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Erster Teil - Farben-Welten

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Nachdem ich eine Weile gelesen, wollte ich ihm etwas darüber sagen; es kam mir aber<br />

vor, als ob er schlief. Ich benutzte daher den günstigen Augenblick und las es aber- und<br />

abermals und hatte dabei einen seltenen Genuß. Die jugendlichste Glut der Liebe, gemildert<br />

durch die sittliche Höhe des Geistes, das erschien mir im allgemeinen als des<br />

Gedichtes durchgreifender Charakter. Übrigens kam es mir vor, als seien die ausgesprochenen<br />

Gefühle stärker, als wir sie in anderen Gedichten Goethes anzutreffen gewohnt<br />

sind, und ich schloss daraus auf einen Einfluss von Byron, welches Goethe auch nicht<br />

ablehnte.<br />

»Sie sehen das Produkt eines höchst leidenschaftlichen Zustandes,« fügte er hinzu; »als<br />

ich darin befangen war, hätte ich ihn um alles in der Welt nicht entbehren mögen, und<br />

jetzt möchte ich um keinen Preis wieder hineingeraten.<br />

Ich schrieb das Gedicht, unmittelbar als ich von Marienbad abreiste und ich mich noch<br />

im vollen frischen Gefühle des Erlebten befand. Morgens acht Uhr auf der ersten Station<br />

schrieb ich die erste Strophe, und so dichtete ich im Wagen fort und schrieb von Station<br />

zu Station das im Gedächtnis Gefasste nieder, so dass es abends fertig auf dem Papiere<br />

stand. Es hat daher eine gewisse Unmittelbarkeit und ist wie aus einem Gusse, welches<br />

dem Ganzen zugute kommen mag.«<br />

»Zugleich«, sagte ich, »hat es in seiner ganzen Art viel Eigentümliches, so dass es an<br />

keins Ihrer anderen Gedichte erinnert.«<br />

»Das mag daher kommen«, sagte Goethe. »Ich setzte auf die Gegenwart, so wie man<br />

eine bedeutende Summe auf eine Karte setzt, und suchte sie ohne Übertreibung so hoch<br />

zu steigern als möglich.«<br />

Diese Äußerung erschien mir sehr wichtig, indem sie Goethes Verfahren ans Licht setzet<br />

und uns seine allgemein bewunderte Mannigfaltigkeit erklärlich macht.<br />

Es war indes gegen neun Uhr geworden; Goethe bat mich, seinen Bedienten Stadelmann<br />

zu rufen, welches ich tat.<br />

Er ließ sich darauf von diesem das verordnete Pflaster auf die Brust zur Seite des Herzens<br />

legen. Ich stellte mich derweil ans Fenster. Hinter meinem Rücken hörte ich nun,<br />

wie er gegen Stadelmann klagte, dass sein Übel sich gar nicht bessern wolle, und dass<br />

es einen bleibenden Charakter annehme. Als die Operation vorbei war, setzte ich mich<br />

noch ein wenig zu ihm. Er klagte nun auch gegen mich, dass er seit einigen Nächten gar<br />

nicht geschlafen habe, und dass auch zum Essen gar keine Neigung vorhanden. »Der<br />

Winter geht nun so hin,« sagte er, »ich kann nichts tun, ich kann nichts zusammenbringen,<br />

der Geist hat gar keine Kraft.« Ich suchte ihn zu beruhigen, indem ich ihn bat, nur<br />

nicht so viel an seine Arbeiten zu denken, und dass ja dieser Zustand hoffentlich bald<br />

vorübergehen werde. »Ach,« sagte er darauf, »ungeduldig bin ich auch nicht, ich habe<br />

schon zu viel solcher Umstände durchlebt und habe schon gelernt zu leiden und zu dulden.«<br />

Er saß in einem Schlafrock von weißem Flanell, über seine Kniee und Füße eine<br />

wollene Decke gelegt und gewickelt. »Ich werde gar nicht zu Bette gehen,« sagte er,<br />

»ich werde so auf meinem Stuhl die Nacht sitzen bleiben, denn zum rechten Schlaf<br />

komme ich doch nicht.«<br />

Es war indes Zeit geworden, er reichte mir seine liebe Hand, und ich ging.<br />

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