Grundschule aktuell 123
- Keine Tags gefunden...
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Praxis: Pädagogik für arme Kinder<br />
Maresi Lassek<br />
Schulleiterin der<br />
<strong>Grundschule</strong> am<br />
Pfälzer Weg in<br />
Bremen, Vorsitzende<br />
des<br />
Grundschulverbandes<br />
●●<br />
Die individuelle Ausgangslage der<br />
Kinder bestimmt Lerninhalt und Lerntempo,<br />
aber auch unterstützende Hilfen<br />
bzw. Herausforderungen auf der<br />
Grundlage individueller Stärken. Begabungsförderung<br />
gehört im Rahmen der<br />
Heterogenität zu einem Schwerpunkt.<br />
Unterschiedlichkeit zuzulassen entspannt<br />
die individuelle Situation des<br />
einzelnen Kindes, aber auch die Lernatmosphäre<br />
insgesamt. Lernruhe und<br />
die Konzentration auf die Entwicklung<br />
tragfähiger Basiskompetenzen für<br />
Lesen, Schreiben und mathematische<br />
Grundlagen sind möglich.<br />
●●<br />
Konzeptionell eingebunden war von<br />
jeher der Übergang von der Kita in die<br />
Schule, heute steht auch der Übergang<br />
von der <strong>Grundschule</strong> in die Sekundarstufe<br />
im Jahresablauf im Blick. Der<br />
Übergang im Stufenschulsystem bereitet<br />
nicht nur Unsicherheiten für Kinder<br />
und Eltern, sondern verursacht Brüche<br />
im Lernen. Weder die Lernorganisation<br />
noch Lerninhalte, Förderschwerpunkte,<br />
Arbeitsweisen und anderes sind zwischen<br />
den Schulstufen abgestimmt.<br />
LehrerInnen aus <strong>Grundschule</strong>n und aus<br />
dem Sekundarbereich wissen wenig<br />
voneinander. Die Schule arbeitet mit<br />
einem Sekundarstufenzentrum auf drei<br />
Ebenen zusammen: LehrerInnen, Schulleitungen,<br />
SchülerInnen.<br />
●●<br />
Projekte und Profile orientieren sich<br />
an den Bedürfnissen der Kinder.<br />
Gesundheitsförderende Angebote wie<br />
die Vitaminpause, Zahngesundheitsprophylaxe,<br />
Psychomotorische Förderung,<br />
Bewegungsangebote für übergewichtige<br />
und auch leistungsstarke<br />
Kinder, Schwimmunterricht über zwei<br />
Jahre oder das Projekt »Kinder ins Rollen<br />
bringen« prägen das Schulprofil.<br />
Hinzu kommt der Schwerpunkt<br />
Lesen mit regelmäßigen Bibliotheksbesuchen,<br />
täglicher Lesezeit, Leseclubangeboten,<br />
Vorlesen im Kindergarten und<br />
der Mitarbeit von Lesehelfern.<br />
Mithilfe zusätzlicher Kommunikationsmöglichkeiten<br />
im Unterricht<br />
(Partner- und Gruppenarbeit, Helfersysteme,<br />
Gesprächskreise usw.) kann in<br />
relevanten Situationen die Sprachkompetenz<br />
gefördert werden.<br />
●●<br />
Die Herausforderung, Eltern aus<br />
einem multikulturell und von Armut<br />
geprägten Milieu mehr für die Schule<br />
zu interessieren und in das Schulleben<br />
einzubeziehen, war zu bearbeiten. Über<br />
das Projekt KESCH (Kinder, Eltern und<br />
Schule im Dialog) entstehen Begegnungen<br />
zwischen den Eltern und mit der<br />
Schule in einem eher informellen Rahmen<br />
(s. Homepage der Schule).<br />
Sprach- und Alphabetisierungskurse<br />
für Mütter finden in den Räumen der<br />
Schule statt. Begegnungen bei Schulveranstaltungen<br />
machen die Mütter<br />
sicherer im Umgang mit institutionellen<br />
Gegebenheiten. Elternbriefe werden<br />
z. B. im Sprachkurs besprochen.<br />
Verabredungen und konsequente<br />
Schritte z. B. bei häufigen Fehlzeiten<br />
oder bei Verdacht auf Vernachlässigung<br />
wirken als Schutzfaktor für die Kinder<br />
und zeigen Eltern, wo sie Verantwortung<br />
tragen. Gemeinsam mit Eltern<br />
wird der Kontakt zu Beratungseinrichtungen<br />
hergestellt.<br />
●●<br />
