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Erster Teil - Farben-Welten

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kommener und weit klarer über sich und seine Vorsätze erscheine als in allem, was bisher<br />

über ihn geschrieben worden.<br />

»Der Major Parry«, fuhr Goethe fort, »muss gleichfalls ein sehr bedeutender, ja ein hoher<br />

Mensch sein, dass er seinen Freund so rein hat auffassen und so vollkommen hat darstellen<br />

können. Eine Äußerung seines Buches ist mir besonders lieb und erwünscht gewesen,<br />

sie ist eines alten Griechen, eines Plutarch würdig. ›Dem edlen Lord‹, sagt Parry,<br />

›fehlten alle jene Tugenden, die den Bürgerstand zieren und welche sich anzueignen er<br />

durch Geburt, durch Erziehung und Lebensweise gehindert war. Nun sind aber seine<br />

ungünstigen Beurteiler sämtlich aus der Mittelklasse, die denn freilich tadelnd bedauern,<br />

dasjenige an ihm zu vermissen, was sie an sich selber zu schätzen Ursache haben. Die<br />

wackern Leute bedenken nicht, dass er an seiner hohen Stelle Verdienste besaß, von<br />

denen sie sich keinen Begriff machen können.‹ Nun, wie gefällt Ihnen das?« sagte Goethe;<br />

»nicht wahr, so etwas hört man nicht alle Tage?«<br />

»Ich freue mich«, sagte ich, »eine Ansicht öffentlich ausgesprochen zu wissen, wodurch<br />

alle kleinlichen Tadler und Herunterzieher eines höher stehenden Menschen ein für allemal<br />

durchaus gelähmt und geschlagen worden.«<br />

Wir sprachen darauf über welthistorische Gegenstände in bezug auf die Poesie, und<br />

zwar inwiefern die Geschichte des einen Volkes für den Dichter günstiger sein könne als<br />

die eines andern.<br />

»Der Poet«, sagte Goethe, »soll das Besondere ergreifen, und er wird, wenn dieses nur<br />

etwas Gesundes ist, darin ein Allgemeines darstellen. Die englische Geschichte ist vortrefflich<br />

zu poetischer Darstellung, weil sie etwas Tüchtiges, Gesundes und daher Allgemeines<br />

ist, das sich wiederholt. Die französische Geschichte dagegen ist nicht für die<br />

Poesie, denn sie stellt eine Lebensepoche dar, die nicht wiederkommt. Die Literatur dieses<br />

Volkes, insofern sie auf jener Epoche gegründet ist, steht daher als ein Besonderes<br />

da, das mit der Zeit veralten wird.<br />

Die jetzige Epoche der französischen Literatur«, sagte Goethe später, »ist gar nicht zu<br />

beurteilen. Das eindringende Deutsche bringt darin eine große Gärung hervor, und erst<br />

nach zwanzig Jahren wird man sehen, was dies für ein Resultat gibt.«<br />

Wir sprachen darauf über Ästhetiker, welche das Wesen der Poesie und des Dichters<br />

durch abstrakte Definitionen auszudrücken sich abmühen, ohne jedoch zu einem klaren<br />

Resultat zu kommen.<br />

»Was ist da viel zu definieren!« sagte Goethe. »Lebendiges Gefühl der Zustände und<br />

Fähigkeit, es auszudrücken, macht den Poeten.«<br />

Mittwoch, den 15. [12.] Oktober 1825<br />

Ich fand Goethe diesen Abend in besonders hoher Stimmung und hatte die Freude, aus<br />

seinem Munde abermals manches Bedeutende zu hören. Wir sprachen über den Zustand<br />

der neuesten Literatur, wo denn Goethe sich folgendermaßen äußerte:<br />

»Mangel an Charakter der einzelnen forschenden und schreibenden Individuen«, sagte<br />

er, »ist die Quelle alles Übels unserer neuesten Literatur.<br />

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