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Herausgeber:<br />

Prof. Dr. Monika Jachmann-Michel Holger Radke Prof. Dr. Thomas Voelzke Prof. Dr. Stephan Weth RA Prof. Dr. Christian Winterhoff<br />

M 4 APRIL<br />

2016<br />

Die Monatszeitschrift<br />

Topthema:<br />

Das „Gaffer-Phänomen“<br />

im Straßen verkehr<br />

Dipl.-Verww. Ernst Hunsicker und<br />

Ref. iur. Sebastian Belz, LL.M.<br />

In dieser Ausgabe:<br />

Kollektive Durchsetzung<br />

kartelldeliktsrechtlicher<br />

Ansprüche – Deutschland<br />

unter Zugzwang<br />

RiLG Dr. Hanno Gorius<br />

Die Rechtsprechung zur<br />

Unwirksamkeit von<br />

Eheverträgen<br />

RA und FA für Familienrecht,<br />

Notar Dr. K.-Peter Horndasch<br />

Arbeitsrechtliche Sonderwege<br />

im bezahlten<br />

Fußball? (Teil 2)<br />

VRiBAG a.D. Klaus Bepler<br />

Steuer(un)gerechtigkeit<br />

für Familien?<br />

RiBFH Prof. Dr. Monika Jachmann-Michel<br />

Die<br />

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Expertengremium:<br />

Wolfgang Ball | RA Prof. Dr. Guido Britz | Prof. Dr. Harald Dörig | Dr. Heinz-Jürgen Kalb | Prof. Dr. mult. Michael Martinek | Dr. Wolfram Viefhues<br />

INHALT<br />

JM 4 APRIL<br />

2016<br />

AUFSÄTZE UND ANMERKUNGEN<br />

Zivil- und Wirtschaftsrecht<br />

Kollektive Durchsetzung kartelldeliktsrechtlicher<br />

Ansprüche –<br />

Deutschland unter Zugzwang<br />

RiLG Dr. Hanno Gorius S. 134<br />

Die Rechtsprechung zur Unwirksamkeit<br />

von Eheverträgen<br />

RA und FA für Familienrecht,<br />

Notar Dr. K.-Peter Horndasch S. 139<br />

Hintergrundmusik in Zahnarztpraxen<br />

BGH, Urt. v. 18.06.2015 - I ZR 14/14<br />

Prof. Dr. Hannes Ludyga S. 146<br />

Schadensersatz wegen Nichtgewährung<br />

eines KiTa-Platzes<br />

OLG Dresden, Urt. v. 26.08.2015 - 1 U 319/15<br />

RA und FA für IT-Recht Wolfgang Kuntz S. 148<br />

Arbeitsrecht<br />

Arbeitsrechtliche Sonderwege im<br />

bezahlten Fußball? (Teil 2)<br />

VRiBAG a.D. Klaus Bepler S. 151<br />

Reichweite der Bindung des Berufungsgerichts<br />

nach Zurückverweisung<br />

LArbG Hamm, Urt. v. 22.01.2015 - 17 Sa 1617/14<br />

RA Dr. Wulf Gravenhorst S. 154<br />

Sozialrecht<br />

Leistungsausschluss im SGB II für EU-Bürger<br />

– Sozialhilfeanspruch bei Aufenthaltsdauer<br />

von über sechs Monaten<br />

BSG, Urt. v. 03.12.2015 - B 4 AS 44/15 R<br />

RiSG Johannes Greiser S. 156<br />

XIII


Die Monatszeitschrift<br />

INHALT<br />

Topthema:<br />

AUFSÄTZE UND ANMERKUNGEN<br />

Verwaltungsrecht<br />

Das „Gaffer-Phänomen“ im Straßenverkehr<br />

Dipl.-Verww. Ernst Hunsicker und<br />

Ref. iur. Sebastian Belz, LL.M. S. 160<br />

Subjektiver Rechtsschutz, Einwendungspräklusion<br />

und Bestandskraft – klare<br />

Worte vom EuGH?<br />

EuGH, Urt. v. 15.10.2015 - C-137/14<br />

RiVG Dr. Thomas Jacob S. 166<br />

Steuerrecht<br />

BÜCHERSCHAU<br />

Steuer(un)gerechtigkeit für Familien?<br />

RiBFH Prof. Dr. Monika Jachmann-Michel S. 168<br />

Michael Stolleis, Margarethe und der Mönch –<br />

Rechtsgeschichte in Geschichten<br />

Univ.-Prof. Dr. Dr. Dr. mult. Michael Martinek,<br />

M.C.J. (New-York Univ.), Hon.-Prof. (Johannesburg) S. 175<br />

Hesselmann/Tillmann/Mueller-Thuns, Handbuch<br />

GmbH & Co. KG<br />

Univ.-Prof. Dr. Dr. Dr. mult. Michael Martinek,<br />

M.C.J. (New-York Univ.), Hon.-Prof. (Johannesburg) S. 175<br />

XIV


EDITORIAL<br />

JM 4 APRIL<br />

2016<br />

Das Gaffen bei Unglücksfällen – nur eine lässliche Sünde?<br />

In unserem Topbeitrag leuchten die Autoren Ernst Hunsicker<br />

und Christoph Belz die Untiefen des Gaffer-Phänomens<br />

im Straßenverkehr nach geltendem Recht aus. Die<br />

Untersuchung behandelt Aspekte des Straf- und Ordnungswidrigkeitenrechts,<br />

des Schutzes des Persönlichkeitsrechts<br />

sowie des Gefahrenabwehrrechts. Die Bestandsaufnahme<br />

weist aus, dass die Rechtsordnung bereits einen ganzen<br />

Strauß von Reaktionsmöglichkeiten bereithält. Gleichwohl<br />

erscheinen Bestrebungen – zuletzt aus Niedersachsen – de<br />

lege ferenda Rettungseinsätze und Opfer besser zu schützen,<br />

als durchaus nachvollziehbar. Die Autoren weisen<br />

allerdings darauf hin, dass die eigentliche Problematik bereits<br />

nach geltendem Recht in der mangelnden faktischen<br />

Durchsetzung der rechtlichen Möglichkeiten liegt, weil der<br />

Fokus der am Einsatz beteiligten Kräfte zwangsläufig auf<br />

Hilfsmaßnahmen in der Notsituation, nicht jedoch auf die<br />

Verfolgung von Normverstößen und Beweissicherungsmaßnahmen<br />

gerichtet ist. Insofern stellt sich die Erprobung<br />

und Verwendung eines Sichtschutzes in Gestalt von „Anti-<br />

Gaffer-Planen“ als ausbaufähige Präventionsmaßnahme<br />

dar. Noch dringlicher dürfte allerdings die Aufklärung über<br />

die möglicherweise fatalen Folgen des Gaffens sein – hierzu<br />

leistet die jM mit ihrem aktuellen Topthema einen Beitrag.<br />

Prof. Dr. Thomas Voelzke<br />

Vorsitzender Richter am Bundessozialgericht<br />

Bei einem Gaffer handelt es sich nach dem Deutschen<br />

Wörterbuch der Gebrüder Jacob und Wilhelm Grimm um<br />

einen „neugierigen, müszigen zuschauer“. Würde sich<br />

das uns allen bekannte Phänomen des Gaffens bei Notfällen<br />

tatsächlich auf die kurze Befriedigung der jedem<br />

Menschen innewohnenden Sensationslust beschränken,<br />

so wäre diese Verhaltensweise vielleicht ärgerlich, jedoch<br />

keiner näheren juristischen Betrachtung wert. Leider verhält<br />

es sich anders, denn das Gaffen umschreibt über den<br />

ursprünglichen Wortsinn hinaus inzwischen einen komplexen<br />

Vorgang, der nicht nur das Betrachten eines Notfalls<br />

selbst, sondern gege benenfalls auch die Behinderung<br />

von Rettungskräften und Verkehr sowie das Filmen mittels<br />

Handy und das anschließende Veröffentlichen der Notsituation<br />

im Netz umfasst.<br />

Zu den rechtspolitischen Dauerbrennern rechnen Fragestellungen,<br />

die das Verhältnis von Steuerrecht einerseits<br />

und dem verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie<br />

andererseits in den Blick nehmen. Monika Jachmann-<br />

Michel stellt hierbei in ihrem Beitrag „Steuer(un)gerechtigkeit<br />

für Familien“ das Ehegattensplitting und den steuerlichen<br />

Familienlastenausgleich auf den Prüfstand. Sie<br />

legt hinsichtlich des Ehegattensplittings nachvollziehbar<br />

dar, dass es gerade die freie Gestaltung des Zusammenlebens<br />

der Ehegatten vor staatlicher Einflussnahme schützt.<br />

Sämtliche Reformüberlegungen müssen diesen in der politischen<br />

Diskussion häufig vernachlässigten Gesichtspunkt<br />

in den Blick nehmen. Hinsichtlich des Familienlastenausgleichs<br />

unterzieht Monika Jachmann-Michel das Nebeneinander<br />

von Kindergeld und steuerlichen Kinderfreibeträgen<br />

einer kritischen Untersuchung. Sie plädiert für eine systemgerechte<br />

Rückführung des Kindergeldes in das Sozialrecht.<br />

Anmerkungen zu aktuellen und wichtigen Entscheidungen<br />

aus allen Rechtsgebieten bilden bekanntlich das „Rückgrat“<br />

der jM! Auch in dieser Ausgabe präsentieren wir<br />

Highlights der Spruchtätigkeit deutscher und europäischer<br />

Gerichte. Ich bin davon überzeugt, dass Fragen der Gema-<br />

Pflichtigkeit der Hintergrundmusik in Zahnarztpraxen<br />

(Hannes Ludyga), des Schadensersatzes wegen Nichtgewährung<br />

eines KiTa-Platzes (Wolfgang Kuntz), der Bindung<br />

des Berufungsgerichts nach Zurückverweisung (Wulf Gravenhorst),<br />

der Sozialhilfe für EU-Bürger bei verfestigtem<br />

Aufenthalt (Johannes Greiser) und des Verbandsklagerechts<br />

zu Umweltverträglichkeitsprüfungen (Thomas Jacob)<br />

auf Ihr geschätztes Interesse stoßen werden.<br />

Viel Spaß und Nutzen bei der Lektüre<br />

Thomas Voelzke<br />

133


Die Monatszeitschrift<br />

AUFSÄTZE UND ANMERKUNGEN<br />

Zivil- und Wirtschaftsrecht<br />

Kollektive Durchsetzung kartelldeliktsrechtlicher Ansprüche –<br />

Deutschland unter Zugzwang<br />

RiLG Dr. Hanno Gorius<br />

A. Problemstellung<br />

Kommt es zwischen konkurrierenden Marktteilnehmern<br />

zu kartellrechtswidrigen Absprachen, scheitert eine Restitution<br />

geschädigter Endverbraucher i.d.R. an der mangelnden<br />

Klagemotivation des Einzelnen. In Anbetracht<br />

der geringen Schäden, die auf der letzten Vertriebsstufe<br />

zu verzeichnen sind, dienen Massenschadensereignisse<br />

im Bereich des Kartelldeliktsrechts daher allzu oft als<br />

Illustration des von Mancur Olson formulierten Paradoxons<br />

1 der „rationalen Passivität“, 2 da ein Zusammenschluss<br />

geschädigter Individuen zum Zwecke der gebündelten<br />

Geltendmachung der Einzelforderungen nicht<br />

stattfindet.<br />

Vor dem Hintergrund dieser Problematik werden im kontinentaleuropäischen<br />

Kartelldeliktsrecht in der letzten Zeit<br />

vermehrt Forderungen nach einer Novation des kollektiven<br />

Rechtsschutzes laut, da dem bestehenden System mangelnde<br />

Effektivität, eine unzureichende Abschreckungswirkung<br />

gegenüber potenziellen Kartellanten sowie die Abwesenheit<br />

einer veritablen Restitutionschance geschädigter<br />

Individuen vorgeworfen wird.<br />

Während die EU und zuletzt auch der französische Gesetzgeber<br />

auf diese Entwicklung reagierten und ihre Bemühungen<br />

in Form nationaler sowie europäischer Reformanstrengungen<br />

in ein regelungspolitisches Fundament gegossen<br />

haben, vermochte die Bundesregierung 3 ihre Vorbehalte<br />

gegenüber der Einführung eines Sammelklagenmechanismus<br />

nach US-amerikanischen Vorbild bislang nicht zu überwinden.<br />

Den infolge eines Wettbewerbsverstoßes geschädigten<br />

Individuen in der Bundesrepublik Deutschland ist es daher<br />

bislang nicht möglich, Schadensersatz im Wege eines<br />

gemeinsamen Vorgehens wirksam zu erstreiten. Will der<br />

deutsche Gerichtsstandort angesichts eines zu erwartenden<br />

legislatorischen „Race to the Bottom“ indes nicht<br />

ins Hintertreffen geraten und zugleich den Anforderungen<br />

des europäischen Gesetzgebers in Form der Zielsetzung<br />

der restitutio ad integrum – der Totalrestitution<br />

der Opfer eines Kartellrechtsverstoßes 4 – zu genügen,<br />

erscheint eine Reform des deutschen Kartelldeliktsrechts<br />

unumgänglich.<br />

B. Private Kartelldeliktsrechtsdurchsetzung<br />

in der Französischen Republik<br />

Zur Illustration einer möglichen Umgestaltung des Systems<br />

der Kartelldeliktsrechtsdurchsetzung lohnt zunächst ein<br />

Blick zu unserem Nachbarn und wichtigsten Außenhandelspartner,<br />

der Französischen Republik.<br />

Die Verfolgung und Ahndung kartellrechtlicher Ver stöße<br />

in Frankreich oblag bislang ausschließlich staatlichen Akteuren,<br />

deren Verfolgungseffektivität in der vergan genen<br />

Dekade nicht gesteigert werden konnte. Trotz eines jedenfalls<br />

durchschnittlichen Zuwachses der verhängten<br />

Strafzahlungen hat sich die Aufdeckungswahrscheinlichkeit<br />

halbiert. Zur hinreichenden Abschreckung potenzieller<br />

Kartellanten vermögen damit auch nicht jene Regelungen<br />

beizutragen, die eine strafrechtliche Pönalisierung der an<br />

einem Wettbewerbsverstoß beteiligten Individuen in Form<br />

der Freiheitsstrafe vorsehen. Überdies sieht das französische<br />

Kronzeugenprogramm eine Bevorteilung hinsichtlich<br />

der zivilrechtlichen Verantwortlichkeit nicht vor, was den<br />

Geständniseifer potenzieller Kronzeugen, insbesondere vor<br />

dem Hintergrund der Einführung einer wettbewerbsrechtlichen<br />

Sammelklage, signifikant vermindert.<br />

Vermittels des Projet de loi relatif à la consommation 5<br />

wurde in Frankreich jedoch nunmehr eine Sammelklage<br />

kodifiziert, die im Bereich des Kartelldeliktsrechts ein effek-<br />

1 Olson, The Logic of Collective Action, 1965, S. 55, 62: Hiernach nimmt<br />

die Motivation eines Individuums, einen eigenen Beitrag zum Wohle<br />

einer Gruppe zu leisten, mit steigender Gruppengröße stetig ab, da es<br />

davon ausgehen muss, dass sein eigener Beitrag die Gesamtsituation/<br />

das Gemeinwohl nicht merklich beeinflusst.<br />

2 Fritscher, Le Figaro, 19.02.2008, S. 14.<br />

3 Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 17/185, S. 22213; siehe auch<br />

Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, Pressemitteilung<br />

vom 28.03.2012, abrufbar unter http://www.bmwi.de/DE/Presse/pressemitteilungen,did=483552.html/<br />

(zuletzt abgerufen am<br />

07.02.2016).<br />

4 Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2014/104/EU des Europäischen Parlaments<br />

und des Rates vom 26.11.2014 über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen<br />

nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen<br />

gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten<br />

und der EU, ABl. EU, L 349 vom 05.12.2014, S. 1 ff.<br />

5 Loi relative à la consommation N° 2014-344 du 17 mars 2014, JO n°<br />

65 du 18 mars 2014.<br />

134


JM 4 APRIL<br />

2016<br />

tives, konzertiertes Vorgehen ermöglicht. Der Anwendungsbereich<br />

der neu geschaffenen „Action de groupe“ 6 ist in<br />

prozessualer Hinsicht auf die Prozessführungsbefugnis von<br />

Verbraucherverbänden beschränkt. In materiell-rechtlicher<br />

Hinsicht erstreckt sich der Anwendungsbereich auf deliktische<br />

Ansprüche infolge der Verletzung des französischen<br />

sowie des europäischen Wettbewerbsrechts.<br />

Das Klageverfahren untergliedert sich in zwei konsekutive<br />

Phasen. In einer ersten Phase entscheidet das angerufene<br />

Gericht über die Haftung des beklagten Unternehmens<br />

dem Grunde nach und informiert sodann, nach Eintritt der<br />

Rechtskraft des sog. „Jugement au fond“, in einem zweiten<br />

Schritt die potenziell betroffenen Verbraucher auf Kosten<br />

des Beklagten. Den geschädigten Individuen ist sodann<br />

die Möglichkeit des Klagebeitritts im Sinne eines Opt-In-<br />

Mechanismus eröffnet.<br />

Der Anwendungsbereich der französischen Sammelklage im<br />

Bereich des Kartelldeliktsrechts erlaubt sowohl die Liquidation<br />

direkter als auch indirekter Schäden. Sie darf allein auf<br />

Grundlage einer bestands- bzw. rechtskräftigen Entscheidung<br />

einer französischen respektive europäischen Wettbewerbsbehörde<br />

oder eines Gerichts erhoben werden und ist daher<br />

auf das Modell der Folge bzw. Konsekutivklage 7 beschränkt,<br />

was nicht nur auf Vorbehalte gegenüber dem vermeintlichen<br />

Missbrauchspotenzial, sondern auch auf die Besorgnis der<br />

Beweisnot potenzieller Privatkläger zurückzuführen ist. Die<br />

„Action de groupe“ vereinfacht somit die Kompensation der<br />

Opfer eines von der nationalen Kartellbehörde aufgedeckten<br />

Wettbewerbsverstoßes im Fall sog. Massenschäden. Die Zielsetzung<br />

einer gesteigerten Abschreckungswirkung, die stets<br />

aus einem Zusammenwirken einer hohen Aufdeckungswahrscheinlichkeit<br />

und der Höhe der zu gewärtigenden Pönale<br />

erwächst, wird hingegen verfehlt.<br />

Die in der unlängst verabschiedeten Richtlinie 8 enthaltene<br />

Formulierung, wonach sog. „Stand-Alone-Klagen“ 9 nicht<br />

explizit ausgeschlossen sind, nimmt den französischen Gesetzgeber<br />

überdies erneut in die Pflicht, befördert die Richtlinie<br />

doch maßgeblich die Möglichkeit proaktiver Klagen im<br />

Kartelldeliktsrecht. Die umfangreichen Bestimmungen zur<br />

Beseitigung der Beweisnot des oder der geschädigten Verbraucher<br />

und die dezidierte Regelung zum Schutze der europäischen<br />

und mitgliedstaatlichen Kronzeugenprogramme<br />

delegitimieren die bisherigen Vorbehalte in Gänze und<br />

verlangen daher zwingend eine erneute Gesetzesreform.<br />

C. Class Action und Collective Redress – über die<br />

Anstrengungen der EU-Kommission zur Schaffung<br />

einer Sammelklage im Kartelldeliktsrecht<br />

Seit annähernd einer Dekade verfolgt die EU nunmehr die<br />

Zielsetzung der Einführung einer Sammelklage zum Wohle<br />

der Verbraucher. 10 Die in die kontinentaleuropäische Dogmatik<br />

diffundierten Vorbehalte gegenüber der Einführung<br />

eines Sammelklagemechanismus nach US-amerikanischem<br />

Vorbild verhindern indes die verbindliche Einführung einer<br />

europäischen Kollektivklage. Im Hinblick auf die sensible<br />

Problematik der konkreten prozessrechtlichen Ausgestaltung<br />

der kollektiven Durchsetzung von Verbraucherinteressen<br />

relativiert die Europäische Kommission ihren gegenüber<br />

den Rechtstraditionen des Großteils der Mitgliedstaaten<br />

radikalen Ansatz mit dem Mittel der Unverbindlichkeit. In<br />

concreto wird die Zielsetzung der Einführung einer Verbrauchersammelklage<br />

sui generis lediglich in der Form<br />

einer Kommissionsempfehlung 11 verfolgt, während der europäische<br />

Gesetzgeber die zivilprozessuale sowie materiellrechtliche<br />

Reform der privaten Kartellrechtsdurchsetzung<br />

im Übrigen vermittels einer Richtlinie ausgestaltet.<br />

Obgleich die Einführung einer Opt-In-Gruppenklage im Fall<br />

der Verletzung nationalen oder europäischen Wettbewerbsrechts<br />

noch im Rahmen des Weißbuchs die Stellung einer<br />

zentralen Forderung einnahm, 12 greift der Regelungsinhalt<br />

der verbindlich umzusetzenden Richtlinie die Thematik der<br />

Kollektivklage im Kartelldeliktsrecht nicht auf. Der europäische<br />

Gesetzgeber beschränkt sich vielmehr auf eine<br />

allgemein gefasste Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur<br />

Effektivierung des Rechtsschutzes und den Hinweis darauf,<br />

dass auf bereits bestehende Kollektivmechanismen bzw.<br />

Stellvertreterklagen zurückgegriffen werden kann. Die – unverbindliche<br />

– Kommissionsempfehlung optiert hingegen –<br />

entsprechend der französischen Regelung – für einen Opt-<br />

6 Art. L. 423-1 ff. Code de la consommation.<br />

7 Sog. Follow-On-Action.<br />

8 Richtlinie 2014/104/EU des Europäischen Parlaments und des Rates<br />

vom 26.11.2014 über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen<br />

nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche<br />

Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der EU,<br />

ABl. EU, L 349 vom 05.12.2014, S. 1 ff.<br />

9 Unter diesen Begriff fasst die US-amerikanische Kartelldeliktsrechtsdogmatik<br />

proaktive Privatklagen, die sich nicht auf eine vorangegangene<br />

Entscheidung einer Kartellbehörde stützt.<br />

10 Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament<br />

und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, Verbraucherpolitische<br />

