichte über die neuesten Erzeugnisse<br />

deutscher Literatur einzusenden. Ich war sehr geneigt, das Anerbieten anzunehmen,<br />

doch dachte ich, es wäre vielleicht gut, die Angelegenheit zuvor mit Goethe zu bereden.<br />

Ich ging deshalb diesen Abend zur Zeit des Lichtanzündens zu ihm. Er saß bei herabgelassenen<br />

Rouleaux vor einem großen Tisch, auf welchem gespeist worden und wo zwei<br />

Lichter brannten, die zugleich sein Gesicht und eine kolossale Büste beleuchteten, die<br />

vor ihm auf dem Tische stand und mit deren Betrachtung er sich beschäftigte. »Nun,«<br />

sagte Goethe, nachdem er mich freundlich begrüßt, auf die Büste deutend, »wer ist<br />

das?« – »Ein Poet, und zwar ein Italiener scheint es zu sein«, sagte ich. »Es ist Dante«,<br />

sagte Goethe. »Er ist gut gemacht, es ist ein schöner Kopf, aber er ist doch nicht ganz<br />

erfreulich. Er ist schon alt, gebeugt, verdrießlich, die Züge schlaff und herabgezogen, als<br />

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