OPAC 2015 03
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literatur<br />
von Martina Lainer<br />
Wünsche an den Literaturnobelpreis <strong>2015</strong><br />
Noch wissen wir nicht, wem die Schwedische Akademie<br />
in Stockholm den Literaturnobelpreis <strong>2015</strong><br />
verleiht. Alfred Nobel verfügte in seinem Testament<br />
vom 27. November 1895, dass das Preisgeld<br />
an den ergehen soll, „der in der Literatur das beste<br />
in idealistischer Richtung geschaffen hat“.<br />
Es ist weder ein politisches noch ein ästhetisches<br />
Kriterium, sondern ein ideelles, denn:<br />
„Das Kapital (…) soll einen Fond bilden, dessen<br />
jährliche Zinsen als Preis denen zugestellt werden,<br />
die im verflossenen Jahr der Menschheit den<br />
größten Nutzen gebracht haben.“<br />
BRÜCKEN ZUR VERSÖHNUNG<br />
Angesichts der geopolitischen Lage der Welt<br />
könnte ein Autor der Menschheit von Nutzen sein,<br />
dem es um Friedensvisionen geht, der Brücken<br />
zur Versöhnung zwischen den Kulturen baut und<br />
einen Blick freimacht auf eine Welt, wie sie sein<br />
könnte. Und der Figuren schafft, die um Erkenntnis<br />
und Identität ringen sowie nach Sinn und um<br />
ein Verstehen von Gott und der Welt suchen.<br />
Bei den Preisträger/innen bleibe ich beim ersten<br />
und bislang einzigen Schriftsteller aus dem arabischen<br />
Raum von 1988 hängen: dem Ägypter Nagib<br />
Machfus (1911–2006). Eine so besonnene und<br />
doch an Klarheit nichts zu wünschen übrig lassende,<br />
mutige und authentische Stimme aus der<br />
Welt des Islam wäre auch heute hilfreich. Ich frage<br />
mich, was er wohl zum sog. Islamischen Staat und<br />
den Flüchtlingsströmen sagen würde. 1996 antwortete<br />
er in einem Interview auf die Frage: Wie<br />
denken Sie heute über die Gewalt und ihre Ursachen?<br />
„Die Religionen wollten der Menschheit Liebe und<br />
Toleranz bringen. Wenn man sich also mit Gewalt<br />
und Terror beschäftigt, muss man nach den gesellschaftlichen<br />
und politischen Bedingungen fragen,<br />
die dafür den Nährboden bereiten. Soviel ich weiß,<br />
gibt es keine Religion, die auf Gewalt und Terror<br />
beruht. Es gibt auch keine Religion, die Menschen<br />
mit dem Schwert bekehrt. Der Islam geht<br />
mit leuchtendem Beispiel voran. (…) Jede Religion<br />
hat im Lauf ihrer Geschichte Zeiten der Gewalt<br />
erfahren. Was aber heute im Namen des Islam<br />
geschieht, dass sogar getötet und der Mord an<br />
Unschuldigen gutgeheißen wird, ist in der Tat ein<br />
schwerwiegendes Problem. (…) Wenn wir heute<br />
die Lage in der arabischen Welt betrachten, können<br />
wir ein weit verbreitetes Gefühl der Verzweiflung<br />
feststellen. Es ist die Folge einer erbarmungslosen<br />
Wirtschaftskrise und fehlender politischer<br />
Freiheiten.“<br />
DIE WAHREN AUFGABEN DES JAHRHUNDERTS<br />
Lesenswert ist seine Rede zur Verleihung des Nobelpreises,<br />
in der er die islamische Tradition straff<br />
skizziert und die aktuelle Situation mit der Politik<br />
und Wirtschaft der kapitalistischen Welt in Verbindung<br />
bringt. Er fordert von den Politikern, sich<br />
den „wahren Aufgaben unseres Jahrhunderts<br />
zu stellen“ und den „Dieben und Wucherern das<br />
Handwerk zu legen.“ Und:<br />
„Die wirkliche Größe der Regierenden darf heute<br />
einzig an ihrem Weitblick und ihrem Verantwortungsgefühl<br />
für die gesamte Menschheit gemessen<br />
werden. Denn die Industriestaaten und die<br />
Staaten der Dritten Welt sind eine Familie, und<br />
ein jeder von uns ist entsprechend seiner Entwicklung,<br />
seiner Bildung und seiner Erfahrung für deren<br />
Gedeihen mitverantwortlich.“<br />
Ich hoffe, dass der Literaturnobelpreis <strong>2015</strong> an eine<br />
Stimme des Nahen Ostens geht, die der verunsicherten<br />
Menschheit durch das literarische Werk<br />
eine Horizonterweiterung bringt und uns zu Friedensvorstellungen<br />
verhilft. •<br />
MAG. MARTINA LAINER<br />
Germanistin und Religionspädagogin. Sie war<br />
12 Jahre lang als pädagogische Referentin im<br />
BibliotheksWerk in Salzburg tätig und lebt<br />
seit 2004 in Braunau am Inn, wo sie im Krankenhaus<br />
St. Josef als Seelsorgerin arbeitet. Sie<br />
engagiert sich bei den Literarischen Kursen als<br />
Begleiterin von Fernkursteilnehmer/innen und<br />
als Referentin. „Lesen am Abend“ heißt ihr<br />
monatlich stattfindendes literarisches Angebot in Braunau.<br />
Bild: privat<br />
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