Strategie der EU, Stärkung der Verbraucher – Verbesserung<br />

des Verbraucherwohls – wirksamer Verbraucherschutz,<br />

KOM(2007) 99 endgültig vom 13.03.2007, abrufbar unter http://<br />

eur-lex.europa.eu/resource.html?uri=cellar:902cdb5f-2676-48f5-<br />

a587-c9919e757b44.0002.03/DOC_2& format=PDF/ (zuletzt abgerufen<br />

am 07.02.2016).<br />

11 Empfehlung der Kommission vom 11.06.2013, 2013/396/EU, ABl. EU,<br />

L 201 vom 26.07.2013, S. 60 ff.<br />

12 Weißbuch Schadensersatzklagen wegen Verletzung des EG-Wettbewerbsrechts,<br />

KOM(2008) 165 endgültig vom 02.04.2008, S. 5, abrufbar unter<br />

http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2008:0165:<br />

FIN:DE:PDF/ (zuletzt abgerufen am 07.02.2016).<br />

135


Die Monatszeitschrift<br />

In-Mechanismus sowie das Modell der Folgeklage, ohne die<br />

Beförderung proaktiv initiierter Klagen explizit zu verbieten.<br />

Die anempfohlene Vorgreiflichkeit der Zulässigkeitsprüfung,<br />

die sich an der jüngeren Rechtsprechung des US-Supreme<br />

Court orientiert, 13 das Verbot des Strafschadensersatzes<br />

sowie die Wahl des Opt-In-Modells lassen sich unschwer als<br />

Tribut an die Vorbehalte gegenüber der US-amerikanischen<br />

Class Action sowie an den Gedanken des Respekts der<br />

Rechtstraditionen der EU-Mitgliedstaaten interpretieren.<br />

An der europäischen sowie französischen Präferenz für die<br />

kollektive Folgeklage ist aus komparatistischer Sicht hierbei<br />

besonders bemerkens- und erwähnenswert, dass die USamerikanischen<br />

Kritiker der Sammelklage diese Form des<br />

kollektiven Vorgehens für besonders „verwerflich“ halten<br />

und dieser Haltung auch semantisch Ausdruck verleihen,<br />

indem sie die Folgeklage als sog. „Piggybacking“ und die<br />

Folgekläger als sog. „Free Rider“ bezeichnen. 14<br />

D. Kollektive Kartelldeliktsrechtsdurchsetzung<br />

in der Bundesrepublik Deutschland<br />

I. Deutsche Kartelldeliktsrechtsdurchsetzung<br />

de lege lata<br />

Ein der US-amerikanischen Class Action 15 oder der französischen<br />

Action de groupe 16 vergleichbarer Kollektivklagemechanismus<br />

findet im deutschen Recht keine Entsprechung.<br />

Die in der deutschen lex lata statuierten Regelungen zur<br />

Bündelung von Individualforderungen reichen an die Simplizität<br />

und Effektivität der US-amerikanischen oder französischen<br />

Ausgestaltung, insbesondere jene der „Action<br />

de groupe simplifiée“, 17 nicht heran. Dies betrifft sowohl<br />

die Zivilprozessordnung, 18 das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz,<br />

das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb<br />

19 sowie das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen,<br />

20 denen insgesamt der Anspruch zu eigen ist, eine<br />

effektive Restitution einer Pluralität geschädigter Individuen<br />

zu ermöglichen.<br />

Die Effektivität der Kartellrechtsdurchsetzung ruht in der<br />

Bundesrepublik Deutschland daher nahezu ausschließlich<br />

auf den Schultern der nationalen Kartellbehörden. Der faktische<br />

Primat des Public Enforcement bedingt jedoch sowohl<br />

eine mangelnde Verfolgungseffektivität als auch eine<br />

mangelnde Kompensation der Opfer eines Kartellrechtsverstoßes.<br />

Obgleich sie im Unterschied zu den entsprechenden<br />

Regelungen im US-amerikanischen Kartellrecht des Bundes<br />

eine Anspruchsberechtigung auf sämtlichen Marktstufen<br />

vorsieht, vermag die private Kartelldeliktsrechtsdurchsetzung<br />

dieses Defizit bisher nicht zu kompensieren.<br />

Schienen die aufsehenerregenden Verfahren in den Fällen<br />

Transportbeton, 21 Zement 22 und Selbstdurchschreibepapier<br />

23 die Ansicht der Bundesregierung, welche Deutschland<br />

seit den Änderungen durch die 7. GWB-Novelle als<br />

Vorreiter der privaten Kartellrechtsdurchsetzung in Europa<br />

ansieht, noch zu untermauern, 24 ist die Geltendmachung<br />

sog. Kartellzivilklagen in der Bundesrepublik Deutschland<br />

zuletzt rückläufig. Während auf den Zeitraum 2009/2010<br />

noch die Zahl von 556 Kartellzivilklagen entfiel, 25 wurden<br />

im Zeitraum 2011/2012 lediglich 311 26 und im Zeitraum<br />

2013/2014 insgesamt 322 27 Klagen erhoben. Dies entspricht<br />

einem Rückgang von durchschnittlich 43 %, womit<br />

sich die Privatklagetätigkeit innerhalb von vier Jahren nahezu<br />

halbierte. In Anbetracht der gewichtigen Rolle, die der<br />

privaten Kartellrechtsdurchsetzung in der Durchsetzung,<br />

Fortentwicklung und Rechtsfortbildung 28 des deutschen<br />

Kartellrechts seitens des Bundeskartellamtes zuerkannt<br />

wird, ist dies nicht zuletzt deshalb bedenklich, als die<br />

oberste deutsche Kartellbehörde nach eigener Aussage auf<br />

die Ergänzungsfunktion der privaten Kartellrechtsdurchsetzung<br />

dringend angewiesen ist. 29<br />

In der deutschen privatklägerischen Praxis sind überdies<br />

proaktiv initiierte Klagen vorherrschend, die vor allem die<br />

Bereiche der Liefer- und Geschäftsverweigerung sowie die<br />

Wirksamkeit von Verträgen und ihrer Beendigung betref-<br />

13 Wal-Mart Stores, Inc. v. Dukes, 131 S.Ct. 2541, 2551, 2011: „Sometimes<br />

it may be necessary for the court to probe behind the pleadings<br />

before coming to rest on the certification question […] certification<br />

is proper only if the trial court is satisfied after a rigorous analysis,<br />

that the prerequisites of Rule 23(a) have been satisfied. Frequently<br />

that ‚rigorous analysis‘ will entail some overlap with the merits of the<br />

plaintiff’s underlying claim. That cannot be helped.“.<br />

14 Coffee, 86 Colum. L. Rev. 669, 681.<br />

15 Rule 23 Federal Rules of Civil Procedure.<br />

16 Art. L. 423-1 ff. Code de la consommation.<br />

17 Art. L. 423-10 Code de la consommation.<br />

18 §§ 59 ff., 79, 147 ZPO.<br />

19 § 8 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Nr. 4, § 10 UWG.<br />

20 § 33 GWB.<br />

21 KG Berlin, Urt. v. 01.10.2009 - 2 U 10/03 Kart - „Berliner Transportbeton“.<br />

22 Das Verfahren ist zurzeit noch anhängig vor dem LG Düsseldorf - 34 O<br />

(Kart) 147/05; zur Zulässigkeit der Klage BGH, Beschl. v. 07.04.2009 -<br />

KZR 42/08 (OLG Düsseldorf) - „Zementkartell“.<br />

23 BGH, Urt. v. 28.06.2011 - KZR 75/10 - „ORWI“.<br />

24 Antwort vom 19.03.2012 zur Kleinen Anfrage bezüglich der Durchsetzung<br />

kollektiver Verbraucherinteressen, BT-Drs. 17/9022, S. 5 f.<br />

25 Tätigkeitsbericht des Bundeskartellamts 2009/2010, BT-Drs. 17/6640,<br />

S. 49.<br />

26 Tätigkeitsbericht des Bundeskartellamts 2011/2012, BT-Drs.<br />

17/13675, S. 42.<br />

27 Tätigkeitsbericht des Bundeskartellamts 2013/2014, BT-Drs. 18/5210,<br />

S. 34.<br />

28 Tätigkeitsbericht des Bundeskartellamts 2013/2014, BT-Drs. 18/5210,<br />

S. 34.<br />

29 Bundeskartellamt, Stellungnahme 8. GWB-Novelle, S. 27.<br />

136


JM 4 APRIL<br />

2016<br />

fen. 30 Solcherlei Ansprüche können einzig von Mitbewerbern<br />

oder direkten Abnehmern eines Kartells geltend gemacht<br />

werden. Das vornehmlich für Verbraucher relevante<br />

Instrument der Follow-On-Klage gem. § 33 Abs. 3, 4 GWB,<br />

das sich besonders zur Verfolgung sog. Hardcore-Kartelle<br />

eignet, ist nach Aussage des Bundeskartellamtes in seiner<br />

Bedeutung jedoch im Vordringen begriffen. 31 Der geringe<br />

Anteil von Konsekutivklagen ist besonders bedauerlich, da<br />

die judikatorische Fortentwicklung des deutschen Kartelldeliktsrechts<br />

im Hinblick auf die Theorie der Schadensweitergabe<br />

32 bereits de lege lata in Kohärenz zum Inhalt der<br />

unlängst verabschiedeten Richtlinie steht 33 und den Nachweis<br />

eines Schadens in der letzten Vertriebsstufe damit erheblich<br />

erleichtert.<br />

Gleichwohl beschränkt sich die privatklägerische Aktivität<br />

bis dato auf das Tätigwerden direkter Abnehmer. Bei<br />

diesen handelt es sich jedoch meist um Unternehmen, die<br />

aufgrund ökonomischer Interdependenzen ebenso wenig<br />

wie im US-amerikanischen Rechtsraum als sog. „Efficient<br />

Enforcer“ 34 anzusehen sind. Zudem ist der aus Gründen der<br />

Risikodiversifizierung unternommene Versuch der konzertierten<br />

Geltendmachung des den direkten Abnehmern entstandenen<br />

Schadens in Form des sog. Abtretungsmodells<br />

vorerst gescheitert. 35<br />

Die kollektive Geltendmachung einer Vielzahl von Individualforderungen<br />

indirekter Abnehmer scheitert bislang an<br />

unüberwindlichen juristisch-administrativen Hindernissen<br />

sowie der materiell-rechtlichen Ausgestaltung des Gesetzes<br />

gegen Wettbewerbsbeschränkungen. Der in § 34a GWB<br />

enthaltene Gewinnabschöpfungsanspruch dient nicht der<br />

Kompensation der infolge einer Schadensweitergabe de<br />

facto geschädigten Endverbraucher und bietet aufgrund<br />

der Erlösauskehr an den Bundeshaushalt keinerlei Klageanreiz<br />

der klagebefugten Verbraucherverbände. Zur Geltendmachung<br />

von Schadenersatzansprüchen im Rahmen des<br />

§ 33 GWB sind diese hingegen gar nicht erst berechtigt.<br />

Aus Sicht potenzieller Kartellanten ist hiernach sowohl im<br />

Fall der massenhaften Schädigung direkter Abnehmer als<br />

auch im Fall der Abwälzung sog. Kleinst- bzw. Streuschäden<br />

auf die in der letzten Marktstufe angesiedelten Endverbraucher<br />

eine Inanspruchnahme vor einem deutschen<br />

Gericht de lege lata praktisch nicht zu besorgen.<br />

II. Quo vadis deutsche Kartelldeliktsrechtsdurchsetzung?<br />

1. § 34a GWB de lege ferenda<br />

Um zu verhindern, dass die Gewinne infolge sog. Streuschäden,<br />

welche i.d.R. wegen der geringen Schadenshöhe<br />

nicht geltend gemacht werden, beim Schädiger oder<br />

dem Fiskus verbleiben und um zugleich dem Grundsatz<br />

„minima non curat praetor“ entgegenzuwirken, ist zunächst<br />

eine Umgestaltung des § 34a GWB erforderlich.<br />

Diese sollte sich an den Leitgedanken der Totalrestitution<br />

sowie der Schaffung eines spürbaren Klageanreizes der<br />

Verbraucherverbände orientieren, der über die Regelung<br />

des § 10 Abs. 4 Satz 2 UWG hinausgeht. Aus diesem Grunde<br />

ist eine Entschädigung der identifizierbaren, direkten<br />

Abnehmer durch eine Implementierung einer Auskehr der<br />

abgeschöpften Vorteile an den klagenden Verbraucherverband<br />

vorzusehen. Dieser ist nach Abzug der von dem<br />

Verbraucherverband zur Geltendmachung des Anspruchs<br />

erforderlichen Aufwendungen, von denen die für eine Prozesskostenfinanzierung<br />

zu erbringenden Zahlungen analog<br />

des Erlasses des Bundesministeriums der Justiz zu § 10<br />

Abs. 4 Satz 2 UWG 36 umfasst sind, sodann entsprechend<br />

der Regelung des § 32 Abs. 2 lit. a GWB zurückzuerstatten<br />

und mithin an die geschädigten direkten Abnehmer<br />

auszukehren. Ein solches Vorgehen entspricht weitestgehend<br />

dem Regelungsgedanken der französischen „Action<br />

de groupe simplifiée“. Der neu geschaffene Anspruch ist<br />

vor allem im Fall sog. zwingender Ausgaben, welche auf<br />

Energieversorgungs- oder Telekommunikationsverträgen<br />

basieren, zu einer Entschädigung der betroffenen Kunden<br />

geeignet. Eine entsprechende Rückerstattung wäre fortan<br />

dem Ermessen des Bundeskartellamtes entzogen.<br />

2. § 33 GWB de lege ferenda<br />

Zum Zwecke einer signifikanten Steigerung der Abschreckungswirkung<br />

der Kartellrechtsdurchsetzung insgesamt<br />

ist den Verbraucherverbänden de lege ferenda zudem<br />

das Recht zur Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen<br />

gem. § 33 GWB zuzubilligen. Die konkrete<br />

Ausgestaltung sollte sich hierbei an den Regelungen zur<br />

„Action de groupe“ orientieren, die sich infolge der Einfachheit<br />

des dortigen Opt-In-Modells am ehesten dazu<br />

30 Tätigkeitsbericht des Bundeskartellamts 2009/2010, BT-Drs. 17/6640,<br />

S. 49.<br />

31 Tätigkeitsbericht des Bundeskartellamts 2009/2010, BT-Drs. 17/6640,<br />

S. 49; Tätigkeitsbericht des Bundeskartellamts 2013/2014, BT-Drs.<br />

18/5210, S. 34.<br />

32 Sog. Passing-On-Theory.<br />

33 BGH, Urt. v. 28.06.2011 - KZR 75/10 - „ORWI“.<br />

34 Mit diesem Terminus werden im US-amerikanischen Kartellrecht des<br />

Bundes solche Marktteilnehmer bezeichnet, die sich zur privatklägerischen<br />

Durchsetzung des Kartellrechts besonders eignen; ATI, Inc. v.<br />

Ruder & Finn, Inc., 1976-1 Trade Cases P 60778 (S.D. N.Y. 1976); Outboard<br />

Marine Corp. v. Pezetel, 474 F. Supp. 168, 180 (D.C. Del. 1979).<br />

35 LG Düsseldorf, Urt. v. 17.12.2013 - 37 O 200/09 (Kart) U; OLG Düsseldorf,<br />

Urt. v. 18.02.2015 - VI-U (Kart) 3/14.<br />

36 Erlass des Bundesministeriums der Justiz (Ref. III B5) vom 01.12.2006 -<br />

III B5 – 7034/13 – 31 367/2006.<br />

137


Die Monatszeitschrift<br />

eignet, den verminderten Klageanreiz der geschädigten<br />

Verbraucher zu überwinden. Dies bedeutete zugleich eine<br />

Entscheidung gegen das Opt-Out-Modell. 37 Letzteres ist<br />

nicht bereits deshalb abzulehnen, weil es einen unverhältnismäßigen<br />

Eingriff in die Freiheit des Einzelnen bedeuten<br />

würde, nicht zum bloßen Objekt eines Rechtsstreits<br />

degradiert zu werden. Im Rahmen einer Abwägung mit<br />

dem Gebot des effektiven Rechtsschutzes 38 ist Letzterem<br />

ein Übergewicht einzuräumen. Die Verwerfung des Opt-<br />

Out-Modells, welches im Vergleich zur Opt-In-Klage zwar<br />

eine erhöhte Abschreckungswirkung zeitigt, beruht, entsprechend<br />

der Entscheidung des französischen Gesetzgebers,<br />

vielmehr auf der Folgeproblematik der sog. „Cypress<br />

Remedies“, jener Schadensersatzsummen, die von keinem<br />

der tatsächlich geschädigten Individuen reklamiert<br />

werden. Ein solcher Überschuss evozierte einen unauflöslichen<br />

Widerstreit mit dem Kompensationsgedanken<br />

und dem Bereicherungsverbot des deutschen Schadensersatzrechts,<br />

der nur vermittels einer umfassenden Reform<br />

beseitigt werden könnte. Zur Auflösung des Konflikts<br />

wäre die Einführung einer Strafschadensersatzregelung<br />

erforderlich, die dem deutschen, ebenso wie dem französischen<br />

Deliktsrecht wesensfremd ist. Zudem widerspricht<br />

das Opt-Out-Modell der Kostenverteilung gem. § 91 ZPO.<br />

Soweit ein geschädigtes Individuum die Möglichkeit des<br />

Austritts verstreichen ließe, müsste es im Fall des Unterliegens<br />

der klägerischen Gruppe gemäß der zivilprozessualen<br />

lex lata für die Kosten des Rechtsstreits einstehen,<br />

obwohl es nie, auch nicht konkludent, der Klage beigetreten<br />

ist. Da den klagebefugten Verbraucherverbänden de<br />

lege ferenda zudem – zusätzlich zu der Möglichkeit der<br />

Schadensersatzklage – die Option der Vorteilsabschöpfung<br />

zu eröffnen ist, ist der zukünftige, globale Abschreckungseffekt<br />

als ausreichend groß zu erachten, um der<br />

Opt-In-Gruppenklage zur Vermeidung übermäßiger Friktionen<br />

mit der deutschen lex lata den Vorzug zu geben.<br />

Das Klageverfahren wäre des Weiteren, ähnlich wie jenes<br />

der „Action de groupe“, in zwei Phasen zu unterteilen.<br />

In einer ersten Phase wären zunächst, entsprechend dem<br />

„Jugement au fond“ im französischen Recht, die Voraussetzungen<br />

eines Schadensersatzanspruchs gem. § 33<br />

GWB zu prüfen. Dem klagenden Verbraucherschutzverband<br />

wäre es anheimzustellen, einen geeigneten Musterfall<br />

auszuwählen. Er profitierte sodann von den geplanten<br />

europarechtlichen Vorgaben zur Beweiserleichterung<br />

sowie zur Offenlegung der in der Sphäre des beklagten<br />

Unternehmens befindlichen Beweismittel und der Option<br />

der Zusammenfassung der beweiserheblichen Dokumente<br />

durch gesonderte Sachverständige. 39 Die Rolle dieser<br />

Sachverständigen könnte bereits zum jetzigen Zeitpunkt<br />

durch jene Vertreter der Anwaltschaft ausgefüllt werden,<br />

die vornehmlich mit Kronzeugenanträgen befasst sind.<br />

Denn die in dem zukünftigen Klageverfahren erforderlichen<br />

Ermittlungsarbeiten sind jenen der „Bonusregelung“ des<br />

Bundeskartellamtes respektive des Leniency-Programms der<br />

Generaldirektion Wettbewerb angenähert, einschließlich<br />

der gezielten Durchsicht unternehmensinterner Datensätze.<br />

Auf diese Weise ließe sich eine angemessene Beteiligung<br />

der Anwaltschaft im System der Opt-In-Klage gewährleisten.<br />

Stünde die Verantwortlichkeit des beklagten Unternehmens<br />

fest und könnte die zugrunde liegende gerichtliche<br />

Entscheidung mit Rechtsmitteln nicht mehr angegriffen<br />

werden, wäre diese, analog den Regelungen zum Gesetz<br />

über Musterverfahren in kapitalmarktrechtlichen Streitigkeiten<br />

40 sowie des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen,<br />

41 in einem speziellen Klageregister auf Kosten des<br />

beklagten Unternehmens öffentlich bekannt zu machen.<br />

In der zweiten Phase des Verfahrens sollte den geschädigten<br />

Verbrauchern die Möglichkeit einer vereinfachten<br />

Anmeldung des jeweiligen Individualanspruchs entsprechend<br />

der Regelung des § 10 KapMuG bzw. der „Action<br />

de groupe“ eröffnet werden, die die Wirkung eines Klagebeitritts<br />

entfaltete. Durch eine Bündelung bereits im Ausgangsprozess<br />

könnte so eine Kaskade von Folgeklagen,<br />

wie sie im Verfahren der vereinfachten Teilnahme gem.<br />

§ 10 KapMuG n.F. droht, vermieden werden und die mit<br />

der Schaffung einer Kollektivklage intendierte Steigerung<br />

der Prozessökonomie gewährleistet werden. Zugleich<br />

wären die geschädigten Verbraucher weitestgehend von<br />

dem Prozesskostenrisiko des Gesamtprozesses entbunden<br />

und müssten nur für ein Scheitern ihres Individualanspruches<br />

einstehen, was zugleich mit den kostenrechtlichen<br />

Grundsätzen der Zivilprozessordnung im Einklang stünde.<br />

Zum Schutze des beklagten Unternehmens könnte dieses<br />

jedem der angemeldeten Individualansprüche entgegentreten,<br />

wobei es einem erhöhten Substantiierungsstandard<br />

zu unterwerfen wäre, um ein pauschales Bestreiten<br />

auszuschließen. Das angerufene Gericht entschiede<br />

37 Das Opt-Out-Modell bezeichnet die Möglichkeit des Austritts aus<br />

einer zunächst abstrakt bestimmten Gruppe potenziell geschädigter<br />

Individuen.<br />

38 Siehe Art. 19 Abs. 4 GG, Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK sowie EGMR, Urt.<br />

v. 04.12.1995 - Rs. 21/1995/527/613 - „Bellet c/France“.<br />

39 Richtlinie, 2014/104/EU, Art. 9 Abs. 1, Art. 12 Abs. 5, Art. 17 Abs. 1,<br />

Abs. 2, Art. 5 Abs. 1 Satz 1; Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen<br />