Teamarbeit und schulinterne Kooperation<br />
sind über einen Jahreszeitplan<br />
geregelt.<br />
●●<br />
Verantwortlichkeiten für über den<br />
Unterricht hinausgehende Aufgaben in<br />
der Schule und die Mitarbeit in Gremien<br />
werden über einen Ämterplan<br />
transparent verteilt.<br />
●●<br />
Vernetzung durch Kooperationen<br />
über die Schule hinaus in den Stadtteil<br />
und zu Hilfesystemen im Sozialbereich<br />
gehört zum Standard (siehe Beiträge<br />
zur Reform der <strong>Grundschule</strong>, Bd. 129,<br />
Allen Kindern gerecht werden).<br />
Erweiterung des Erfahrungsraumes<br />
für die Schülerinnen und Schüler<br />
Der Mangel an finanziellen Möglichkeiten<br />
in den Familien und die daraus<br />
entstehenden Einschränkungen für den<br />
Erfahrungshorizont der Kinder müssen<br />
durch schulische Angebote kompensiert<br />
werden. Deshalb bedarf es gerade<br />
an Schulen, deren Schülerschaft nur<br />
wenig Berührung mit kulturellen Angeboten,<br />
mit Sportgelegenheiten (Distanz<br />
zu Sportvereinen) oder zu Freizeiteinrichtungen<br />
in der Kommune hat,<br />
zusätzlicher Angebote. Dieses Angebot<br />
erfordert eine finanzielle Ausstattung,<br />
die nicht die Familien aufbringen können.<br />
Kontakte zur Bibliothek oder zum<br />
Sportverein gelingen besser, wenn sie in<br />
den Anfängen begleitet werden. Emotionale<br />
Barrieren gegenüber kulturellen<br />
Einrichtungen lassen sich durch Begegnungen<br />
verringern.<br />
Unsicherheiten und daraus entstehende<br />
Vermeidenshaltungen zum Beispiel<br />
wegen unzureichender Arbeitsmaterialien<br />
dürfen nicht zu Beschämungen<br />
führen. Die Qualität des Handwerkszeugs<br />
der Kinder beeinflusst Arbeitsergebnisse<br />
und den Ablauf von Arbeitsprozessen.<br />
Es macht einen Unterschied,<br />
ob die Schere gut schneidet oder nur das<br />
Papier knickt, ob der Stift weich über<br />
das Papier gleitet oder ständig abbricht<br />
usw. Deshalb stellt die Schule den Kindern<br />
z. B. Scheren, Lineal oder Zirkel zur<br />
Verfügung. Im Rahmen der in Bremen<br />
gesetzlich verankerten Lehr- und Lernmittelfreiheit<br />
erhalten die Schulen einen<br />
Etat für Hefte, Bücher und dergleichen<br />
und dürfen Ausgabenschwerpunkte<br />
eigenständig festlegen. Für Verbrauchsmaterialien<br />
wie Arbeitshefte reicht in der<br />
Regel der Etat nicht. Benachteiligungen<br />
durch die Sozialstruktur der Schülerschaft<br />
sind vorprogrammiert. Bei Schulveranstaltungen<br />
muss bedacht werden,<br />
wie viele Sonderausgaben man Familien<br />
im Laufe eines Schuljahres zumuten<br />
kann. Erfahrungsgemäß geraten Schulen<br />
in benachteiligten Gebieten zusätzlich<br />
ins Hintertreffen, weil es für mögliche<br />
Sponsoren nicht attraktiv ist, dort<br />
Spendengelder einzusetzen. Die Schulvereine<br />
dieser Schulen füllen ihre Konten<br />
nicht durch großzügige Spenden von<br />
Eltern und von Firmen aus dem Umfeld<br />
der Schule.<br />
Schulen können nicht reparieren, was<br />
die gesellschaftlichen Bedingungen und<br />
die Verhältnisse von Familien verursachen.<br />
Lehrerinnen und Lehrer haben es<br />
aber in der Hand, Kinder ernst zu nehmen,<br />
Chancen zu eröffnen, Stärken zu<br />
stärken, Lernzeit effektiv zu gestalten,<br />
bedeutsame Erfahrungen zu vermitteln<br />
und Barrieren abzubauen.<br />
Kinder haben ein Recht auf eine<br />
starke und anspruchsvolle Schule, die<br />
ihre Ausgangslage respektiert und so<br />
ausgestattet ist, dass sie mehr Bildungsgerechtigkeit<br />
herstellen kann.<br />
22 GS <strong>aktuell</strong> <strong>123</strong> • September 2013