Parlaments und des Rates über bestimmte Vorschriften<br />

für Schadensersatzklagen nach einzelstaatlichem Recht wegen Zuwiderhandlungen<br />

gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der<br />

Mitgliedstaaten und der EU vom 11.06.2013, COM(2013) 404 final,<br />

Erwägungsgründe, Rn. 17, abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/<br />

LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2013:0404:FIN:DE:PDF/ (zuletzt<br />

abgerufen am 07.02.2016).<br />

40 § 3 Abs. 2 Satz 1 KapMuG.<br />

41 § 62 Satz 1 GWB.<br />

138


JM 4 APRIL<br />

2016<br />

sodann zunächst durch unanfechtbaren Beschluss über<br />

die Zulässigkeit der Individualanträge. Hierbei wäre insbesondere<br />

die Gleichartigkeit der Ansprüche im Vergleich<br />

zu dem von dem Verbraucherverband ausgewählten Musterfall<br />

zu prüfen. Zur weiteren Steigerung der Prozessökonomie<br />

urteilte das Gericht schließlich in einer einzigen<br />

Entscheidung über die Begründetheit sämtlicher Einzelforderungen.<br />

Um die Berechnung der Individualschäden<br />

entscheidend zu simplifizieren, könnten die berechtigten<br />

Anspruchssteller im Wege der Schadensschätzung<br />

in Schadensgruppen eingeteilt werden. Zur Vermeidung<br />

einer überlangen Verfahrensdauer sowie juristisch-administrativer<br />

Hindernisse wird zudem eine Entscheidung im<br />

schriftlichen Verfahren vorgeschlagen. Damit die geschädigten<br />

Verbraucher ihrer Ansprüche nicht verlustig gehen,<br />

wäre schließlich eine Regelung zur Verjährungshemmung<br />

für die Dauer des Kollektivverfahrens vorzusehen.<br />

E. Fazit<br />

Bereits zum jetzigen Zeitpunkt verfügt die deutsche Kartelldeliktsrechtsdogmatik<br />

über sämtliche Voraussetzungen<br />

der Geltendmachung sowohl direkter als auch indirekter<br />

Schäden, die Unternehmen aber auch Verbrauchern im Fall<br />

wettbewerbswidriger Absprachen entstehen können. Vermittels<br />

der vorgeschlagenen Änderungen des Gesetzes gegen<br />

Wettbewerbsbeschränkungen ließe sich in der Zukunft<br />

zudem eine Steigerung der Durchsetzungseffektivität erzielen.<br />

Gelänge es der Bundesrepublik Deutschland, auf diese<br />

Weise eine konkurrenzfähige Regelung vorzulegen, ginge<br />

dies nicht nur mit einer Steigerung der Attraktivität des<br />

eigenen Gerichtsstandortes einher. Auch wünschenswerte<br />

„Nachahmereffekte“ in jenen Mitgliedstaaten der EU, die<br />

sich die deutschen Regelungen bei der – auch materiellrechtlichen<br />

– Umsetzung der Richtlinie 2014/104/EU zu<br />

eigen machen, scheinen nicht ausgeschlossen.<br />

Die Rechtsprechung zur Unwirksamkeit von Eheverträgen<br />

RA und FA für Familienrecht, Notar Dr. K.-Peter Horndasch<br />

Die Vertragsgestaltung im Familienrecht ist nicht nur<br />

für den Notar von Bedeutung; sie ist auch für den beratenden<br />

Rechtsanwalt entscheidend, da er es ist, der bei<br />

notarieller Beurkundung einer unter seiner Mitwirkung<br />

gefundenen Vereinbarung zwischen Eheleuten für die<br />

Richtigkeit, Vollständigkeit, Unzweideutigkeit und die<br />

Angemessenheit der Formulierungen haftet. Der Notar<br />

haftet nur dann, wenn keine anderweitige Ersatzmöglichkeit<br />

gegeben ist, § 19 Abs. 1 Satz 2 BNotO, sog. Subsidiaritätsprinzip.<br />

Wer zu unwirksamen, weil sittenwidrigen Vertragsgestaltungen<br />

im Familienrecht beiträgt, wird für die Folgen zu<br />

haften haben. Umso wichtiger ist es für den beratenden<br />

Rechtsanwalt, nicht nur die Regeln zur Vertragsgestaltung<br />

zu kennen, sondern darüber hinaus zu wissen, wo die Grenzen<br />

der Gestaltungsmöglichkeiten eines Ehevertrages oder<br />

einer Scheidungsfolgenvereinbarung liegen.<br />

A. Die Vertragsgestaltung im Familienrecht<br />

Gegenstand einer Vertragsgestaltung im Familienrecht sind<br />

insbesondere<br />

• Eheverträge,<br />

• Getrenntlebens- und Scheidungsfolgenvereinbarungen,<br />

• sonstige Vorsorgeverträge.<br />

I. Ehevertrag<br />

Nach § 1408 Abs. 1 BGB können Ehegatten ihre güterrechtlichen<br />

Verhältnisse durch Vertrag (Ehevertrag) regeln.<br />

Es ist aber allgemein anerkannt, dass auch andere Vereinbarungen<br />

zwischen Eheleuten getroffen werden können<br />

(Grundsatz der Privatautonomie). Ein rein „güterrechtliches“<br />

Verständnis des Ehevertrages wäre unzutreffend.<br />

Nicht jede Regelung vermögensrechtlicher Verhältnisse im<br />

Rahmen einer Ehe muss „güterrechtlich“ sein und bedarf<br />

demgemäß der Form eines Ehevertrages, wie bspw. der<br />

Kauf einer Immobilie durch Ehegatten – teilweise – aus<br />

Ersparnissen eines Beteiligten und entsprechende Vereinbarung<br />

über die Folgen. Vor allem aber ist der Regelungsinhalt<br />

eines Ehevertrages nicht auf Vereinbarungen zum<br />

Güterrecht beschränkt.<br />

Der Begriff ist in einem weiteren Sinne zu verstehen als<br />

Vereinbarungen im Hinblick auf eine bestehende oder zukünftige<br />

Ehe, die allgemeine Ehewirkungen, das Güterrecht<br />

und/oder die Folgen einer etwaigen Scheidung.<br />

Der Abschluss eines Ehevertrages setzt aber keine bestehende<br />

Ehe voraus, ebenso wenig ein Verlöbnis 1 der zukünf-<br />

1 So aber Brambring, Ehevertrag und Vermögenszuordnung unter Ehegatten,<br />

in seiner Definition, Rn. 6.<br />

139


Die Monatszeitschrift<br />

tigen Eheleute. Der vor der Ehe geschlossene Ehevertrag<br />

wird wirksam mit der Eheschließung.<br />

Gegenstand eines Ehevertrages können z.B. Regelungen<br />

sein über<br />

• Güterrecht,<br />

• Versorgungsausgleich,<br />

• Unterhalt,<br />

• elterliche Sorge,<br />

• eheliche Wohnung,<br />

• Haushaltssachen,<br />

• Steuerrecht,<br />

• Eintragung in das Güterrechtsregister,<br />

• allgemeine Ehewirkungen.<br />

Regelungen über allgemeine Ehewirkungen sind im Zusammenhang<br />

mit einem Ehevertrag z.B. solche über<br />

• eheliches Zusammenleben, § 1353 BGB,<br />

• Ehe- und Familienname, § 1355 BGB,<br />

• Haushaltsführung und Erwerbstätigkeit, § 1356 BGB,<br />

• Rechtsgeschäfte des täglichen Lebens, § 1357 Abs. 1<br />

BGB,<br />

• Familienunterhalt, § 1360 BGB,<br />

• Vermögensbildung und Altersvorsorge,<br />

• Regelung der Eigentumsvermutung, § 1362 BGB.<br />

Die Abgrenzung von Eheverträgen zu anderen Verträgen erfolgt<br />

dadurch, dass man sich die Frage stellt, ob das Rechtsgeschäft<br />

das Bestehen einer Ehe notwendig voraussetzt oder<br />

ob es genauso gut zwischen Dritten vorgenommen werden<br />

könnte. Kaufen Ehegatten z.B. Grundbesitz in Gesellschaft<br />

bürgerlichen Rechts, unterliegt ein BGB-Gesellschaftsvertrag<br />

nicht der Formvorschrift für Eheverträge gem. § 1410 BGB.<br />

Auch Zuwendungen unter Ehegatten beeinflussen den Güterstand<br />

nicht und unterliegen deshalb nicht der Form des<br />

§ 1410 BGB. 2<br />

II. Trennungs-/Scheidungsfolgenvereinbarungen<br />

Eheverträge werden von Scheidungsfolgenvereinbarungen<br />

dadurch abgegrenzt, dass ein Vertrag dann ein Ehevertrag<br />

ist, wenn er die Eingehung einer Ehe notwendig voraussetzt<br />

und nicht auf eine bevorstehende oder eingeleitete<br />

Scheidung bezogen ist. Eheverträge werden in einer intakten<br />

Ehe geschlossen. Dabei wird aber auch der Fall eines<br />

möglichen Scheiterns der Ehe bedacht.<br />

Die Scheidungsfolgenvereinbarung wird zum Zweck der<br />

einvernehmlichen Abwicklung der gescheiterten Ehe geschlossen.<br />

Die Trennungsvereinbarung hat demgegenüber einen eigenen<br />

Regelungsbereich, da die Scheidung zu dieser Zeit noch nicht<br />

beabsichtigt zu sein braucht. In einer Krisensituation zwischen<br />

„intakter“ und „gescheiterter“ Ehe wird eine einvernehmliche<br />

Regelung der Trennungssituation vorgenommen.<br />

Getrenntlebensvereinbarungen werden aber häufig mit einer<br />

Scheidungsfolgenvereinbarung verknüpft, um für den Fall<br />

einer doch unvermeidlichen Scheidung nicht erneut streiten<br />

oder verhandeln zu müssen.<br />

In Getrenntlebens- und Scheidungsfolgenvereinbarungen<br />

sind insbesondere Vereinbarungen enthalten über<br />

• den Güterstand,<br />

• den Versorgungsausgleich,<br />

• den Unterhalt während des Getrenntlebens,<br />

• den nachehelichen Unterhalt,<br />

• Krankenversicherung,<br />

• die elterliche Sorge und Umgang mit dem Kind/den Kindern,<br />

• Auseinandersetzung über eheliches Vermögen,<br />

• Haushaltssachen,<br />

• eheliche Wohnung,<br />

• Verbindlichkeiten.<br />

Vorsorgevereinbarungen außerhalb eines Ehevertrages<br />

sind insbesondere hinsichtlich Ausgleichsansprüchen wegen<br />

erbrachter Zuwendungen und Arbeits- und Dienstleistungen<br />

denkbar.<br />

III. Formerfordernisse<br />

1. Ehevertrag<br />

Der Ehevertrag muss bei gleichzeitiger Anwesenheit beider<br />

Teile zur Niederschrift eines Notars geschlossen werden<br />

(§ 1410 BGB).<br />

§ 1410 BGB hat die Funktion des Schutzes vor Übereilung<br />

der Vertragsschließenden, soll diese warnen und den unzweideutigen<br />

Beweis der getroffenen Vereinbarung sichern<br />

(Beweisfunktion), sowie durch Einschaltung des Notars die<br />

Gültigkeit der Vereinbarung gewährleisten (Gültigkeitsgewähr).<br />

3<br />

Gleichzeitige Anwesenheit bedeutet aber nicht, dass beide<br />

Vertragspartner persönlich bei der notariellen Beurkundung<br />

anwesend sein müssen. Eine Vertretung ist möglich.<br />

Es gibt keine Pflicht zum persönlichen Handeln. § 1410<br />

BGB verbietet lediglich die Sukzessivbeurkundung, also<br />

den Abschluss durch Angebot und Annahme.<br />

Ein Ehevertrag kann gem. § 2276 Abs. 2 BGB auch mit<br />

einem Erbvertrag verbunden werden. Für den Erbvertrag<br />

2 Thiele in: Staudinger, BGB, § 1408 Rn. 23.<br />

3 Kanzleiter in: MünchKomm BGB, § 1410 Rn. 1 f.; Sarres, Notarielle<br />

Urkunden im Familienrecht, S. 5 ff.; Bredthauer in: Scholz/Kleffmann/<br />

Motzer, Praxishandbuch Familienrecht, T 15.<br />

140


JM 4 APRIL<br />

2016<br />

zwischen Ehegatten oder zukünftigen Ehegatten, der mit<br />

einem Ehevertrag in derselben Urkunde verbunden wird,<br />

genügt die für den Ehevertrag vorgeschriebene Form.<br />

2. Trennungs-/Scheidungsfolgenvereinbarung<br />

Im Gegensatz zum Ehevertrag ordnet das Gesetz für Trennungs-<br />

und Scheidungsfolgenvereinbarung keine generelle<br />

Beurkundungspflicht an.<br />

Es gibt jedoch Ausnahmen:<br />

• Vereinbarungen über den Unterhalt (§ 1585c Abs. 1<br />

Satz 2 BGB),<br />

• Vereinbarungen über den Versorgungsausgleich (§ 7<br />

VersAusglG),<br />

• Vereinbarungen über Zugewinnausgleichsregelung im<br />

Hinblick auf ein Scheidungsverfahren (§ 1378 Abs. 3<br />

Satz 2 BGB) sowie<br />

• Vereinbarungen über die Veräußerung von Grundstücken<br />

und Grundstücksteilen im Zusammenhang mit der Ehescheidung<br />

(§ 311b BGB).<br />

Die vorbezeichneten Ausnahmen werden in der Praxis dadurch<br />

zur Regel erhoben, dass die Vereinbarungen eines<br />

der vorbezeichneten Ausnahmegegenstände zu der Beurkundungspflicht<br />

aller übrigen Vereinbarungen 4 in diesem<br />

Vertrage führt, und zwar unter Berufung auf die Rechtsprechung<br />

zu § 125 BGB. 5<br />

Hinweis: Die Beurkundungspflicht entfällt auch nicht dadurch,<br />

dass die Parteien die Regelungstatbestände auf<br />

zwei verschiedene Verträge aufteilen und diesen Umstand<br />

dem Notar zur Vermeidung weiterer Notargebühren verschweigen.<br />

In einem derartigen Fall sind beide Verträge<br />

nichtig. 6<br />

Ein Verstoß gegen Formvorschriften hat gem. § 125<br />

Satz 1 BGB die Nichtigkeit zur Folge. Eine Heilung, wie<br />

etwa nach § 311b Satz 2 BGB, ist im Familienrecht nicht<br />

vorgesehen.<br />

B. Die Grenzen der Vertragsgestaltung<br />

Vereinbarungen über den Ausschluss bestimmter gesetzlicher<br />

Regelungen im Rahmen der Ehe, der Trennung und<br />

Scheidung sind grds. zulässig, unterliegen jedoch namentlich<br />

seit der Entscheidung des BVerfG vom 06.02.2001 7<br />

engen Grenzen.<br />

I. Schutz vor unangemessener Benachteiligung<br />

In dieser Entscheidung und noch einmal deutlich in dem<br />

Beschluss des BVerfG vom 29.03.2001 8 ist deutlich erklärt<br />

worden, dass in Eheverträgen der Schutz vor unangemessener<br />

Benachteiligung beachtet werden muss. Ein Ehevertrag<br />

darf die Unterlegenheitsposition einer Partei nicht durch<br />

ihre einseitige vertragliche Belastung und die unangemessene<br />

Berücksichtigung der Interessen der anderen Partei<br />

ausdrücken. Das BVerfG hat deutlich festgelegt:<br />

Ein Verzicht auf gesetzliche Ansprüche bedeutet insbesondere<br />

für den Ehegatten eine Benachteiligung, der sich unter<br />

Aufgabe einer Berufstätigkeit der Betreuung des Kindes und<br />

der Arbeit im Hause widmen soll. Je mehr im Ehevertrag gesetzliche<br />

Rechte abbedungen werden, desto mehr kann sich<br />

der Effekt einseitiger Benachteiligung verstärken. 9<br />

Das BVerfG verlangt für die Frage der Korrekturbedürftigkeit<br />

eines Ehevertrages eine „Gesamtschau“ der persönlichen,<br />

wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der Parteien<br />

im Zeitpunkt des Vertragsschlusses und im Zeitpunkt<br />

der Scheidung. 10<br />

Zu den Risikofaktoren bei Eheverträgen 11 kann die folgende<br />

Checkliste als Hilfestellung dienen:<br />

Risikofaktoren ja:<br />

• Vertragsschluss in einer Zwangssituation (Terminsnot,<br />

Schwangerschaft, wirtschaftliche Abhängigkeit, Drohung,<br />

Täuschung).<br />

• Für einen Vertragsteil werden sämtliche Rechte abbedungen.<br />

• Gemäß der Gesamtschau der Verhältnisse wurde ein wesentliches<br />

Teilrecht abbedungen.<br />

• Die notarielle Belehrung (§ 17 BeurkG) war unterblieben<br />

oder mangelhaft, sodass der oder die Beteiligten die<br />

Tragweite des Geschäfts nicht verstanden haben (oder<br />

haben wollen).<br />

Risikofaktoren nein:<br />

• Nur ein unwesentliches Teilrecht abbedungen.<br />

• Vertrag von jungen Leuten mit stabiler Einkommenssituation<br />

geschlossen.<br />

• Beim Globalverzicht wurden ausreichende, gleichwertige<br />

Kompensationsleistungen vereinbart (Lebensversicherungen,<br />

Grundstücksübereignung, Geldanlage).<br />

4 Roßmann in: Roßmann/Viefhues, Taktik im Unterhaltsrecht, Rn. 1358;<br />

Brudermüller in: Palandt, BGB, § 1585c Rn. 4.<br />

5 BGH, Urt. v. 29.05.2002 - XII ZR 263/00.<br />

6 Bredthauer in: Scholz/Kleffmann/Motzer, Praxishandbuch Familienrecht,<br />

T 19.<br />

7 BVerfG, Urt. v. 06.02.2001 - 1 BvR 12/92.<br />

8 BVerfG, Beschl. v. 29.03.2001 - 1 BvR 1766/92.<br />

9 So BVerfG, Beschl. v. 29.03.2001 - 1 BvR 1766/92; OLG München, Urt. v.<br />

01.10.2002 - 4 UF 7/02 mit Anmerkung Bergschneider, FamRZ 2003, 38.<br />

10 BVerfG, Beschl. v. 29.03.2001 - 1 BvR 1766/92; zur richterlichen Kontrolle<br />

von Unterhaltsverzichten vgl. Goebel, FamRZ 2003, 1513.<br />

11 Vgl. zur „Inhaltskontrolle von Eheverträgen“ BGH, Urt. v. 31.10.2012 -<br />

XII ZR 129/10; BGH, Urt. v. 21.11.2012 - XII ZR 48/11; Münch, FamRZ<br />

2005, 570; Münch, FamRZ 2013, 160.<br />

141


Die Monatszeitschrift<br />

• Ehepartner wollen beide freiberuflich tätig sein und haben<br />

daher aus Risikogründen Teilhaberrechte abbedungen.<br />

• Ehepartner haben keinen Kinderwunsch, feste und zukunftssichere<br />

Einkünfte und schließen sämtliche Teilhaberechte<br />

aus.<br />

• Beide Ehepartner haben unbelastete Immobilien, bereits<br />

ausreichende Rentenanwartschaften und verfügen über<br />

Ausbildungen in krisensicheren Berufen (Idealfall).<br />

• Junge Ehepartner haben bei Vertragsschluss sichere Einkommensquellen,<br />

akademische Ausbildungen, Berufserfahrung,<br />

dauerhafte Chancen auf dem Arbeitsmarkt, kein<br />

eigenes unbewegliches Vermögen, Absicherung durch<br />

Elternvermögen und einen Globalverzicht vereinbart.<br />

Hinweis 1: Ein gerichtlicher Antrag auf Feststellung der<br />

Nichtigkeit eines Ehevertrages ist mangels Feststellungsinteresses<br />

unzulässig, solange kein Scheidungsantrag gestellt<br />

und auch sonst offen ist, ob es zur Scheidung der Parteien<br />

kommt. 12<br />

Hinweis 2: Die Nichtigkeit eines Ehevertrages kann gem.<br />

§ 139 BGB nicht aus einer Bestimmung hergeleitet werden,<br />

die bei der Vertragsdurchführung nicht zur Anwendung<br />

kommen konnte. 13<br />

II. Vertragsfreiheit und Inhaltskontrolle<br />

1. Der Schutzzweck der gesetzlichen Regelungen<br />

In seinem Urteil vom 11.02.2004 14 hat der BGH das<br />

Spannungsverhältnis zwischen der grundsätzlichen Disponibilität<br />

der Scheidungsfolgen einerseits und dem<br />

nicht akzeptablen Unterlaufen des Schutzzweckes der<br />

gesetzlichen Regelungen durch vertragliche Vereinbarungen<br />

andererseits aufgezeigt. Eine unzumutbare Lastenverteilung<br />

sei umso eher gegeben, je mehr die vertragliche<br />

Abbedingung der gesetzlichen Regelungen in den<br />

Kernbereich des Scheidungsfolgenrechts eingreift, sog.<br />

Kernbereichslehre.<br />

Zu diesem Kernbereich gehören in erster Linie der Betreuungsunterhalt,<br />

danach weitere Unterhaltstatbestände<br />

sowie Regelungen zum Versorgungsausgleich.<br />

Demgegenüber erweist sich, so der BGH, der Zugewinnausgleich<br />

ehevertraglicher Disposition am weitesten zugänglich.<br />

Die eheliche Lebensgemeinschaft sei nicht notwendig<br />

auch eine Vermögensgemeinschaft. Das Eheverständnis<br />

erfordere keine bestimmte Zuordnung des Vermögenserwerbs<br />

in der Ehe. 15<br />

Der BGH konkretisiert damit den Grundsatz, dass eine<br />

Gesamtschau der getroffenen Vereinbarungen, der Gründe<br />

ihres Zustandekommens sowie der beabsichtigten und<br />

verwirklichten Gestaltung des ehelichen Lebens notwendig<br />

ist. 16<br />

Die Rechtsprechung des BGH ist insgesamt wie folgt strukturiert:<br />

• objektive Seite (Wertigkeit des Rechts),<br />

• subjektive Seite (Zweck, Beweggründe),<br />

• Gesamtbetrachtung und Konsequenz.<br />

Für die objektive Seite ist die Wertigkeit des Rechts maßgebend,<br />

auf das verzichtet oder das sonst geschmälert wird.<br />

Eine Beanstandung ist danach umso eher anzunehmen, je<br />

mehr die Vereinbarung in den Kernbereich des Scheidungsfolgenrechts<br />

eingreift.<br />

Neben den objektiven Folgen der Vereinbarung sind die von<br />

den Vertragsschließenden verfolgten subjektiven Zwecke<br />

und Beweggründe zu berücksichtigten. Zur Prüfung gehört<br />

auch die Frage, ob die benachteiligte Vertragspartei wegen<br />

subjektiver Unterlegenheit eine erheblich schwächere<br />

Verhandlungsposition hatte, 17 z.B. aufgrund einer Zwangslage.<br />

18 Eine Schwangerschaft reicht für sich allein genommen<br />

aber nicht aus, eine Nichtigkeit festzustellen, und zwar<br />

auch dann nicht, wenn der Pflichtige die Eheschließung<br />

vom Vertragsschluss abhängig macht. Indiziert wird aber<br />

eine Disparität bei Vertragsabschluss. Dies führt zwingend<br />

zu einer verstärkten richterlichen Inhaltskontrolle. 19<br />

2. Die Prüfung der Wirksamkeit von Verträgen<br />

Bei der Prüfung der Wirksamkeit von Eheverträgen sind<br />

zwei Prüfungskomplexe voneinander zu unterscheiden:<br />

• die Prüfung der Wirksamkeit des Vertrages bei Vertragsschluss<br />

(Wirksamkeitskontrolle) und<br />

• die Prüfung der Wirksamkeit des Vertrages bei Scheidung<br />

(Ausübungskontrolle).<br />

12 OLG Frankfurt, Beschl. v. 10.12.2004 - 2 WF 404/04.<br />

13 Vgl. OLG Thüringen, Beschl. v. 29.01.2010 - 1 UF 150/09.<br />

14 BGH, Urt. v. 11.02.2004 - XII ZR 265/02; vgl. dazu auch BGH, Beschl. v.<br />

06.10.2004 - XII ZB 110/99; BGH, Beschl. v. 06.10.2004 - XII ZB 57/03;<br />

BGH, Urt. v. 12.01.2005 - XII ZR 238/03; BGH, Urt. v. 25.05.2005 - XII<br />

ZR 296/01; BGH, Beschl. v. 17.05.2006 - XII ZB 250/03; BGH, Urt. v.<br />

05.07.2006 - XII ZR 25/04; BGH, Urt. v. 28.03.2007 - XII ZR 130/04; BGH,<br />

Urt. v. 09.07.2008 - XII ZR 6/07; BGH, Urt. v. 05.11.2008 - XII ZR 157/06;<br />

BGH, Beschl. v. 18.03.2009 - XII ZB 94/06; BGH, Urt. v. 04.08.2010 - XII<br />

ZR 7/09; BGH, Urt. v. 02.03.2011 - XII ZR 44/09; BGH, Urt. v. 04.07.2012 -<br />

XII ZR 80/10; BGH, Urt. v. 31.10.2012 - XII ZR 129/10 m. Anm. Bergschneider,<br />

FamRZ 2013, 195, 201; BGH, Urt. v. 21.11.2012 - XII ZR<br />

48/11 m. Anm. Bergschneider, FamRZ 2013, 269, 273; BGH, Beschl. v.<br />

29.01.2014 - XII ZB 519/13; dazu Münch, FamRZ 2014, 805.<br />

15 BGH, Urt. v. 11.02.2004 - XII ZR 265/02.<br />

16 So BGH, Urt. v. 11.02.2004 - XII ZR 265/02; vgl. dazu ausführlich Bergschneider,<br />

FamRZ 2004, 1557.<br />

17 BGH, Beschl. v. 17.05.2006 - XII ZB 250/03.<br />

18 BGH, Urt. v. 25.05.2005 - XII ZR 221/02.<br />

19 BGH, Urt. v. 17.10.2007 - XII ZR 96/05.<br />

142


JM 4 APRIL<br />

2016<br />

Zunächst ist die Prüfung zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses<br />

vorzunehmen. Ergibt sich danach eine unzumutbare<br />

Lastenverteilung zum damaligen Zeitpunkt (die bei Scheidung<br />

nicht oder nicht mehr vorhanden sein muss), so ist der<br />

Vertrag sittenwidrig. Damit treten dann die gesetzlichen<br />

Scheidungsfolgen an deren Stelle. 20<br />

Beispiel: Haben die Parteien den Betreuungsunterhalt im<br />

Ehevertrag ausgeschlossen oder unzumutbar begrenzt, so<br />

ist der Vertrag auch dann sittenwidrig, wenn das gemeinsame<br />

Kind der Parteien zum Zeitpunkt der Scheidung bereits<br />

erwachsen ist. 21<br />

Unbedenklich ist aber ein Ausschluss von Risiken eines Partners,<br />

die dieser bereits vor der Ehe hatte. Dies betrifft vorhandene<br />

Erkrankungen ebenso wie eine Ausbildung, für die<br />

keine Beschäftigungschance besteht, oder ein Alter, ab dem<br />

eine Erwerbstätigkeit nicht mehr verlangt werden kann. 22<br />

Anderes gilt – im Gegensatz hierzu – für Risiken, die der<br />

andere mit zu verantworten hat, typischerweise im Falle<br />

der Schwangerschaft. 23<br />

Allerdings hat der BGH in seinen neueren Entscheidungen<br />

die Sittenwidrigkeit von Eheverträgen bei Vertragsschluss<br />

weiter in den Hintergrund gedrängt 24 und erklärt, dass<br />

neben einer objektiven „Schieflage“ zu Lasten eines Beteiligten<br />

die – subjektive – Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit<br />

treten muss, sich gegen diese „Schieflage“ zur Wehr<br />

zu setzen. 25<br />

Ist ein Ehevertrag danach zunächst nicht als sittenwidrig<br />

einzustufen, hat doch bei Scheidung eine Prüfung des Ehevertrages<br />

in der Weise zu erfolgen, dass zu fragen ist, ob ein<br />

Ehegatte die ihm durch Vertrag eingeräumte Rechtsmacht<br />

dadurch missbraucht, dass er sich auf den Ausschluss oder<br />

die Einschränkung der gesetzlichen Scheidungsfolge beruft<br />

(Ausübungskontrolle). 26<br />

Beispiele:<br />

• Haben Eheleute Unterhalt wegen Krankheit und Alters<br />

ausgeschlossen, weil sie gemeinsam von beiderseitigem<br />

Einkommen und Berufstätigkeit ausgegangen<br />

sind, und gehen aus der Ehe Kinder hervor, weswegen<br />

die Ehefrau ihre Berufstätigkeit aufgibt (und später<br />

noch erwerbsunfähig krank wird), ist eine Berufung auf<br />

den Ausschluss des Unterhalts gem. § 1572 BGB nicht<br />

möglich.<br />

• Dasselbe gilt, wenn die Ehegatten sich wegen einer gut<br />

dotierten Stelle des Ehemannes ins Ausland begeben,<br />

wo die Ehefrau keine oder nur eine geringfügig dotierte<br />

Stelle findet.<br />

Maßstab der Prüfung ist § 242 BGB (Ausübungskontrolle).<br />

27 Dies bedeutet gleichzeitig, dass eine Anpassung an<br />

die Gegebenheiten des Einzelfalles 28 erfolgt, eine Anpassung<br />

durch Ausgleich der ehebedingt erlittenen Nachteile,<br />

und zwar ab dem Zeitpunkt der Planänderung. 29<br />

Solche Nachteile werden allerdings lediglich auf den konkreten<br />

Bereich und nicht quasi flächendeckend auf die gesamte<br />

vertragliche Vereinbarung bezogen ausgeglichen.<br />

Die Scheidungsfolgen sind insoweit streng voneinander zu<br />

trennen. 30<br />

Ist bspw. der Versorgungsausgleich komplett ausgeschlossen<br />

worden, dann wird der benachteiligte Ehegatte ausschließlich<br />

hierauf bezogen eine Ausgleichung geltend<br />

machen können. Er wird selbst damit nicht durchdringen<br />

können, wenn er während der Ehezeit als Freiberufler lediglich<br />

Vermögensvorsorge für den Fall des Alters getroffen hat.<br />

Für die Gestaltung von Eheverträgen ist die folgende<br />

Checkliste 31 zu empfehlen:<br />

• Präambel: Beweggründe und Motive sollten aufgenommen<br />

werden, die den Abschluss des Ehevertrages veranlassen,<br />

namentlich den belasteten Ehegatten dazu bewegen,<br />

auf die ihm im Falle der Scheidung zustehenden<br />

Rechte zu verzichten. Die Einkommens- und Vermögensverhältnisse<br />

sollten erwähnt werden; ggf. bestehende<br />

Lebensrisiken (z.B. Erkrankungen) sind zu erwähnen.<br />

• Betreuungsunterhalt, § 1570 BGB: Dieser betrifft den<br />

Kernbereich des Scheidungsfolgenrechts. Eingriffe sind<br />

nur in Ausnahmefällen möglich.<br />

• Unterhalt wegen Alters und Krankheit: Auch diese Ansprüche<br />

gehören zum Kernbereich der Scheidungsfolgen,<br />

sind in der Regel jedoch disponibel.<br />

• Versorgungsausgleich: Auch der Versorgungsausgleich<br />

gehört zum Kernbereich. Sein Ausschluss ist möglich,<br />

wenn im Gegenzug andere – äquivalente – Vorteile<br />

zugebilligt werden (gleichwertige Altersversorgung). Er<br />

ist aber durch §§ 6-8 VersAusglG erleichtert worden.<br />

20 Vgl. dazu ausführlich Reinecke, ZFE 2009, 168.<br />

21 Vgl. OLG Celle, Urt. v. 24.06.2004 - 19 UF 59/04 mit Anm. Bergschneider,<br />

FamRZ 2004, 1494; aufgehoben durch Urteil des BGH v.<br />

28.03.2007 - XII ZR 130/04 mit Anm. Bergschneider, FamRZ 2007,<br />

1312.<br />

22 So Soyka, FK 2004, 75.<br />

23 Allerdings nicht, wenn ein Dritter dafür verantwortlich ist, vgl. Soyka,<br />

FK 2004, 75.<br />

24 Z.B. BGH, Urt. v. 31.10.2012 - XII ZR 129/10.<br />

25 BGH, Urt. v. 31.10.2012 - XII ZR 129/10; dazu Münch, FamRB 2013,<br />

160.<br />

26 Vgl. OLG Karlsruhe, Urt. v. 15.07.2004 - 16 UF 238/03.<br />

27 Vgl. BGH, Urt. v. 11.02.2004 - XII ZR 265/02.<br />

28 So Viefhues, Fehlerquellen im familiengerichtlichen Mandat, Rn. 1493.<br />

29 BGH, Urt. v. 10.09.2014 - IV ZR 298/13.<br />

30 Münch, Ehebezogene Rechtsgeschäfte, Rn. 774.<br />

31 Ähnlich Soyka, FK 2004, 86.<br />

143


Die Monatszeitschrift<br />

• Unterhalt wegen Erwerbslosigkeit, Aufstockungs-, Billigkeits-,<br />

Ausbildungsunterhalt sowie Vereinbarung der<br />

Gütertrennung: Diese Ausschlüsse rechtfertigen in der<br />

Regel die Annahme einer Sittenwidrigkeit nicht.<br />

• Altersvorsorgeunterhalt: Der Anspruch ist gegenüber<br />

dem Elementarunterhalt subsidiär, sodass ein Ausschluss<br />

zulässig sein dürfte.<br />

• Krankenvorsorgeunterhalt: Der BGH stellt diesen Unterhalt<br />

mit dem Altersvorsorgeunterhalt gleich. Bedenken<br />

ergeben sich jedoch daraus, dass dieser Teil des Unterhalts<br />

ein wichtiger Bestandteil des gegenwärtigen Unterhaltsbedarfs<br />

sein kann, zumal in Fällen, in denen damit zu rechnen<br />

ist, dass ärztliche Betreuung notwendig sein wird. 32<br />

• Zugewinnausgleich: Weitgehende Vertragsfreiheit; Sittenwidrigkeit<br />

nur in extremen Ausnahmefällen namentlich<br />

im persönlichen Bereich von Druck und Drohungen. 33<br />

• Weitere Hinweise: Ausführlich ist zum Ablauf der Verhandlungen<br />

und zum Umfang der Belehrungen Stellung<br />

zu nehmen, um dem Eindruck subjektiver Imparität entgegenzuwirken.<br />

Zudem ist darauf hinzuweisen, dass die<br />

Vereinbarungen bei Scheitern der Ehe der Ausübungskontrolle<br />

unterliegen und möglicherweise keinen Bestand<br />

haben, wenn die ehelichen Lebensverhältnisse<br />

von der Lebensplanung abweichen, also ehebedingte<br />

Nachteile entstanden sind.<br />

3. Sonderfall Trennungsvereinbarung<br />

Mit der Trennung werden die häusliche Gemeinschaft und<br />

die eheliche, familiäre Gemeinsamkeit aufgelöst. Zumindest<br />

in der ersten Zeit der Trennung ist jedoch ungewiss,<br />

ob es bei der Trennung bleibt und sie in eine Scheidung der<br />

Eheleute mündet oder ob die eheliche Lebensgemeinschaft<br />

wieder aufgenommen wird.<br />

Die Regelungen betreffend Trennungsunterhalt tragen daher<br />

der Möglichkeit einer Versöhnung Rechnung, die nicht<br />

erschwert werden darf. Der wirtschaftlich schwächere Ehepartner<br />

soll vor Verschlechterung seiner wirtschaftlichen<br />

und persönlichen Situation geschützt werden. 34<br />

Dies hindert nicht daran, eine Trennungsvereinbarung innerhalb<br />

der Grenzen der Vertragsgestaltung zu schließen.<br />

Eine Versagung bzw. Herabsetzung von Unterhaltsansprüchen<br />

jedoch ist folgerichtig nur ganz ausnahmsweise gem.<br />

§ 1361 Abs. 3 i.V.m. § 1579 Nr. 2 bis 8 BGB möglich.<br />

Ein unzulässiger Verzicht bzw. Teilverzicht von Trennungsunterhalt<br />

ist deshalb zu vermeiden. § 1614 BGB ist beim<br />

Trennungsunterhalt über §§ 1361 Abs. 4 Satz 4, Abs. 3,<br />

1360a Abs. 3 BGB anwendbar, sodass auf Trennungsunterhalt<br />

für die Zukunft nicht verzichtet werden kann. 35<br />

Es ist daher darauf zu achten, dass es im Rahmen von<br />

Unterhaltsvergleichen nicht zum unzulässigen Teilverzicht<br />

kommt. Während eine Unterschreitung des Trennungsunterhalts<br />

von 20 % noch für zulässig gehalten wird, 36 hält<br />

das OLG Hamm eine Unterschreitung von 1/3 für nicht<br />

mehr zulässig. 37<br />

Die Beurteilung setzt allerdings voraus, dass zunächst die<br />

Höhe des angemessenen Unterhaltsanspruchs im erforderlichen<br />

Umfang festgestellt worden ist. 38<br />

Wenn auch ein Verzicht auf die Zahlung von Trennungsunterhalt<br />

nicht möglich ist, können sich die Parteien im Rahmen<br />

unterschiedlicher Auffassungen über die Höhe eines<br />

zu zahlenden Trennungsunterhalts selbstverständlich verständigen.<br />

Steht jedoch die Höhe des zu zahlenden Trennungsunterhalts<br />

fest, darf eine Einigung nach ständiger<br />

Rechtsprechung die Zahlung von 4/5 des Betrages nicht<br />

unterschreiten. 39<br />

Ein vollständiger Verzicht für die Zukunft scheitert an<br />

§§ 1361 Abs. 4 Satz 3, 1360a Abs. 3, 1614 Abs. 1 BGB. 40<br />

Selbst gegen Abfindung ist ein Verzicht nicht möglich. 41<br />

Soll Trennungsunterhalt nicht geltend gemacht werden,<br />

weil der Unterhaltsschuldner gemeinsame Verbindlichkeiten<br />

allein abträgt, liegt hierin nach Auffassung des BGH<br />

nicht unbedingt ein unwirksamer Verzicht. 42<br />

Hinweis: Möglich ist auch die vertragliche Vereinbarung einer<br />

Konkretisierung des Zeitpunktes der Erwerbsobliegenheit<br />

des Berechtigten i.S.v. § 1361 Abs. 2 BGB. Eine solche<br />

Vereinbarung kann mit einer zeitlichen Befristung und mit<br />

der Verpflichtung des Ehegatten zum Nachweis von Erwerbsbemühungen<br />

kombiniert werden. 43<br />

Insgesamt sind folgende Verzichtsvereinbarungen unzulässig:<br />

• Verzicht auf Trennungsunterhalt auch bei – aktuell – fehlender<br />

Bedürftigkeit.<br />

• Verzicht auf Trennungsunterhalt wegen eigener Einkünfte<br />

des Berechtigten, aber höheren Einkünften des anderen<br />

Ehegatten.<br />

32 BGH, Urt. v. 07.12.1988 - IVb ZR 23/88.<br />

33 Vgl. das Beispiel von Bergschneider, FamRZ 2010, 1857, 1858.<br />

34 BGH, Urt. v. 25.02.1981 - IVb ZR 544/80; BGH, Urt. v. 15.11.1989 - IVb<br />

ZR 3/89; OLG Köln, Urt. v. 23.02.1996 - 26 UF 179/95.<br />

35 BGH, Urt. v. 27.06.1984 - IVb ZR 21/83.<br />

36 OLG Düsseldorf, Beschl. v. 19.06.2000 - 5 WF 114/00.<br />

37 OLG Hamm, Urt. v. 01.12.1999 - 12 UF 38/99 - OLGR Hamm 2000, 70;<br />

OLG Hamm, Beschl. v. 15.03.2006 - 11 WF 47/06.<br />

38 BGH, Beschl. v. 30.09.2015 - XII ZB 1/15.<br />

39 OLG Bremen, Beschl. v. 01.12.2008 - 4 WF 142/08.<br />

40 Roßmann/Viefhues, Rn. 370; Bergschneider/Hamm, F.III.5.3.<br />

41 Johannsen/Henrich/Graba, § 1614 Rn. 2.<br />

42 BGH, Urt. v. 11.05.2005 - XII ZR 289/02.<br />

43 Göppinger/Börger/Kilger/Pfeil, S. 265.<br />

144


JM 4 APRIL<br />

2016<br />

• Verzicht auf Trennungsunterhalt, weil der Berechtigte<br />

durch den anderen Ehegatten im Innenverhältnis von<br />

der Erfüllung einer Verbindlichkeit (z.B. Darlehen für die<br />

Ehewohnung) freigestellt wird.<br />

• Abfindung des Unterhaltsanspruchs für die Zukunft;<br />

§ 1614 Abs. 1 BGB gilt auch für den Fall eines entgeltlichen<br />

Verzichts. Vereinbaren die Beteiligten, dass zur<br />

Abgeltung aller Unterhaltsansprüche sowohl für die<br />

Trennungszeit als auch nach Scheidung der Ehe eine einmalige<br />

Abfindungssumme gezahlt wird, bleibt derjenige<br />

Teil der Vereinbarung unwirksam, der den Trennungsunterhalt<br />

betrifft. Das Recht zur Geltendmachung von<br />

Trennungsunterhaltsansprüchen ist auch dann gegeben,<br />

wenn die Abfindungssumme bereits bezahlt ist. 44<br />

Hinweis: Der Rückzahlungsanspruch hinsichtlich bereits<br />

gezahlter Beträge sollte in diesen Fällen vertraglich festgehalten<br />

und evtl. abgesichert werden. 45<br />

• Verzicht auf Trennungsunterhalt „für die Gegenwart“,<br />

also für einen kürzeren Zeitraum, z. B. eine evtl. nur kurze<br />

Zeit bis zur Rechtskraft der Scheidung.<br />

• Erschwerung der Möglichkeit, eine Erhöhung des Unterhalts<br />

nach §§ 238, 239 FamFG zu verlangen.<br />

• Ausschluss der gerichtlichen Geltendmachung von Unterhalt.<br />

46<br />

• nicht unwesentliche Stundung des Trennungsunterhaltsanspruchs.<br />

47<br />

• Verpflichtung, Trennungsunterhalt nicht geltend zu machen<br />

(pactum de non petendo). 48<br />

III. Erwägungen in der Rechtsprechung zur Wirksamkeitskontrolle<br />

Im Laufe der Entwicklung seit dem Urteil des BGH zur<br />

Kernbereichslehre im Jahre 2004 betont der BGH tendenziell<br />

mehr und mehr die Anpassung des Ehevertrages an<br />

die gegenwärtigen Verhältnisse und damit den Ausgleich<br />

entstandener ehebedingter Nachteile. 49<br />

Schließlich hat der BGH auch in seinen neuesten Entscheidungen<br />

die Vertragsfreiheit betont und seinen Standpunkt<br />

verdeutlicht, dass namentlich der Zugewinnausgleich einer<br />

ehevertraglichen Disposition am weitesten zugänglich und<br />

ein Ausschluss des gesetzlichen Güterstandes regelmäßig<br />

nicht sittenwidrig, also im Wege der Bestandskontrolle<br />

nicht zu beanstanden sei. 50<br />

Es gilt mehr denn je, dass die Ehegatten mit dem Ausschluss<br />

des Güterstandes der Zugewinngemeinschaft lediglich<br />

von einer im Gesetz eröffneten Gestaltungsmöglichkeit<br />

Gebrauch machen.<br />

Die Ehevertragsfreiheit hat weiterhin Bestand, wenn auch<br />

mit Einschränkungen, die sich aber ausschließlich auf den<br />

Kernbereich der Scheidungsfolgen beziehen. 51<br />

Die Vertragsfreiheit ist schon deshalb erforderlich, weil das<br />

Scheidungsfolgenrecht keinen zu lebenden Ehetypus vorschreibt.<br />

So, wie Eheleute frei darin sind, ihre Ehe inhaltlich<br />

zu gestalten, sind sie auch frei darin, die Folgen des Scheiterns<br />

ihrer Ehe zu regeln.<br />

Die Grenze der Freiheit zur Regelung der Folgen eines<br />

Scheiterns der Ehe kann nur in der Verletzung des zwingenden<br />

Schutzzwecks der gesetzlichen Regelung 52 liegen.<br />

Dieser Schutzzweck ist nach Auffassung des BGH unterlaufen,<br />

wenn eine<br />

• evident einseitige Lastenverteilung nicht<br />

• durch eine individuelle Gestaltung der Ehe gerechtfertigt<br />

sein kann und<br />

• die Lastenverteilung für einen Ehegatten unzumutbar<br />

ist. 53<br />

Unzumutbar ist eine Lastenverteilung nach Auffassung des<br />

BGH vor allem dann, wenn die Vereinbarung unter unfairen<br />

Bedingungen zustande gekommen ist.<br />

Der BGH erklärt, dass eine Beanstandung sich insbesondere<br />

aus Umständen außerhalb der Vertragsurkunde ergeben<br />

kann, die eine subjektive Imparität insbesondere infolge der<br />

Ausnutzung einer Zwangslage, einer sozialen oder wirtschaftlichen<br />

Abhängigkeit oder einer intellektuellen Unterlegenheit<br />

beweisen. 54 Insofern relativiert der BGH die Rangabstufung<br />

im Rahmen der Kernbereichslehre des Scheidungsfolgenrechts<br />

unter Heranziehung subjektiver Maßstäbe. 55<br />

Insgesamt bedeutet dies, dass es nunmehr auch verstärkt<br />

auf die subjektive Seite ankommt. Im ersten Leitsatz des<br />

Urteils des BGH vom 31.10.2012 56 heißt es:<br />

44 Kilger/Pfeil in: Göppinger/Börger, 5. Teil Rn. 136.<br />

45 Schwackenberg, FPR 2001, 107.<br />

46 OLG Karlsruhe, Urt. v. 13.03.1980 - 16 UF 215/79.<br />

47 BGH, Urt. v. 05.11.2008 - XII ZR 157/06 mit Anm. Bergschneider, Fam-<br />

RZ 2009, 198, 203.<br />

48 BGH, Beschl. v. 29.01.2014 - XII ZB 303/13 mit Anm. Bergschneider,<br />

FamRZ 2014, 727.<br />

49 BGH, Urt. v. 31.10.2012 - XII ZR 129/10; BGH, Urt. 02.02.2011 - XII ZR<br />

11/09; KG, Urt. v. 14.03.2012 - 3 UF 96/07.<br />

50 BGH, Urt. v. 21.11.2012 - XII ZR 48/11.<br />

51 So ausdrücklich schon BGH, Urt. v. 11.02.2004 - XII ZR 265/02.<br />

52 BGH, Urt. v. 11.02.2004 - XII ZR 265/02.<br />

53 BGH, Beschl. v. 17.07.2013 - XII ZB 143/12; Münch, Ehebezogene<br />

Rechtsgeschäfte, Rn. 870.<br />

54 Zu weiteren Beispielen hierzu vgl. Bergschneider, Richterliche Inhaltskontrolle<br />

von Eheverträgen und Scheidungsvereinbarungen, S. 79 ff.<br />

55 „Rangabstufung ... für den Berechtigten in seiner jeweiligen Lage“,<br />

BGH, Urt. v. 21.11.2012 - XII ZR 48/11.<br />

56 BGH, Urt. v. 31.10.2012 - XII ZR 129/10; so auch OLG Düsseldorf,<br />

Beschl. v. 21.02.2013 - I-3 Wx 193/12, 3 Wx 193/12; OLG Brandenburg,<br />

Beschl. v. 07.03.2013 - 10 UF 387/11; OLG Hamm, Beschl. v.<br />

20.12.2012 - II-11 UF 180/12, 11 UF 180/12.<br />

145


Die Monatszeitschrift<br />

„Ein Ehevertrag kann sich in einer Gesamtwürdigung nur<br />

dann als sittenwidrig und daher als insgesamt nichtig erweisen,<br />

wenn konkrete Feststellungen zu einer unterlegenen<br />

Verhandlungsposition des benachteiligten Ehegatten<br />

getroffen worden sind. Allein aus der Unausgewogenheit<br />

des Vertragsinhaltes ergibt sich die Sittenwidrigkeit des gesamten<br />

Ehevertrages regelmäßig noch nicht.“<br />

Kommt aber zur Unausgewogenheit hinzu, dass zum Zeitpunkt<br />

der Beurkundung bspw. eine Krankheitssituation vorgelegen<br />

hat, die zu einem großen persönlichen Druck der<br />

belasteten Partei führte, ist die Sittenwidrigkeit zu bejahen. 57<br />

Eine bevorstehende Operation indiziert eine solche Drucksituation<br />

jedoch nicht. 58<br />

Die Feststellungen zur unterlegenen Verhandlungsposition,<br />

zu einer Situation bei Beurkundung des Ehevertrages, die<br />

durch intellektuelle Unterlegenheit, Abhängigkeit oder eine<br />

Notsituation ohne zumutbaren Ausweg zu Lasten eines<br />

Ehegatten 59 geprägt war, korrespondieren mit der Belehrung<br />

durch den beurkundenden Notar.<br />

Zwar ist nach der Rechtsprechung des BGH nicht schon<br />

deshalb eine subjektive Imparität zu verneinen, weil der<br />

Notar ordnungsgemäß belehrt hat. 60 Der Verfahrensablauf<br />

kann jedoch dazu führen, dass eine subjektive Imparität zu<br />

verneinen ist.<br />

Dies ist dann der Fall, wenn sich der betroffene Ehegatte<br />

etwa lange und mit Vorbesprechungen bei dem Notar über<br />

die Regelungen Gedanken machen und sie für sich abwägen<br />

konnte. Ergibt sich Entsprechendes aus den Hinweisen<br />

zu den Belehrungen des Notars in der Urkunde, wird man<br />

regelmäßig nach der Rechtsprechung des BGH eine subjektive<br />

Imparität und deshalb eine Sittenwidrigkeit des Vertrages<br />

verneinen müssen. 61<br />

Neben umfangreichen Belehrungen können auch lange<br />

andauernde Verhandlungen dazu führen, eine subjektive<br />

Imparität zu verneinen.<br />

So hat der BGH 62 das Vorliegen einer subjektiven Imparität<br />

trotz erheblicher entsprechender objektiver Anhaltspunkte<br />

im Vertrag verneint, weil die Beteiligten monatelang unter<br />

Einschaltung beratender Rechtsanwälte mit Entwurf und Gegenentwurf<br />

über den Inhalt der Urkunde verhandelt hatten. 63<br />

Umgekehrt kann die fehlende Übersendung eines Vertragsentwurfs<br />

64 etwa wegen Überrumpelung 65 für subjektive<br />

Imparität sprechen. Dies wird in der Praxis aber eher die<br />

Ausnahme sein.<br />

IV. Fazit<br />

Eheverträge werden nach der Entwicklung der Rechtsprechung<br />

in Richtung größerer Vertragsfreiheit zukünftig<br />

weniger leicht angreifbar sein, auch wenn der Grundsatz<br />

gleichmäßigen Profitierens am Ergebnis einer Ehe nicht<br />

eingehalten wird. Das Prinzip der Halbteilung ist nicht<br />

Maßstab der Inhaltskontrolle einer Vereinbarung. 66<br />

In der Praxis wird es selten möglich sein, überzeugend<br />

eine für die Annahme der Unwirksamkeit eines Ehevertrages<br />

notwendige „subjektive Imparität“ darzulegen.<br />

Es wird deshalb in vielen Fällen darauf ankommen, im<br />

Wege der Ausübungskontrolle bei Trennung und Scheidung<br />

einer Ehe die ehebedingten Nachteile des betroffenen<br />

Ehegatten so konkret und exakt wie möglich<br />

darzulegen, um die „Schieflage“ zumindest insoweit zu<br />

korrigieren.<br />

57 So bei Alkoholkrankheit, vgl. OLG Koblenz, Urt. v. 25.10.2005 - 11 UF<br />

424/04 mit zustimmender Anmerkung Bergschneider.<br />

58 OLG Brandenburg, Beschl. v. 28.07.2002 - 9 WF 25/02.<br />

59 BGH, Urt. v. 31.10.2012 - XII ZR 129/10.<br />

60 BGH, Urt. v. 09.07.2008 - XII ZR 6/07.<br />

61 BGH, Urt. v. 09.07.2008 - XII ZR 6/07 m. Anm. Bergschneider; BGH,<br />

Urt. v. 31.10.2012 - XII ZR 129/10.<br />

62 BGH, Beschl. v. 29.01.2014 - XII ZB 303/13; Münch, Ehebezogene<br />

Rechtsgeschäfte, Rn. 768 ff.<br />

63 Vgl. dazu Bergschneider, FamRZ 2014, 727.<br />

64 OLG Dresden, Beschl. v. 27.03.2006 - 23 UF 0107/06, 23 UF 107/06.<br />

65 OLG Hamm, Beschl. v. 20.12.2012 - II-11 UF 180/12, 11 UF 180/12.<br />

66 BGH, Urt. v. 05.11.2008 - XII ZR 157/06.<br />

Hintergrundmusik in Zahnarztpraxen<br />

BGH, Urt. v. 18.06.2015 - I ZR 14/14<br />

Prof. Dr. Hannes Ludyga<br />

A. Problemstellung<br />

Der für das Urheberrecht zuständige 1. Zivilsenat des BGH<br />

entschied mit Urteil vom 18.06.2015 die für die Praxis bedeutende<br />

Frage, ob die Wiedergabe von Hintergrundmusik<br />

im Wartezimmer einer Zahnarztpraxis öffentlich i.S.v. § 15<br />

Abs. 3 UrhG ist. Die derzeitige Fassung von § 15 Abs. 3 UrhG<br />

beruht auf der Umsetzung der RL 2001/29/EG zur Informationsgesellschaft.<br />

1 Die Wiedergabe ist nach der Definition<br />

gem. § 15 Abs. 3 Satz 1 UrhG öffentlich, wenn sie für eine<br />

Mehrzahl von Mitgliedern der Öffentlichkeit bestimmt ist.<br />

1 Dreier/Schulze, UrhG, 5. Aufl. 2015, § 15 Rn. 37.<br />

146


JM 4 APRIL<br />

2016<br />

Zur Öffentlichkeit gehört jeder, der nicht mit demjenigen,<br />

der das Werk verwertet, oder mit den anderen Personen,<br />

denen das Werk in unkörperlicher Form wahrnehmbar oder<br />

zugänglich gemacht wird, durch persönliche Beziehungen<br />

verbunden ist. Liegt eine öffentliche Wiedergabe durch die<br />

Hintergrundmusik in Wartezimmern von Zahnarztpraxen<br />

vor, greift diese in das Verwertungsrecht des Urhebers gem.<br />

§ 22 UrhG ein und es besteht nach § 78 Abs. 2 Nr. 3 UrhG<br />

ein Anspruch des ausübenden Künstlers auf eine angemessene<br />

Vergütung.<br />

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung<br />

Die Klägerin ist die Gesellschaft für musikalische Aufführungs-<br />

und mechanische Vervielfältigungsrechte<br />

(GEMA), Beklagter ist ein Zahnarzt, der eine Zahnarztpraxis<br />

betreibt. 2 Kläger und Beklagter schlossen im<br />

August 2003 einen urheberrechtlichen Lizenzvertrag,<br />

aus dem die Klägerin den Beklagten auf Zahlung in Anspruch<br />

nimmt. In diesem Vertrag räumte die Klägerin<br />

dem Beklagten das Recht zur „Nutzung an Werken ihres<br />

Repertoires sowie des Repertoires der VG Wort und der<br />

GVL zur Wiedergabe von Hörfunksendungen in seiner<br />

Praxis gegen Zahlung einer Vergütung“ ein. 3 Unter Berufung<br />

auf das EuGH-Urteil vom 15.03.2012 (C-135/10),<br />

wonach Hintergrundmusik in Zahnarztpraxen „keine<br />

öffentliche Wiedergabe“ darstellt, kündigte der Beklagte<br />

im Dezember 2012 den Lizenzvertrag mit der Klägerin<br />

fristlos. 4<br />

den „Erwerbszeck des Nutzers“, das „Erreichen eines<br />

neuen Publikums“ und dessen „Aufnahmefähigkeit“.<br />

Hinsichtlich der Hintergrundmusik in Wartezimmern von<br />

Zahnarztpraxen ist für den BGH das Kriterium der Adressatenanzahl<br />

entscheidend, das gegen die öffentliche<br />

Wiedergabe spricht. Eine „unbestimmte Zahl potenzieller<br />

Adressaten“ liegt nach dem EuGH vor, wenn die „Wiedergabe<br />

für Personen allgemein erfolgt“ und „nicht auf<br />

bestimmte Personen beschränkt ist“. Das Kriterium „recht<br />

viele Personen“ verlangte keine „allzu kleine oder gar unbedeutende<br />

Mehrzahl betroffener Personen“. 9 Erfüllt sind<br />

diese Merkmale sicher bei der Rundfunkübertragung, die<br />

sich an einen größeren Personenkreis in einem Hotel oder<br />

einer Gastwirtschaft richtet. Auf eine Rundfunkübertragung<br />

in dem Wartezimmer einer Arztpraxis trifft dies –<br />

legt man die Kriterien des EuGH an – nicht zu, da Zahnarztpatienten<br />

„eine bestimmte Gesamtheit potenzieller<br />

Leistungsempfänger“ bilden und die „Zahl der Patienten,<br />

für die ein Zahnarzt denselben Tonträger hörbar“ macht,<br />

„unerheblich oder unbedeutend“ ist. So sind in der Regel<br />

„aufeinander folgende Patienten“ „nicht Hörer derselben<br />

Tonträger“. 10<br />

D. Auswirkungen für die Praxis<br />

Das BGH-Urteil vom 18.06.2015 zeigt erneut die enorme<br />

Bedeutung des EuGH für die Rechtsprechung deutscher Gerichte<br />

auf dem Gebiet des Urheberrechts. Es setzt die Vorgaben<br />

des EuGH präzise um und trägt zur „Harmonisierung<br />

des europäischen Urheberrechts“ bei. 11<br />

C. Kontext der Entscheidung<br />

Der BGH entschied zu Recht, dass der Beklagte zur Kündigung<br />

des Lizenzvertrags mit der Klägerin gem. § 313<br />

Abs. 3 Satz 2 berechtigt war, da „dessen Geschäftsgrundlage<br />

mit dem Urteil des EuGH vom 15.03.2012 entfallen<br />

und dem Beklagten eine Fortsetzung des Vertrags bis zum<br />

Ende der Laufzeit nicht zumutbar war“. 5 Es ist anerkannt,<br />

dass eine „Änderung einer gefestigten höchstrichterlichen<br />

Rechtsprechung“ „eine Anpassung eines Vertrages<br />

rechtfertigen kann“. 6 Zum Zeitpunkt des Abschlusses des<br />

Lizenzvertrages im August 2003 stellte die Übertragung<br />

von Hörfunksendungen in Wartezimmern von Arztpraxen<br />

nach der BGH-Rechtsprechung eine öffentliche Wiedergabe<br />

gem. § 15 Abs. 3 UrhG dar. 7 Diese „Rechtslage“ hat<br />

sich durch das EuGH-Urteil vom 15.03.2012 geändert. 8<br />

Der EuGH folgt einer von der deutschen Rechtsprechung<br />

„abweichenden Definition der öffentlichen Wiedergabe“<br />

unter Zugrundelegung diverser Kriterien. Er berücksichtigt<br />

bei seiner Definition das „Tätigwerden eines Nutzers“,<br />

die „unbestimmte Zahl potenzieller Adressaten“,<br />

das Merkmal „recht viele Personen als Adressaten“,<br />

2 BGH, Urt. v. 18.06.2015 - I ZR 14/14 Rn. 1.<br />

3 BGH, Urt. v. 18.06.2015 - I ZR 14/14 Rn. 2.<br />

4 BGH, Urt. v. 18.06.2015 - I ZR 14/14 Rn. 4.<br />

5 BGH, Urt. v. 18.06.2015 - I ZR 14/14 Rn. 10.<br />

6 BGH, Urt. v. 18.06.2015 - I ZR 14/14 Rn. 12; Palandt/Grüneberg, BGB,<br />

75. Aufl. 2016, § 313 Rn. 35.<br />

7 BGH, Urt. v. 18.06.2015 - I ZR 14/14 Rn. 14.<br />

8 BGH, Urt. v. 18.06.2015 - I ZR 14/14 Rn. 20.<br />

9 BGH, Urt. v. 18.06.2015 - I ZR 14/14 Rn. 43; Dreier/Schulze, UrhG,<br />

5. Aufl. 2015, § 15 Rn. 29.<br />

10 BGH, Urt. v. 18.06.2015 - I ZR 14/14 Rn. 45.<br />

11 Wandtke/Wandtke, Urheberrecht, 4. Aufl. 2014, Einleitung Rn. 53.<br />

147


Die Monatszeitschrift<br />

Schadensersatz wegen Nichtgewährung<br />

eines KiTa-Platzes<br />

OLG Dresden, Urt. v. 26.08.2015 - 1 U 319/15<br />

RA und FA für IT-Recht Wolfgang Kuntz<br />

A. Problemstellung<br />

Das LG Leipzig hatte am 02.02.2015 entschieden 1 , dass<br />

die Eltern eines Kleinkindes Anspruch auf Schadensersatz<br />

für entgangenen Verdienst, Beiträge zum Versorgungswerk<br />

sowie vorgerichtliche Anwaltskosten haben, wenn dem Kind<br />

ein Kita-Platz nicht rechtzeitig zur Verfügung gestellt wird.<br />

Die Berufungsentscheidung des OLG Dresden 2 änderte nun<br />

die Entscheidung des Landgerichts ab und wies die Klage ab.<br />

B. Die Entscheidung des Landgerichts<br />

Das Landgericht hat den Schadensersatzanspruch bejaht<br />

und die begehrten Gelder in voller Höhe zugesprochen. 3<br />

Zur Begründung führt das Landgericht aus, dass die beklagte<br />

Kommune die auch im Interesse der Eltern bestehende<br />

Amtspflicht auf Bereitstellung eines KiTa-Platzes verletzt<br />

habe. Der Anspruch auf Bereitstellung eines Krippenplatzes<br />

folge aus § 24 Abs. 2 SGB VIII. Danach hat ein Kind nach<br />

Vollendung des ersten Lebensjahres Anspruch auf Förderung<br />

in einer Tageseinrichtung oder Kindertagespflege.<br />

Die Norm, die primär einen Anspruch des Kindes definiere,<br />

sei sowohl nach der Erläuterung seitens des Gesetzgebers<br />

als auch aus verfassungsrechtlichen Gründen so auszulegen,<br />

dass sie auch die Interessen der Eltern schütze und damit<br />

dem Schutz der Interessen Dritter diene. Der Anspruch<br />

auf einen Krippenplatz folge aus der Erfüllung eines diesbezüglichen<br />

verfassungsrechtlichen Auftrages. Dadurch,<br />

dass die Kommune den Eltern den Krippenplatz trotz rechtzeitigen<br />

Antrags nicht zur Verfügung gestellt habe, habe<br />

diese ihre Amtspflicht schuldhaft vorsätzlich verletzt.<br />

Die Kommune könne sich wegen nicht ausreichend vorhandener<br />

Plätze nicht auf eine sog. objektive Unmöglichkeit<br />

berufen. Das gesetzgeberische Ziel, KiTa-Plätze zur Verfügung<br />

zu stellen, sei seit dem Jahr 2008 bekannt und die<br />

Kommunen hätten sich darauf einrichten können und Vorsorge<br />

treffen müssen. Ein Träger, der mindestens viereinhalb<br />

Jahre ungenutzt verstreichen lasse, handle zumindest<br />

fahrlässig. Der zu ersetzende Schaden umfasse auch den<br />

Verdienstausfall, der durch die notwendig werdende Verlängerung<br />

der Elternzeit entstehe.<br />

C. Die Entscheidung des Oberlandesgerichts<br />

Das Oberlandesgericht stützt seine ablehnende Entscheidung<br />

darauf, dass die Eltern nicht geschützte Dritte der<br />

Amtspflicht auf Verschaffung eines Platzes in der Kita<br />

seien. Ferner sei der Verdienstausfall bei einer Verletzung<br />

der Amtspflicht nicht vom Schutzzweck der Norm umfasst.<br />

Das Gericht begründet dies damit, dass Inhaber des Anspruchs<br />

nach § 24 Abs. 2 SGB VIII alleine das Kind sei. Der<br />

Wortlaut des § 24 Abs. 2 SGB VIII sei insoweit eindeutig<br />

und müsse als bewusste Entscheidung des Gesetzgebers<br />

gesehen werden, alleine dem Kind den Anspruch zu vermitteln.<br />

Die Eltern hätten hingegen keinen eigenen Anspruch<br />

auf Verschaffung eines Kita-Platzes für ihr Kind. Auch das<br />

Sächsische Gesetz zur Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen<br />

gebe den Eltern keinen Anspruch.<br />

Der Drittschutz ergebe sich auch nicht aus einer sonstigen<br />

Einbeziehung in den Schutzbereich der Norm. Zwar seien<br />

einige juristische Kommentatoren der Ansicht, dass die<br />

Sorgeberechtigten in den Schutzbereich einbezogen seien,<br />

da das Ziel, Erwerbstätigkeit und Kindererziehung besser<br />

vereinbaren zu können, ausdrücklich erwähnt werde und<br />

diese Einbeziehung auch aus verfassungsrechtlichen Gründen<br />

folge. Andererseits spreche aber die Auslegung unter<br />

Berücksichtigung der Gesetzesmaterialien gegen die Einbeziehung.<br />

Aus den Materialien folge, dass die Förderung<br />

des Kindeswohls im Vordergrund stehe. Wenn in der Gesetzesbegründung<br />

formuliert sei, dass erst die Schaffung eines<br />

Rechtsanspruchs den Eltern die Wahlfreiheit gebe, Beruf<br />

und Familie miteinander zu vereinbaren, folge daraus nicht,<br />

dass die Eltern deshalb geschützte Dritte des Anspruchs<br />

ihres Kindes sein sollen. Der Wortlaut der Vorschrift stelle auf<br />

die Förderung des Kindes und nicht auf die Erwerbsinteressen<br />

der Eltern ab. Da von den Fördergrundsätzen des § 22<br />

Abs. 2 SGB VIII nur die Sicherung des Kindeswohls Eingang<br />

in den Gesetzeswortlaut des § 24 Abs. 2 SGB VIII gefunden<br />

habe, folge hieraus, dass nur das Kind durch die Norm geschützt<br />

sein solle. Anderenfalls wären die weiteren Förderungsgrundsätze<br />

entweder erwähnt worden oder aber es<br />

wäre ein direkter Anspruch der Eltern statuiert worden.<br />

Der entstandene Schaden sei ferner nicht vom Schutzzweck<br />

der Norm umfasst. Mittelbare Schäden der Eltern, wie Verdienstausfall,<br />

seien hiervon nicht erfasst.<br />

D. Kritik<br />

Die Entscheidung des OLG Dresden ist hauptsächlich unter<br />

zwei Gesichtspunkten zu kritisieren.<br />

1 LG Leipzig, Urt. v. 02.02.2015 - 7 O 1455/14 (das Landgericht erließ<br />

am 02.02.2015 drei weitgehend gleichlautende Entscheidungen).<br />

2 OLG Dresden, Urt. v. 26.08.2015 - 1 U 319/15.<br />

3 Zur Entscheidung des Landgerichts eingehend Kuntz, jM 2015, 232-<br />

238.<br />

148


JM 4 APRIL<br />

2016<br />

Zum einen beruht das Urteil auf der fehlerhaften Anwendung<br />

der Auslegungsregeln einerseits und zum anderen<br />

auf der nicht korrekten Prüfung der Voraussetzungen, die<br />

in ständiger Rechtsprechung für eine Drittbezogenheit aufgestellt<br />

worden sind. 4<br />

Das BVerfG hat für die Auslegung von Gesetzen in ständiger<br />

Rechtsprechung folgende Grundsätze aufgestellt:<br />

„Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesbestimmung<br />

ist der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille<br />

des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der<br />

Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt,<br />

in den diese hineingestellt ist. Nicht entscheidend ist dagegen<br />

die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren<br />

beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder<br />

über die Bedeutung der Bestimmung. Der Entstehungsgeschichte<br />

einer Vorschrift kommt für deren Auslegung nur<br />

insofern Bedeutung zu, als sie die Richtigkeit einer nach<br />

den angegebenen Grundsätzen erhaltenen Auslegung bestätigt<br />

oder Zweifel behebt, die auf dem angegebenen Weg<br />

allein nicht ausgeräumt werden können.“ 5<br />

„… Der Erfassung des objektiven Willens des Gesetzgebers<br />

dienen die anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung<br />

aus dem Wortlaut der Norm, der Systematik, ihrem Sinn<br />

und Zweck sowie aus den Gesetzesmaterialien und der<br />

Entstehungsgeschichte, die einander nicht ausschließen,<br />

sondern sich gegenseitig ergänzen. Unter ihnen hat keine<br />

einen unbedingten Vorrang vor einer anderen (vgl. BVerfGE<br />

11, 126 [130]; 105, 135 [157]). Ausgangspunkt der Auslegung<br />

ist der Wortlaut der Vorschrift. Er gibt allerdings nicht<br />

immer hinreichende Hinweise auf den Willen des Gesetzgebers.<br />

Unter Umständen wird erst im Zusammenhang mit<br />

Sinn und Zweck des Gesetzes oder anderen Auslegungsgesichtspunkten<br />

die im Wortlaut ausgedrückte, vom Gesetzgeber<br />

verfolgte Regelungskonzeption deutlich, der sich<br />

der Richter nicht entgegenstellen darf (vgl. BVerfGE 122,<br />

248 [283] – abw. M.). Dessen Aufgabe beschränkt sich<br />

darauf, die intendierte Regelungskonzeption bezogen auf<br />

den konkreten Fall – auch unter gewandelten Bedingungen<br />

– möglichst zuverlässig zur Geltung zu bringen (vgl.<br />

BVerfGE 96, 375 [394 f.]). In keinem Fall darf richterliche<br />

Rechtsfindung das gesetzgeberische Ziel der Norm in<br />

einem wesentlichen Punkt verfehlen oder verfälschen oder<br />

an die Stelle der Regelungskonzeption des Gesetzgebers<br />

gar eine eigene treten lassen (vgl. BVerfGE 78, 20 [24]<br />

m.w.N.). Für die Beantwortung der Frage, welche Regelungskonzeption<br />

dem Gesetz zugrunde liegt, kommt daneben<br />

den Gesetzesmaterialien und der Systematik des Gesetzes<br />

eine nicht unerhebliche Indizwirkung zu. Die Eindeutigkeit<br />

der im Wege der Auslegung gewonnenen gesetzgeberischen<br />

Grundentscheidung wird nicht notwendig dadurch<br />

relativiert, dass der Wortlaut der einschlägigen Norm auch<br />

andere Deutungsmöglichkeiten eröffnet, soweit diese Deutungen<br />

offensichtlich eher fernliegen. Anderenfalls wäre es<br />

für den Gesetzgeber angesichts der Schwierigkeit, textlich<br />

Eindeutigkeit herzustellen, nahezu unmöglich, sein Regelungsanliegen<br />

gegenüber der Rechtsprechung über einen<br />

längeren Zeitraum durchzusetzen (vgl. BVerfGE 122, 248<br />

[284] – abw. M.).“ 6<br />

Das BVerfG hat damit besonders hervorgehoben, dass<br />

keine Auslegungsregel einen unbedingten Vorrang vor<br />

einer anderen hat. Demgegenüber hat die Entscheidung<br />

des OLG Dresden ausdrücklich gerade dem Wortlaut der<br />

Vorschrift nahezu die allein prägende Wirkung für die<br />

Auslegung zugeschrieben und die Systematik des Gesetzes<br />

– man denke dabei nur an § 22 Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII<br />

– sowie die Motive und Beweggründe des Gesetzgebers,<br />

wie sie in den Materialien des Gesetzes zum Ausdruck<br />

kommen, nicht gleichrangig gewürdigt. Dies verstößt<br />

gegen die Gesetzesauslegung nach den Vorgaben des<br />

BVerfG. Das Oberlandesgericht stellt nämlich in seiner<br />

Urteilsbegründung hauptsächlich darauf ab, dass alleine<br />

das Kind in § 24 Abs. 2 SGB VIII als Anspruchsberechtigter<br />

genannt sei und nur die Förderung des Kindeswohls<br />

als Fördergrundsatz erwähnt werde. Diese Auslegung<br />

widerspricht der Gesetzessystematik und verkennt die<br />

verfassungsrecht lichen Hintergründe der Vorschriften.<br />

Entgegen der Ansicht des OLG muss der Fördergrundsatz<br />

des § 22 Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII angesichts seiner Bedeutung<br />

für den grundgesetzlichen Auftrag des Schutzes von Ehe<br />

und Familie (Art. 6 GG) in § 24 Abs. 2 SGB VIII nicht noch<br />

einmal explizit erwähnt werden, wenn er in § 22 Abs. 2<br />

SGB VIII als Förderziel eines Kita-Platzes bereits – sozusagen<br />

„vor der Klammer“ – genannt ist. Mit anderen<br />

Worten: Da die Förderziele in § 22 Abs. 2 SGB VIII bereits<br />

zusammenfassend genannt sind, bedarf es einer zusätzlichen<br />

nochmaligen Erwähnung sämtlicher Ziele bei den<br />

nachfolgenden im Regelungszusammenhang stehenden<br />

Vorschriften nicht mehr. Für die Auslegung des § 24 Abs. 2<br />

SGB VIII müssen daher alle in § 22 Abs. 2 SGB VIII genannten<br />

Fördergrundsätze gleichrangig beachtet werden.<br />

Es kommt entgegen der Ansicht des Oberlandesgerichts<br />

auch nicht darauf an, ob das Grundgesetz einen Anspruch<br />

auf einen Kita-Platz unmittelbar verschafft bzw. verschaffen<br />

soll. Im Ergebnis ist es daher unschädlich, dass die<br />

Eltern eines bestimmten Kindes gem. § 24 Abs. 2 SGB VIII<br />

nicht selbst beanspruchen, in der Kita betreut zu werden. 7<br />

4 So auch Rixen, NZFam 2015, 919 f.<br />

5 BVerfG, Urt. v. 21.05.1952 - 2 BvH 2/52 - BVerfGE 1, 299 ff.<br />

6 BVerfG, Urt. v. 19.03.2013 - 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR<br />

2155/11 - BVerfGE 133, 168 ff.<br />

7 Rixen, NZFam 2015, 919.<br />

149


Die Monatszeitschrift<br />

Zum anderen verkennt das Gericht die Voraussetzungen für<br />

einen Drittschutz der Norm, wie sie vom BGH entwickelt<br />

worden sind. 8<br />

Maßgebend für einen Drittschutz ist der Schutzzweck, dem<br />

die Amtspflicht nach den sie begründenden und umreißenden<br />

Vorschriften und nach der besonderen Natur des Amtsgeschäfts<br />

dienen soll. 9 Generell ist zu konstatieren, dass<br />

eine Amtspflicht nur dann drittschützende Wirkung i.S.d.<br />

§ 839 BGB entfaltet, wenn sie gerade im Interesse einzelner<br />

Staatsbürger oder einer individualisierten Personengruppe<br />

zu erfüllen ist und nicht lediglich der Aufrechterhaltung der<br />

öffentlichen Ordnung und dem Schutz des Allgemeininteresses<br />

des Gemeinwesens dient. 10 Erforderlich ist, dass die<br />

Amtspflicht einerseits gerade das verletzte Rechtsgut und<br />

gerade (zumindest) auch dessen Inhaber schützen soll. 11<br />

Nach allgemeiner Auffassung ist eine Drittbezogenheit in<br />

dreierlei Hinsicht erforderlich: Die Amtspflicht muss überhaupt<br />

Drittwirkung haben, der Geschädigte muss dem zu<br />

schützenden Personenkreis angehören und das konkret<br />

betroffene Interesse muss durch die Amtspflicht geschützt<br />

werden. 12<br />

Dass die Amtspflicht vorliegend überhaupt Drittwirkung hat,<br />

wird auch vom OLG Dresden nicht in Abrede gestellt. Der<br />

persönliche Schutzbereich ist eröffnet, wenn der Zweck der<br />

Vorschrift zumindest auch die Wahrnehmung der Interessen<br />

des Einzelnen ist, wenn eine besondere Beziehung zwischen<br />

der verletzten Amtspflicht und dem geschädigten Dritten<br />

besteht 13 in dem Sinn, dass dessen Belange nach Zweck<br />

und rechtlicher Bestimmung des Amtsgeschäfts geschützt<br />

und gefördert werden sollen und er zu einem erkennbar<br />

abgegrenzten Personenkreis gehört, auf dessen Interessen<br />

in qualifizierter und individualisierter Weise Rücksicht zu<br />

nehmen ist 14 . Hierfür ist die unmittelbare Beteiligung am<br />

Amtsgeschäft allerdings ebenso wenig notwendige Voraussetzung<br />

wie ein Rechtsanspruch des Betroffenen auf die<br />

streitgegenständliche Amtshandlung. 15 Wenn in den Gesetzesmaterialien<br />

16 davon die Rede ist, dass durch die Regelung<br />

den Eltern ermöglicht werden soll, Beruf und Familie besser<br />

zu vereinbaren, dann wird durch die Regelung des Gesetzes<br />

zumindest auch der Zweck verfolgt, die Interessen der<br />

Eltern zu schützen und diesen im Falle der Gewährung des<br />

Kita-Platzes die berufliche Tätigkeit neben der Erziehung des<br />

Kindes zu ermöglichen. Ebenso soll – ganz grundsätzlich –<br />

den Eltern, dabei insbesondere den Frauen, die faktische<br />

Wahl ermöglicht werden, wie sie die Betreuung ihres Kindes<br />

im Einzelnen gestalten. 17 Dieses gesetzgeberische Ziel hat<br />

gesetzessystematisch auch in den Fördergrundsätzen nach<br />

§ 22 Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII Eingang gefunden. Daraus folgt,<br />

dass durch die Amtspflicht auch Rechtsgüter und Interessen<br />

der Eltern geschützt werden sollen. Dass die Eltern in den abgegrenzten<br />

individualisierten Personenkreis gehören, kann<br />

daneben auch daraus geschlossen werden, dass sie in aller<br />

Regel die Ansprüche nach den entsprechenden Vorschriften<br />

als gesetzliche Vertreter durchsetzen.<br />

Darüber hinaus kann richtiger Ansicht nach auch eine mittelbare<br />

Betroffenheit eines nicht am Amtsgeschäft Beteiligten<br />

ausreichen, wenn die Interessen des Dritten nach der<br />

besonderen Natur des Amtsgeschäfts durch dieses berührt<br />

werden. 18 Zumindest diese mittelbare Betroffenheit ist vorliegend<br />

anzunehmen, da die Nicht-Zurverfügungstellung<br />

eines Kita-Platzes nach der Natur dieses Amtsgeschäfts<br />

zwingend in die Interessen der gesetzlich vertretungsberechtigten<br />

Eltern eingreifen muss und die Nichtförderung<br />

des Kindes damit auch dem Fördergrundsatz nach § 22<br />

Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII widerspricht.<br />

Mayer hat zudem mit einem anderen Begründungsansatz<br />

nachgewiesen, dass der Drittschutz der Amtspflicht auch<br />

für die Erziehungsberechtigten gilt, die in das durch § 24<br />

Abs. 2 SGB VIII begründete öffentlich-rechtliche Schuldverhältnis<br />

einbezogen seien, da auch deren Interessen an einer<br />

Vereinbarkeit von Beruf und Familie gesetzlich geschützt<br />

seien, wie § 22 Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII belege. 19 Die vom BGH<br />

geforderte besondere Beziehung zwischen geschützter<br />

Amtspflicht und den geschädigten Erziehungsberechtigten<br />

liegt daher auch nach dieser Ansicht vor. 20<br />

E. Ausblick<br />

Das Oberlandesgericht hat die Revision zugelassen. Sie ist<br />

mittlerweile anhängig. 21 Es bleibt zu hoffen, dass der BGH<br />

in letzter Instanz im Sinne der Familien entscheiden wird.<br />

Jede andere Entscheidung würde das vom OLG Dresden als<br />

gesetzgeberisches Ziel in den Vordergrund gestellte „Kindeswohl“<br />

in der Konsequenz letztlich konterkarieren.<br />

8 Z.B. BGH, Urt. v. 08.11.2012 - III ZR 293/11.<br />

9 BGH, Urt. v. 26.01.1989 - III ZR 194/87 - BGHZ 106, 323 ff. (331).<br />

10 Zimmerling in: jurisPK-BGB, § 839 Rn. 94.<br />

11 Zimmerling in: jurisPK-BGB, § 839 Rn. 94 m.w.N.<br />

12 Zimmerling in: jurisPK-BGB, § 839 Rn. 96.<br />

13 BGH, Urt. v. 08.11.2012 - III ZR 293/11.<br />

14 Sprau in: Palandt, § 839 Rn. 44.<br />

15 So mit Recht Rixen, NZFam 2015, 919.<br />

16 BT-Drs. 16/9299 und 16/10173.<br />

17 BT-Drs. 16/9299, S. 12.<br />

18 Zimmerling in: jurisPK-BGB, § 839 Rn. 98.<br />

19 Mayer, VerwA 2013, 381 und 382 (zum kausalen Schaden im Rahmen<br />

des Amtshaftungsanspruchs).<br />

20 Mayer, VerwA 2013, 381.<br />

21 Beim BGH unter Az.: III ZR 302/15.<br />

150


JM 4 APRIL<br />

2016<br />

Arbeitsrecht<br />

Arbeitsrechtliche Sonderwege im bezahlten Fußball? (Teil 2*)<br />

VRiBAG a.D. Klaus Bepler<br />

C. Rechtsfolgen einer Nichtbeschäftigung „im Rampenlicht“<br />

Das Urteil des ArbG Mainz behandelt einen zweiten Streitgegenstand,<br />

der in den Urteilsbesprechungen, soweit ersichtlich,<br />

keine Rolle gespielt hat, obwohl auch er eine besondere<br />

Rechtsfrage des Sportarbeitsrechts aufwirft. Heinz<br />

Müller, der bis zum Aufbrechen seiner Verletzung in der<br />

ersten Halbzeit des 11. Spieltages der Spielzeit 2013/2014<br />

in zehn von elf Spielen der 1. Bundesligamannschaft eingesetzt<br />

worden war, war – offenbar nach dem Ausheilen<br />

seiner Verletzung – ab dem 17. Spieltag dem Trainings- und<br />

Spielbetrieb der 2. Mannschaft des TSV Mainz 05 zugewiesen<br />

worden. Sie spielt in der 3. Liga gegen Vereine wie den<br />

FC Viktoria Köln und die SG Sonnenhof Großaspach. Dadurch<br />

waren für ihn im Verhältnis zu einem Einsatz in der<br />

1. Bundesligamannschaft jedenfalls möglicherweise Prämien<br />

in Höhe von 261.000 € ausgefallen, die er im Klagewege<br />

geltend gemacht hat.<br />

Das Arbeitsgericht hat diesen Teil der Klage abgewiesen.<br />

Es hat dies im Wesentlichen damit begründet, der Kläger<br />

hätte selbst dann keinen Anspruch auf einen konkreten,<br />

Punkteprämien auslösenden Einstand im Spielbetrieb<br />

der 1. Mannschaft gehabt, wenn er einen allgemeinen<br />

Anspruch auf Teilnahme an deren Trainings- und Spielbetrieb<br />

habe. Für einen Anspruch des Klägers aus § 162<br />

Abs. 1 BGB habe dieser den ihm obliegenden Beweis nicht<br />

geführt, dass die legitimen, vielfältigen Gründe, an denen<br />

der Trainer seine sportliche Entscheidung ausrichten dürfe,<br />

widerlegt seien, und dass eine persönliche Animosität der<br />

entscheidende Gesichtspunkt gewesen sei.<br />

Diese Begründung mag tragfähig sein, wenn man davon<br />

ausgeht, der Spieler stehe in einem Arbeitsverhältnis auf<br />

unbestimmte Zeit, in dem er eine fortdauernde, in ihrem<br />

Bestand geschützte Existenzgrundlage hat. Konkrete Einwände<br />

gegen diesen Teil des Urteils könnte man auch nur<br />

dann erheben, wenn man den zugrunde liegenden Lebenssachverhalt<br />

und den Inhalt der Beweisaufnahme umfassend<br />

hätte zur Kenntnis nehmen können. Dieser zweite Teil<br />

der angesprochenen Entscheidung bietet aber zumindest<br />

dann Anlass zu einigen ergänzenden sportarbeitsrechtlichen<br />

Erwägungen, wenn man davon ausgeht, dass die<br />

Arbeitsverträge mit Lizenzspielern unter den genannten<br />

Bedingungen wirksam befristet sind.<br />

I. Der modifizierte Beschäftigungsanspruch der<br />

Lizenzfußballer<br />

Jeder Arbeitnehmer hat grds. einen Rechtsanspruch auf<br />

arbeitsvertragsgemäße tatsächliche Beschäftigung. Dieser<br />

Anspruch ist ursprünglich für den künstlerischen Bereich<br />

entwickelt worden 1 und vorrangig auf ideelle Gründe aus<br />

dem Bereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gestützt<br />

worden. 2 Er ist aber heute allgemein anerkannt und gilt sogar<br />

verstärkt, wenn auch das berufliche Fortkommen oder<br />

das Arbeitsentgelt von der tatsächlichen Beschäftigung im<br />

Arbeitsverhältnis abhängig ist.<br />

Damit ist noch wenig für die Antwort auf die Frage gewonnen,<br />

inwieweit dieser allgemeine Beschäftigungsanspruch<br />

auch einen Rechtsanspruch des einzelnen Lizenzspielers<br />

auf einen einen Prämienanspruch auslösenden Einsatz in<br />

einem konkreten Wettkampfspiel der 1. Mannschaft umfasst.<br />

Das BAG hat diese Frage nur selten behandelt und<br />

mit Hinweis auf die Besonderheiten des Berufsbildes eines<br />

Lizenzspielers verneint. 3 Die Teilnahme an Pflichtspielen<br />

stelle sich für den Lizenzspieler nur als eine rechtlich nicht<br />

geschützte Chance dar, mit der die im Wesentlichen unbegrenzte<br />

Freiheit der Vereinsverantwortlichen korrespondiere,<br />

über den Einsatz des Spielers zu entscheiden.<br />

An anderer Stelle wurde schon vor einiger Zeit ausführlich<br />

begründet, 4 dass diese Rechtsauffassung zu weitgehend<br />

ist und einseitig den Interessen der Vereine entspricht. Die<br />

für den Verein ohne Weiteres erkennbare Interessenlage<br />

des Lizenzspielers bei Vertragsschluss schließt es regelmäßig<br />

aus, dem Verein das Recht zu geben, willkürlich<br />

* Fortführung des in jM 2016, 105 ff. veröffentlichten Beitrags.<br />

1 Vgl. hierzu die umfangreichen Nachweise bei Bepler in: Bepler<br />

(Hrsg.), Sportler, Arbeit und Statuten, Herbert Fenn zum 65. Geburtstag,<br />

S. 43, 62.<br />

2 BAG, Urt. v. 10.11.1955 - 2 AZR 591/54 - AP BGB § 611 Beschäftigungspflicht<br />

Nr. 2; BAG, Urt. v. 27.02.1985 - GS 1/84 - NZA 1985, 702.<br />

3 BAG, Urt. v. 22.08.1984 - 5 AZR 539/81 - AP BGB § 616 Nr. 65; im<br />

Ergebnis ebenso BAG, Urt. v. 19.01.2000 - 5 AZR 637/98 - NZA 2000,<br />

771.<br />

4 Bepler in: Bepler (Hrsg.), Sportler, Arbeit und Statuten, Herbert Fenn<br />

zum 65. Geburtstag, S. 43, 69 ff.<br />

151


Die Monatszeitschrift<br />

über den Einsatz oder Nichteinsatz des Spielers entscheiden<br />

zu lassen. Beim Spieler ist andererseits ein von Rechts<br />

wegen zu schützendes Vertrauen darauf entstanden, dass<br />

der Verein es nicht sachwidrig verhindert, dass er die im<br />

Vertrag in Aussicht gestellten Prämien verdient, ihm nicht<br />

ohne sachlich-sportlichen Grund die Möglichkeit nimmt,<br />

in dem zentralen, für seine berufliche Persönlichkeitsentfaltung<br />

maßgeblichen Bereich seines Sports, im Spieleinsatz,<br />

tätig zu werden. Der Lizenzspieler darf darauf vertrauen,<br />

dass ihn sein Verein nicht hindert, auf diese Weise<br />

seinen Marktwert für mögliche künftige Vertragspartner<br />

zu steigern.<br />

Aus dem Wesen des Mannschaftssports Fußball und dem<br />

zu unterstellenden Bewusstsein des Arbeitnehmers, dass im<br />

Fußball jeweils nur elf Arbeitnehmer sowie die Einwechselspieler<br />

entsprechend den sportlichen Vorgaben des Trainers<br />

zum Einsatz kommen können, ergibt sich, dass ein rechtlich<br />

durchsetzbarer Anspruch nur auf Trainingsteilnahme, aber<br />

nicht auf tatsächlichen Einsatz in einem einzelnen Pflichtspiel<br />

bestehen kann. Dann muss aber unter den besonderen<br />

Umständen der Arbeitsverhältnisse von Lizenzfußballern<br />

von dem dem Grunde nach bestehenden Beschäftigungsanspruch<br />

zumindest das Recht verbleiben, dass über seinen<br />

Einsatz auf einem durch sachlich-sportliche Erwägungen<br />

geordneten Weg entschieden wird.<br />

Dies muss umso mehr gelten, wenn man die herrschende<br />

Befristungspraxis im Lizenzspielerbereich mit den<br />

außergewöhnlich hohen Einkünften, die dort zu erzielen<br />

sind, und dem besonderen Arbeitsmarkt begründet, auf<br />

dem Lizenzspieler sehr gute Chancen auf Anschlussbeschäftigungen<br />

haben. Denn die außergewöhnlich hohen<br />

Einkünfte können in aller Regel auch mithilfe zumindest<br />

gelegentlicher Einsatzprämien erzielt werden. Jedenfalls<br />

kann die Chance auf deren Erwerb nicht durch sachwidrige<br />

Gründe verhindert werden. Die Chance eines Lizenzspielers,<br />

nach Ablauf des befristeten Arbeitsvertrages ein<br />

adäquates Anschlussbeschäftigungsverhältnis als Lizenzspieler<br />

zu finden, hängt maßgeblich davon ab, inwieweit<br />

der Spieler in der Vergangenheit die Möglichkeit hatte,<br />

seine Leistungsfähigkeit nach außen hin merkbar unter<br />

Beweis zu stellen. Hierfür sind die Aussichten bei Einsätzen<br />

in der 1. Mannschaft eines Bundesligisten ungleich<br />

größer als dann, wenn ohne sachlichen Grund ausschließlich<br />

Spielteilnahmen in einer – eher mittelmäßigen –<br />

3.-Ligamannschaft ermöglicht werden.<br />

Jedenfalls unter den Rahmenbedingungen eines wirksam<br />

befristeten Lizenzspielervertrages mag sich aus einer Verletzung<br />

des Anspruchs auf eine Einsatzentscheidung aus<br />

sachlich-sportlichen Gründen möglicherweise (i.V.m. § 162<br />

Abs. 1 BGB) ein Anspruch auf Erfüllung des bedingten<br />

vertraglichen Prämienversprechens ergeben. Zumindest<br />

folgt aus dieser Vertragsverletzung ein Schadensersatzanspruch,<br />

der der Höhe nach zu schätzen (§ 287 ZPO) wäre.<br />

Er darf nicht durch überzogene Beweisanforderungen entwertet<br />

werden. Es mag sein, dass man dem Spieler hier<br />

zunächst einmal die Darlegungs- und Beweislast für das<br />

Vorliegen einer sachwidrigen Entscheidung aufzuerlegen<br />

hat. Dem dürfte aber in einem gestuften Verfahren schon<br />

dann Rechnung getragen sein, wenn der Spieler einen Geschehensablauf<br />

darlegt und beweist, der eine sachwidrige<br />

Entscheidung sehr nahelegt. Ist dies geschehen, muss der<br />

Arbeitgeber die tatsächlich existierenden Sachgründe im<br />

Einzelnen darlegen und beweisen.<br />

Im Mainzer Fall ist der Spieler nicht etwa in der 2. Mannschaft<br />

mit dem Ziel eingesetzt worden, seine vom Trainer<br />

zuvor durchgängig angenommene Leistungsfähigkeit für<br />

einen Einsatz in der 1. Bundesligamannschaft wiederzuerlangen.<br />

Ihm scheint vielmehr endgültig und unwiderruflich<br />

die Chance genommen worden sein, sich für den Erwerb<br />

von Einsatzprämien in dieser Mannschaft zu empfehlen.<br />

Sollte diese Einschätzung richtig sein, müsste nach hier<br />

vertretener Ansicht der Verein die an sportlichen Belangen<br />

orientierte Sachlichkeit der getroffenen Entscheidung darlegen<br />

und ggf. beweisen.<br />

II. Anspruch darauf, vorübergehend zu einem anderen<br />

Verein wechseln zu dürfen<br />

Aktuelle Ereignisse auf dem Transfermarkt geben Anlass,<br />

auf eine weitere mögliche Rechtsfolge im Zusammenhang<br />

mit dem modifizierten Beschäftigungsanspruch von Lizenzfußballern<br />

hinzuweisen. Auch ganz ohne sachwidrige<br />

Entscheidung über Einsatz oder Nichteinsatz eines Lizenzspielers<br />

kann diesem unter dem behandelten rechtlichen<br />

Gesichtspunkt möglicherweise ein Anspruch darauf zustehen,<br />

für einen vorübergehenden Einsatz bei einem anderen<br />

Profiverein freigegeben zu werden. Die Sportpresse spricht<br />

in solchen Fällen zwar davon, ein Spieler werde verliehen.<br />

Gemeint ist aber wohl, dass der befristete Lizenzspielervertrag<br />

mit dem bisherigen Verein auf Zeit in seinen<br />

Hauptpflichten und hinsichtlich des arbeitsvertraglichen<br />

Konkurrenzverbots suspendiert und dem Arbeitnehmer im<br />

Rahmen eines dreiseitigen Vertrages die Erlaubnis gegeben<br />

wird, mit einem anderen Verein einen auf diesen Zeitraum<br />

befristeten Lizenzspielervertrag zu schließen. An einen Anspruch<br />

des Lizenzspielers hierauf ist nach dem eben Ausgeführten<br />

jedenfalls dann zu denken, wenn der Spieler mit<br />

einem Bundesligisten einen Spielervertrag abgeschlossen<br />

hat, der einen Einsatz in der 1. Mannschaft zumindest nicht<br />

ausschließt, und – möglicherweise auch aus rein sportlichen<br />

Gründen – aus der Sicht des Vereins feststeht, dass<br />

der Spieler „unter diesem Trainer“ dort nicht mehr eingesetzt<br />

werden wird.<br />

152


JM 4 APRIL<br />

2016<br />

III. Zusammenfassung und Ausblick<br />

Veranlasst durch aktuelle Ereignisse wurde hier nur ein kleiner<br />

Ausschnitt der Fragen aus dem Bereich des berufsmäßig<br />

ausgeübten Mannschaftssports Fußball angesprochen, für<br />

die sich die Frage nach einem Sonderweg im Arbeitsrecht<br />

stellt. Die Ursachen dafür, dass sich diese Fragen stellen,<br />

sind vielfältig. Hier waren nur einige Besonderheiten anzusprechen:<br />

Ein diese Form der Berufsausübung besonders<br />

prägendes Leistungsprinzips; die außerordentlich hohe Vergütung;<br />

eine mit der Praxis des allgemeinen Arbeitsrechts<br />

im Widerspruch stehende, hier aber im ganz Wesentlichen<br />

unangefochtene arbeitsvertragliche Üblichkeit; und – am<br />

Rande – ein international vernetzter und von supranational<br />

gesetzten Regeln abhängiger Arbeitsmarkt. Manch anderes<br />

mag hinzukommen. 5<br />

Wegen der eingangs angesprochenen Befristungsproblematik<br />

ist auf die Möglichkeit hingewiesen worden, hier mit Hilfe<br />

von Tarifverträgen eine größere Flexibilität zu erreichen. 6<br />

Diese Möglichkeit würde angesichts der tarifwilligen und<br />

wohl auch tariffähigen Spielergewerkschaft Vereinigung<br />

der Vertragsfußballspieler (VdV) zumindest in Betracht kommen.<br />

Diese Spielergewerkschaft existiert seit 1987 und hat<br />

nach eigenen Angaben mehr als 1.300 Mitglieder. Bislang<br />

haben der Deutsche Fußball-Bund (DFB) und die Deutsche<br />

Fußball Liga (DFL) zwar wohl noch nicht den Schritt getan,<br />

sich als Arbeitgeberverband zu konstituieren oder eine derartige<br />

Unterorganisation auszugliedern, sodass derzeit nur<br />

Haustarifverträge mit den einzelnen Vereinen oder deren<br />

Trägerunternehmen möglich sein dürften. Die Gründung eines<br />

oder mehrerer Arbeitgeberverbände dürfte aber keine<br />

rechtlich unüberwindbaren Schwierigkeiten bereiten.<br />

Die Tariföffnungen im Befristungsrecht allein werden den<br />

Bedürfnissen im Sportarbeitsrecht vermutlich nicht genügen.<br />

Aufgrund der für Tarifverträge geltenden Angemessenheitsvermutung<br />

würden aber möglicherweise auch von<br />

Tarifvertragsparteien installierte besondere Sachgründe für<br />

eine Befristung im Profifußball einer gerichtlichen Kontrolle<br />

leichter standhalten. Dies dürfte insbesondere dann naheliegen,<br />

wenn solche Regelungen Teil eines in sich abgewogenen<br />

tariflichen Regelungspakets sind.<br />

Eine noch weitergehende rechtliche Berücksichtigung<br />

besonderer Umstände, wie es sie nur im Berufssport in<br />

Mannschaftssportarten gibt, könnte sich ergeben, wenn<br />

der Gesetzgeber die in § 101 Abs. 2 ArbGG abschließend<br />

aufgezählten Möglichkeiten für den Abschluss tarifvertraglicher<br />

Einzelschiedsvereinbarungen 7 („Bühnenkünstler,<br />

Filmschaffende oder Artisten“) entsprechend erweiterte<br />

und die Tarifvertragsparteien für den Profifußball hiervon<br />

Gebrauch machten. Eine Erweiterung „Bühnenkünstler,<br />

Filmschaffende, Artisten und Berufssportler in Mannschaftssportarten“<br />

(oder: „im Fußballsport“) hätte zwar<br />

nicht die besondere Legitimation durch die grundgesetzlich<br />

geschützte Kunstfreiheit des Art. 5 Abs. 3 GG. Eine solche<br />

Regelung würde aber für eine weitere Form höchst atypischer<br />

Berufsausübung im Hochverdienerbereich, für die in<br />

anderen Zusammenhängen immer wieder die Arbeitsverhältnisse<br />

der Bühnenkünstler vergleichend herangezogen<br />

werden, eine besondere, die Erkenntnis und Berücksichtigung<br />

spezieller Interessenlagen eröffnende Rechtsfindung<br />

durch Spezialisten ermöglichen. 8 Eine Kontrolle durch die<br />

Gerichte für Arbeitssachen wäre dadurch nicht gänzlich<br />

ausgeschlossen (§ 110 Abs. 1 ArbGG).<br />

D. Mindestlohn für Vertragsfußballer<br />

Abschließend nur ein kurzer Hinweis auf eine Rechtsfrage<br />

am anderen Ende der Skala des bezahlten Fußballs, bei den<br />

Vertragsfußballern oder „Vertragsamateuren“.<br />

Ausweislich einer Pressemitteilung des Deutschen Olympischen<br />

Sportbundes hat die Bundesministerin für Arbeit und<br />

Soziales bei einem Gespräch am 13.02.2015 „klargestellt,<br />

dass Amateur-Vertragsspieler und andere ehrenamtlich<br />

Engagierte nicht unter die Mindestlohnregelung fallen“.<br />

Bei den sog. Vertragsamateuren im Fußball handelt es sich<br />

nach der Pressemitteilung um Mitglieder in Vereinen, die<br />

eine geringe Bezahlung für ihre Spieltätigkeit erhalten, in<br />

der Regel als Minijobber. Die Ministerin führte dazu aus:<br />

„Das zeitliche und persönliche Engagement dieser Spieler<br />

zeigt eindeutig, dass nicht die finanzielle Gegenleistung,<br />

sondern die Förderung des Vereins und der Spaß am Sport<br />

im Vordergrund stehen. Für diese Vertragsspieler ist daher<br />

auch dann kein Mindestlohn zu zahlen, wenn sie mit einem<br />

Minijob ausgestattet sind“. 9<br />

5 Wegen der sich aus dem besonderen Refinanzierungsbedarf der<br />

großen Klubs ergebenden, auch arbeitsrechtlichen Problemen für<br />

das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Berufssportler vgl. Bepler in<br />

Nolte (Hrsg.), Neue Bedrohungen für die Persönlichkeitsrechte von<br />

Sportlern, S. 9.<br />

6 Heink/Hemmeter, SpuRt 2015, 192; allgemeiner hierzu schon Klose/<br />

Zimmermann, Tarifvertrag als Regelungsinstrument: Perspektive für<br />

den deutschen Sport, in Bepler (Hrsg.), Sportler, Arbeit und Statuten,<br />

Herbert Fenn zum 65. Geburtstag, 2000, S. 137.<br />

7 Für bürgerliche Streitigkeiten aus einem Arbeitsverhältnis in den<br />

bestimmten im Gesetz aufgeführten Berufsfeldern wird den Tarifvertragsparteien<br />

die Möglichkeit an die Hand gegeben, die Arbeitsgerichtsbarkeit<br />

– grds. – auszuschließen.<br />

8 Verf. dankt für eine in diese Richtung gehende mündliche Anregung<br />

Herrn stud. iur. Alexander Koch, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.<br />

9 Bei dem Gespräch ging es auch um in den Vereinen gegen geringes<br />

Entgelt tätige Übungsleiter und Platzwarte, für die wohl auch gesagt<br />

wurde, sie unterfielen dem MiLoG nicht. Hierzu soll vorliegend nicht<br />

Stellung genommen werden.<br />

153


Die Monatszeitschrift<br />

Es ist durchaus zweifelhaft, ob diese Ausführungen der<br />

Ministerin sachlich zutreffen. 10 Sie sind jedenfalls nicht<br />

rechtlich verbindlich. Sie schaffen aber zumindest zunächst<br />

für die betroffenen Vereine eine gewisse tatsächliche Beruhigung,<br />

was die Kontrolle und Durchsetzung des Gesetzes<br />

nach §§ 14 ff. MiLoG durch nachgeordnete Behörden angeht.<br />

Ein Anspruch der Vertragsspieler auf den gesetzlichen<br />

Mindestlohn wird aber durch die Aussage der Ministerin<br />

nicht ausgeschlossen.<br />

Die Ministerin hat mit ihren Ausführungen an den Begriff<br />

der Ehrenamtlichkeit nach § 22 Abs. 3 MiLoG angeknüpft,<br />

wie er im Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales<br />

niedergelegt wurde. 11 Danach ist von einer ehrenamtlichen<br />

Tätigkeit immer dann auszugehen, wenn sie nicht von der<br />

Erwartung einer adäquaten finanziellen Gegenleistung,<br />

sondern von dem Willen geprägt ist, sich für das Gemeinwohl<br />

einzusetzen. Der Ausschussbericht spricht ausdrücklich<br />

auch Amateur- und Vertragsspieler an, die nicht unter<br />

den Arbeitnehmerbegriff des Gesetzes fielen, wenn ihre ehrenamtliche<br />

sportliche Betätigung und nicht die finanzielle<br />

Gegenleistung für ihre Tätigkeit im Vordergrund stehe. Auch<br />

diese Rechtsausführungen sind nicht rechtlich verbindlich,<br />

auch wenn sie die subjektiven Vorstellungen der Abgeordneten<br />

wiedergeben, die das Gesetz letztlich verabschiedet<br />

haben. Denn das Gesetz selbst bestimmt den Begriff der<br />

ehrenamtlichen Tätigkeit nicht näher. Es gibt auch keinen<br />

Anhaltspunkt dafür, dass der für die Anwendbarkeit des<br />

MiLoG entscheidende Gegenbegriff der Tätigkeit als Arbeitnehmer<br />

durch das Gesetz im vorliegenden Zusammenhang<br />

modifiziert werden sollte.<br />

Dafür, dass Vertragsspieler, die typischerweise eine monatliche<br />

Vergütung zwischen 250 und 450 € erhalten, Arbeitnehmer<br />

im allgemeinen Sinne sind, spricht zumindest der<br />

achtseitige Mustervertrag für Vertragsspieler in unteren<br />

Spielklassen, der von den Mitgliedsverbänden des DFB im<br />

Internet zur Verfügung gestellt wird. Dort heißt es z.B.:<br />

㤠1<br />

…<br />

3. Der Spieler verpflichtet sich, an allen Spielen und Lehrgängen,<br />

am Training – sei es allgemein vorgesehen oder<br />

sei es besonders angeordnet –, an allen Spielerbesprechungen<br />

und sonstigen, der Spiel- und Wettkampfvorbereitung<br />

dienenden Veranstaltungen teilzunehmen. Dies gilt auch,<br />

wenn ein Mitwirken als Spieler oder Ersatzspieler nicht in<br />

Betracht kommt.<br />

4. Er verpflichtet sich zudem, während seiner Tätigkeit für<br />

den Verein (Spiele, Training, Reisen) auf Wunsch des Vereins<br />

ausschließlich die zur Verfügung gestellten Vertragsprodukte<br />

des Ausrüsters zu tragen. …“<br />

In dem Vertragsformular ist u.a. weiter vorgesehen, dass der<br />

Spieler dem Verein die Verwertung seiner Persönlichkeitsrechte<br />

gestattet, soweit sein Vertragsverhältnis als Spieler<br />

betroffen ist, dass der Trainer die trainingsfreie Zeit mit Rücksicht<br />

auf den Spielplan bestimmt, dass der Vertrag, der auch<br />

die Möglichkeit von zusätzlichen Einsatzprämien vorsieht,<br />

befristet abgeschlossen wird und es unter bestimmten Bedingungen<br />

ein außerordentliches Kündigungsrecht gibt.<br />

Dass für den Vertragsspieler bei der Erfüllung eines solchen<br />

Vertrages in der Regel der Spaß am Sport und die Förderung<br />

des Gemeinwohls oder zumindest der ideellen Ziele des<br />

Vereins im Vordergrund stehen, demgegenüber die finanzielle<br />

Gegenleistung für die Sportausübung keine wesentliche<br />

Rolle spielt, kann nicht angenommen werden. 12 Realistischer<br />

ist die Annahme, dass der Spieler, wenn er nur als<br />

Minijobber tätig ist, seinen Spaß am Sport auslebt und seine<br />

hier gegebenen Fähigkeiten nutzt, um seine Einkommenssituation<br />

in einem Teilzeitarbeitsverhältnis zu verbessern.<br />

Es kann in diesem Zusammenhang nur empfohlen werden,<br />

das angebotene Vertragsformular von arbeitsverhältnistypischen<br />

Pflichten und sonstigen Vertragsklauseln zu befreien,<br />

bevor man es nutzt, will man einigermaßen plausibel<br />

eine ehrenamtliche Tätigkeit – mit dem ganz vorrangigen<br />

Ziel, die für die Ausübung einer Mannschaftssportart unerlässliche<br />

Verlässlichkeit der Teilnahme sicherzustellen –<br />

vertraglich abbilden.<br />

10 A.A. z.B. Walker, SpuRt 2015, 94 ff.<br />

11 BT-Drs. 18/2010 (neu), S. 15.<br />

12 Hierzu im Einzelnen und überzeugend Walker, SpuRt 2015, 94 ff.<br />

Reichweite der Bindung des Berufungsgerichts<br />

nach Zurückverweisung<br />

LArbG Hamm, Urt. v. 22.01.2015 - 17 Sa<br />

1617/14<br />

RA Dr. Wulf Gravenhorst<br />

A. Problemstellung<br />

Wie weit reicht die Bindungswirkung gem. § 563 Abs. 2<br />

ZPO, wenn das Revisionsgericht nach Auffassung des Berufungsgerichts<br />

die entscheidungserhebliche Kündigungserklärung<br />

trotz Fehlens einer verletzten „Rechtsnorm“ i.S.v.<br />

§ 546 ZPO selbst ausgelegt und überdies versäumt hat,<br />

seine von einem anderen Senat abweichende Rechtsauffassung<br />

dem Großen Senat vorzulegen?<br />

154


JM 4 APRIL<br />

2016<br />

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung<br />

Beim Unternehmen U mit mehr als 700 Mitarbeitern fungierte<br />

P als Personalleiter mit Gesamtprokura. Arbeitnehmer<br />

A erhielt eine Kündigung, entsprechend dem bei U<br />

geltenden Vier-Augen-Prinzip unterzeichnet von P mit dem<br />

Zusatz „ppa.“ sowie vom Personalsachbearbeiter PSB mit<br />

dem Zusatz „i.V.“. Eine Vollmachtsurkunde war nicht beigefügt,<br />

weshalb A die Kündigung umgehend zurückwies<br />

und Kündigungsschutzklage erhob. Das ArbG Herne hat die<br />

Klage abgewiesen, das LArbG Hamm ihr dagegen stattgegeben.<br />

1 Das BAG hat das Berufungsurteil (= BU) aufgehoben<br />

und die Sache an das LArbG Hamm zurück verwiesen. 2<br />

Das 1. BU hatte die Kündigung dahin ausgelegt, P habe als<br />

Gesamtprokurist unterzeichnet, weshalb für den Mitunterzeichner<br />

PSB eine Vollmachtsurkunde erforderlich gewesen<br />

wäre; da A das Fehlen unverzüglich gem. § 174 BGB beanstandet<br />

hatte, sei die Kündigung rechtsunwirksam.<br />

Das BAG hat diese Auslegung nicht gelten lassen, sondern<br />

hat – ohne ein Wort dazu zu verlieren, welche „Rechtsnorm“<br />

i.S.v. § 546 ZPO das 1. BU verletzt haben könnte<br />

– seine eigene Auslegung der Kündigungserklärung an die<br />

Stelle derjenigen des Landesarbeitsgerichts gesetzt: Das<br />

Kündigungsschreiben sei so zu verstehen, dass P in seiner<br />

Eigenschaft als Personalleiter über eine Einzelvertretungsbefugnis<br />

verfüge und es daher nur noch darauf ankomme,<br />

ob die Bestellung zum Personalleiter dem A in hinreichender<br />

Weise bekannt gemacht worden sei. Da das Landesarbeitsgericht<br />

von seinem Standpunkt aus diese Frage nicht<br />

untersucht hatte, kam es zur Zurückverweisung. 3<br />

Das LArbG Hamm sah sich im 2. Durchgang an das Revisionsurteil<br />

gem. § 72 Abs. 5 ArbGG, § 563 Abs. 2 ZPO gebunden,<br />

hat eine ordnungsgemäße Bekanntmachung der<br />

Bestellung des P zum Personalleiter geprüft und nach deren<br />

Feststellung die Klage auf dieser Basis nunmehr abgewiesen.<br />

Während das 1. BU die Revision ohne nähere Begründung<br />

wegen Grundsatzbedeutung gem. § 72 Abs. 2 Nr. 1<br />

ArbGG zugelassen hatte, hat das 2. BU gemeint, Zulassungsgründe<br />

lägen nicht vor. A hat darüber offenbar resigniert<br />

und eine Nichtzulassungsbeschwerde nicht eingelegt.<br />

C. Kontext der Entscheidung<br />

Das 2. BU hat sich in der Sachentscheidung gem. § 563<br />

Abs. 2 ZPO an das Revisionsurteil gebunden gesehen. Das<br />

entspricht ständiger Rechtsprechung ebenso wie der überwiegenden<br />

Meinung der Literatur auch für solche Fälle,<br />

in denen ein Verstoß des Revisionsurteils gegen Grundrechtspositionen<br />

in Frage kommt. 4 Eine Besonderheit des<br />

vorliegenden Falles besteht allerdings darin, dass das Revisionsurteil<br />

eine grundrechtsrelevante Frage gar nicht entschieden,<br />

weil nicht einmal erkannt hat, nämlich die Divergenz<br />

zu einer Entscheidung des 8. Senats vom 22.10.2012. 5<br />

Im 1. Orientierungssatz zu diesem Urteil des 8. Senats heißt<br />

es wörtlich wie folgt:<br />

„Bei einem Kündigungsschreiben handelt es sich um eine<br />

nicht typische Willenserklärung, deren Auslegung vorrangig<br />

den Tatsachengerichten obliegt. […] Dem Revisionsgericht<br />

steht die Prüfung nur dahin offen, ob die vom Berufungsgericht<br />

vorgenommene Auslegung der Willenserklärung möglich<br />

ist, nicht aber ob sie tatsächlich richtig ist.“<br />

Die Entscheidung des 2. Senats steht hierzu in offenem Widerspruch;<br />

denn der 2. Senat hat die Frage, wer mit dem<br />

Kündigungsschreiben was und mit welchem Sinngehalt<br />

erklärt hat, insgesamt selbst entschieden, ohne auch nur<br />

ein Wort darauf zu verwenden, welche „Rechtsnorm“ das<br />

1. BU bei seiner Auslegung verletzt haben könnte. Sollte<br />

der 2. Senat sich – unausgesprochen – auf den „Erfahrungssatz“<br />

haben stützen wollen, ein Personalleiter sei per<br />

se einzelvertretungsberechtigt, so fehlt für einen solchen<br />

„Erfahrungssatz“ jeglicher empirischer Befund. So gibt es<br />

viele Unternehmen, in denen der „Personalleiter“ keinerlei<br />

Einstellungs- oder Entlassungsbefugnis hat, sondern lediglich<br />

als Leiter der Personalverwaltung fungiert. Insbesondere<br />

aber gibt es den Erfahrungssatz „Personalleiter haben<br />

Einzelvollmacht“ in solchen Unternehmen nicht, die durchgängig<br />

das Vier-Augen-Prinzip befolgen, in denen also<br />

nicht einmal der Vorsitzende der Geschäftsführung bzw. der<br />

Vorstandsvorsitzende eine Einzelvollmacht zur Einstellung<br />

oder Entlassung hat.<br />

Wie der Verfasser bereits in seiner Anmerkung 6 ausgeführt<br />

hat, ist es durchaus vorstellbar und mag in Einzelfällen<br />

auch tatsächlich vorkommen, dass in einem Unternehmen<br />

mit durchgehendem Vier-Augen-Prinzip der Personalleiter<br />

Einzelvollmacht für Einstellung und Kündigung eingeräumt<br />

erhält. Das bedarf dann aber einer entsprechend eindeutigen<br />

Bekanntmachung gerade zur ausnahmsweisen Einzelvollmacht.<br />

Davon konnte im Besprechungsfall keine Rede<br />

sein.<br />

Die Auslegung der Kündigungserklärung durch den 2. Senat<br />

steht in offenem Widerspruch zum Urteil des 8. Senats.<br />

1 LArbG Hamm, Urt. v. 16.05.2013 - 17 Sa 1708/12.<br />

2 BAG, Urt. v. 25.09.2014 - 2 AZR 567/13; hierzu krit. W. Gravenhorst,<br />

jurisPR-ArbR 49/2014 Anm. 4; vgl. auch den Parallelfall LArbG Stuttgart,<br />

Urt. v. 15.11.2012 - 18 Sa 68/12 und hierzu W. Gravenhorst,<br />

jurisPR-ArbR 44/2013 Anm. 1.<br />

3 Vgl. W. Gravenhorst, jurisPR-ArbR 49/2014 Anm. 4.<br />

4 Zöller, ZPO, 30. Aufl. 2013, § 563, Rn. 3a; Düwell/Lipke, ArbGG, 3. Aufl.<br />

2012, § 75, Rn. 10.<br />

5 BAG, Urt. v. 22.10.2012 - 8 AZR 865/08 Rn. 18-20.<br />

6 W. Gravenhorst, jurisPR-ArbR 49/2014 Anm. 4.<br />

155


Die Monatszeitschrift<br />

Hätte der 2. Senat diese Divergenz erkannt, hätte er eine<br />

Vorlage an den Großen Senat in Erwägung ziehen müssen.<br />

Da dies nicht geschehen ist, hat der 2. Senat objektiv das<br />

Recht auf den gesetzlichen Richter verletzt.<br />

Selbst wenn man auch für diesen Fall eine Bindung des<br />

Berufungsgerichts an das Revisionsurteil annehmen wollte,<br />

leidet das 2. BU gleichwohl an einem entscheidenden Mangel.<br />

Das LArbG Hamm leitet nämlich aus seiner Bindung an<br />

das Revisionsurteil ab, diese Bindung schließe zugleich die<br />

Zulassung der Revision aus (Rn. 174 a.E.). Das ist verfehlt:<br />

Die Divergenz zum übersehenen Urteil des 8. Senats ist<br />

offenkundig. Auch eine Verletzung des Grundsatzes des<br />

gesetzlichen Richters durch Nichtvorlage an den Großen<br />

Senat ist evident. Damit liegen sowohl grundsätzliche Bedeutung<br />

als auch Divergenz offen zutage. Folglich ist eine<br />

Zulassung der Revision nicht nur gerechtfertigt, sondern<br />

zwingend erforderlich.<br />

Dem lässt sich auch nicht entgegenhalten, bei einer erneut<br />

zugelassenen Revision sei das Revisionsgericht seinerseits<br />

an seine eigene vorangegangene Revisionsentscheidung<br />

gebunden. Dies entspricht zwar, auch wenn keine ausdrückliche<br />

gesetzliche Regelung hierzu besteht, der überwiegenden<br />

Meinung 7 , kann aber für den vorliegenden Sonderfall<br />

keine Geltung beanspruchen, und zwar deshalb nicht, weil<br />

das 1. Revisionsurteil die grundrechtserhebliche Frage gar<br />

nicht gesehen und deshalb auch nicht entschieden hat. An<br />

etwas, was das Revisionsgericht nicht gesehen und deshalb<br />

auch nicht „entschieden“ hat, kann es schlechterdings<br />

nicht gebunden sein. Die gegenteilige Auffassung würde<br />

das Revisionsgericht dazu zwingen, sehenden Auges Unrecht<br />

zu sprechen, wogegen der Kläger dann nur mit Gehörsrüge/Verfassungsbeschwerde<br />

vorgehen könnte. Das<br />

wäre grob unsinnig und kann deshalb nicht rechtens sein.<br />

D. Auswirkungen für die Praxis<br />

Auch soweit ein Berufungsgericht sich durch ein zurückverweisendes<br />

Revisionsurteil gem. § 563 Abs. 2 ZPO an die<br />

rechtliche Beurteilung durch das Revisionsgericht gebunden<br />

erachtet, ist es dadurch keineswegs gehindert, sondern<br />

geradezu aufgerufen, die Zulassung einer (erneuten) Revision<br />

sorgfältig zu prüfen.<br />

In seinem Schlussabsatz führt das Besprechungsurteil nach<br />

Ablehnung der Zulassung der Revision aus, der Kläger<br />

„hätte die Möglichkeit gehabt, Verfassungsbeschwerde<br />

einzulegen.“ Das Gericht hat nicht erörtert, wann diese<br />

Möglichkeit bestanden haben soll. Das 1. BU hatte die Revision<br />

ausdrücklich zugelassen. Zur Erschöpfung des Rechtsweges<br />

musste A also Revision einlegen. Nach Erlass des Revisionsurteils<br />

war die Verfassungsbeschwerde noch immer<br />

nicht möglich, da das Revisionsurteil die Sache ja in die Berufungsinstanz<br />

zurückverwiesen hatte und der Rechtsweg<br />

also noch nicht erschöpft war. Nach Erlass des 2. BU kann<br />

der Kläger immer noch nicht Verfassungsbeschwerde einlegen,<br />

da er zunächst Nichtzulassungsbeschwerde erheben<br />

müsste. Die vom Besprechungsurteil gesehene Möglichkeit<br />

einer Verfassungsbeschwerde bestand daher entgegen der<br />

Ansicht des Gerichts in Wahrheit nicht.<br />

7 Schwab/Weth, ArbGG, 4. Aufl. 2014, § 75 ArbGG, Rn. 20; Baumbach/<br />

Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 74. Aufl. 2016, § 563, Rn. 10.<br />

Sozialrecht<br />

Leistungsausschluss im SGB II für EU-Bürger<br />

– Sozialhilfeanspruch bei Aufenthaltsdauer<br />

von über sechs Monaten<br />

BSG, Urt. v. 03.12.2015 - B 4 AS 44/15 R<br />

RiSG Johannes Greiser<br />

A. Problemstellung<br />

Nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sind Ausländer, deren<br />

Aufenthaltszweck sich allein aus der Arbeitsuche ergibt,<br />

vom Bezug von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende<br />

(„Hartz IV“) ausgeschlossen. Mit Beschluss vom<br />

12.12.2013 1 legte das BSG dem EuGH die Frage vor, inwieweit<br />

sich dieser Ausschluss bei EU-Bürgern mit europarechtlichen<br />

Gleichbehandlungsgeboten vereinbaren lasse.<br />

Der EuGH antwortete mit Urteil vom 15.09.2015, dass ein<br />

Ausschluss von arbeitsuchenden EU-Bürgern im vorgelegten<br />

Fall möglich sei (Rechtssache „Alimanovic“). 2 Bereits<br />

im Jahr 2014 hatte der EuGH in einem weiteren Vorlageverfahren<br />

den Ausschluss von Leistungen gebilligt, wenn der<br />

EU-Bürger nicht nach Arbeit suche (Rechtssache „Dano“). 3<br />

Im besprochenen Urteil vom 03.12.2015 (B 4 AS 44/15 R)<br />

E. Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung<br />

1 BSG, Beschl. v. 12.12.2013 - B 4 AS 9/13 R.<br />

2 EuGH, Urt. v. 15.09.2015 - C-67/14 - „Alimanovic“; siehe dazu:<br />

Raschka, ZAR 2015, 331 ff.; Wunder, SGb 2015, 620 ff.; Kingreen,<br />

NVwZ 2015, 1503 ff.; Greiser/Kador/Krause, ZfSH/SGB 2015, 569 ff.<br />

3 EuGH, Urt. v. 11.11.2015 - C-333/13 - „Dano“; siehe dazu: Schreiber,<br />

info also 2015, 3 ff.; Janda, InfAuslR 2015, 108 ff.; Greiser/Kador/<br />

Krause, ZfSH/SGB 2015, 76 ff.<br />

156


JM 4 APRIL<br />

2016<br />

hatte das BSG nunmehr die sich nach nationalem Recht<br />

stellenden Fragen zu beantworten, insbesondere, ob ein<br />

Totalausschluss mit dem Grundrecht auf Gewährleistung<br />

eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1<br />

Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG vereinbar ist. 4 Vorgelagert<br />

war die Frage, ob der Anspruchsausschluss auch dann<br />

Anwendung findet, wenn eine Freizügigkeitsberechtigung<br />

aus der Arbeitsuche nicht mehr besteht und auch aus anderen<br />

Gründen eine solche nicht gegeben ist.<br />

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung<br />

Die Kläger des Verfahrens, eine rumänische Familie mit<br />

zwei Kindern, lebten seit 2008 in Deutschland. Streitiger<br />

Zeitraum war die Zeit von Oktober 2010 bis November<br />

2011. Der Kläger zu 1) hatte in Rumänien eine Schlosserlehre<br />

absolviert, anschließend aber ganz überwiegend in<br />

ungelernten Tätigkeiten gearbeitet. Seine Ehefrau, die Klägerin<br />

zu 2), ging in Rumänien keiner Erwerbstätigkeit nach.<br />

In Deutschland hatte der Kläger zu 1) von Oktober 2008 bis<br />

Oktober 2009 ein Gewerbe für Abbruch- und Entkernungsarbeiten<br />

angemeldet, das er jedoch nicht betrieb. Bis Ende<br />

2010 verkauften die Eheleute gemeinsam eine Obdachlosenzeitung,<br />

woraus sie einen Erlös von rund je 120 € im<br />

Monat erhielten.<br />

Einen im Oktober 2010 gestellten Antrag auf Leistungen<br />

nach dem SGB II lehnte das beklagte Jobcenter ab. Die hiergegen<br />

erhobene Klage blieb ohne Erfolg. 5 Das LSG Nordrhein-Westfalen<br />

änderte das Urteil ab und verurteilte das<br />

Jobcenter, den Klägern Leistungen zu gewähren. 6 Ein Aufenthaltsrecht<br />

zur Arbeitsuche liege bei den Klägern nicht<br />

vor. Da die Bemühungen der Kläger, eine Arbeitsstelle zu<br />

erhalten, im streitigen Zeitraum nicht erfolgversprechend<br />

gewesen seien, seien diese nicht mehr zur Arbeitsuche freizügigkeitsberechtigt.<br />

Auch ein anderes Aufenthaltsrecht<br />

liege nicht vor. Die Kläger gehörten damit nicht zum ausgeschlossenen<br />

Personenkreis. Das Landessozialgericht lud<br />

den zuständigen Sozialhilfeträger bei.<br />

Die dagegen erhobene Revision des Beklagten hatte insoweit<br />

Erfolg, als den Klägern nicht Leistungen der Grundsicherung<br />

für Arbeitsuchende nach dem SGB II, sondern<br />

der Sozialhilfe nach dem SGB XII zu erbringen seien, wofür<br />

der Beigeladene zuständig sei. Die Kläger unterfielen<br />

dem Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II.<br />

Sie verfügten zwar nicht über ein Aufenthaltsrecht allein<br />

zur Arbeitsuche i.S.d. Vorschrift, da die Feststellungen des<br />

Landessozialgerichts zur Aussichtslosigkeit der Arbeitsuche<br />

nicht zu beanstanden seien. Die Vorschrift des § 7<br />

Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sei aber – über ihren Wortlaut<br />

hinaus – auf Fälle wie den besprochenen, in denen weder<br />

eine materielle Freizügigkeitsberechtigung noch ein Aufenthaltsrecht<br />

in Deutschland bestehe, anwendbar. Der<br />

Gesetzgeber habe es planwidrig unterlassen, den Leistungsausschluss<br />

auch auf diese Fälle zu erstrecken. Die<br />

genannte Personengruppe sei nach der Entstehungsgeschichte<br />

der Ausschlussregelung, ihrem systematischen<br />

Zusammenhang und der teleologischen Bedeutung der<br />

benannten Vorschrift „erst recht“ von diesen Leistungen<br />

ausgeschlossen. Den Klägern habe keine materielle Freizügigkeitsberechtigung<br />

nach dem FreizügG/EU oder ein<br />

anderes Aufenthaltsrecht zur Seite gestanden. Sie seien<br />

insbesondere nicht als Arbeitnehmer oder Selbstständige<br />

freizügigkeitsberechtigt. Weder das Verteilen der<br />

Obdachlosenzeitschrift noch das angemeldete Gewerbe<br />

würden diesen Status herbeiführen. Das Landessozialgericht<br />

habe festgestellt, dass es sich bei dem Verteilen<br />

der Zeitschrift um eine „dem Betteln gleichgestellte Tätigkeit“<br />

gehandelt habe. Das Abbruchgewerbe sei nie<br />

ausgeübt worden. Der Leistungsausschluss sei nach den<br />

bereits zitierten Entscheidungen des EuGH in den Sachen<br />

„Dano“ und „Alimanovic“ auch europarechtskonform.<br />

Die Kläger hätten aber einen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt<br />

nach dem SGB XII (Sozialhilfe) gegen den<br />

Beigeladenen. Diese Leistungen seien nicht „gesperrt“,<br />

obwohl die Kläger zu 1) und zu 2) grds. erwerbsfähig<br />

seien. Da sie nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von den<br />

Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen seien, seien<br />

sie dem System des SGB XII, also der Sozialhilfe, zugewiesen.<br />

Zwar finde sich hier in § 23 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2<br />

SGB XII ein mit § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II vergleichbarer<br />

Ausschluss von Arbeitsuchenden, der auf die Kläger<br />

ebenfalls erst recht anzuwenden sei. Dies schließe aber<br />

lediglich einen Anspruch auf Leistungen nach § 23 Abs. 1<br />

Satz 1 SGB XII, nicht aber die Gewährung im Ermessenswege<br />

nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII aus. Nach dieser<br />

Vorschrift kann Sozialhilfe geleistet werden, soweit dies<br />

im Einzelfall gerechtfertigt ist. Die Regelung räume dem<br />

Sozialhilfeträger dem Grunde und der Höhe nach Ermessen<br />

ein. Im Falle eines „verfestigten Aufenthalts“ – über<br />

sechs Monate – sei dieses Ermessen jedoch aus Gründen<br />

der Systematik des Sozialhilferechts und der verfassungsrechtlichen<br />

Vorgaben des BVerfG in dem Sinne auf Null<br />

reduziert, dass regelmäßig zumindest Hilfe zum Lebensunterhalt<br />

in gesetzlicher Höhe zu erbringen sei. So sei es<br />

auch im vorliegenden Fall.<br />

4 Siehe dazu: BVerfG, Urt. v. 09.02.2010 - 1 BvL 1/09; BVerfG, Urt. v.<br />

18.07.2012 - 1 BvL 10/10; siehe zudem etwa: Frerichs, ZESAR 2014,<br />

279 ff.<br />

5 SG Gelsenkirchen, Urt. v. 20.11.2012 - S 31 AS 47/11.<br />

6 LSG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 10.10.2013 - L 19 AS 129/13.<br />

157


Die Monatszeitschrift<br />

C. Kontext der Entscheidung<br />

Die Entscheidung steht einerseits im Kontext europarechtlicher,<br />

andererseits verfassungsrechtlicher Vorgaben bezüglich<br />

der Gewährung existenzsichernder Leistungen.<br />

Europarechtlich kann insoweit auf die Entscheidung<br />

„Dano“ 7 zurückgegriffen werden. Hier führte der EuGH<br />

aus, dass Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten eine<br />

Gleichbehandlung mit den Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats<br />

hinsichtlich des Zugangs zu Grundsicherungsleistungen<br />

nur verlangen können, wenn ihr Aufenthalt<br />

die Voraussetzungen der sog. Unionsbürgerrichtlinie (EGRL<br />

38/04) erfülle. 8 Da Frau Dano ein Aufenthaltsrecht aus der<br />

Arbeitsuche nicht herleiten könne, mache die Richtlinie das<br />

Aufenthaltsrecht im Fall der Klägerin u.a. davon abhängig,<br />

dass sie über ausreichende eigene Existenzmittel verfüge.<br />

Wenn dem nicht so sei, müsse ein Mitgliedstaat die Möglichkeit<br />

haben, Grundsicherungsleistungen zu versagen. 9<br />

Verfassungsrechtlich steht die Entscheidung im Kontext des<br />

Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen<br />

Existenzminimums. Das BVerfG hat sich bislang zweimal<br />

ausführlich zu diesem Grundrecht geäußert, und zwar im<br />

Februar 2010 zum SGB II 10 und im Juli 2012 zum Asylbewerberleistungsgesetz<br />

(AsylbLG). 11 Danach stellt dieses<br />

Grundrecht ein Menschenrecht dar, welches gleichermaßen<br />

Deutschen und ausländischen Staatsangehörigen zusteht.<br />

Es handelt sich um einen unmittelbaren verfassungsrechtlichen<br />

Leistungsanspruch. Dieser gewährleiste das gesamte<br />

Existenzminimum, also sowohl die physische Existenz<br />

des Menschen als auch ein Mindestmaß an Teilhabe am<br />

gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben (sog.<br />

soziokulturelles Existenzminimum). 12 Dieser Anspruch<br />

kann nach der Rechtsprechung des BVerfG weder aufgrund<br />

von migrationspolitischen Erwägungen – zur Minimierung<br />

von Einreiseanreizen – verringert werden noch kann pauschal<br />

nach dem Aufenthaltstitel differenziert werden. Eine<br />

Absenkung ist nur möglich, sofern der Bedarf an existenznotwendigen<br />

Leistungen von dem anderer Bedürftiger signifikant<br />

abweicht und dies folgerichtig in einem inhaltlich<br />

transparenten Verfahren anhand des tatsächlichen Bedarfs<br />

gerade dieser Gruppe belegt werden kann. Anknüpfungspunkt<br />

für ein solches signifikantes Abweichen kann eine<br />

geringe Bleibeperspektive sein. Eine solche Beschränkung<br />

ist aber jedenfalls dann nicht mehr gerechtfertigt, wenn der<br />

tatsächliche Aufenthalt die Spanne eines Kurzaufenthalts<br />

deutlich überschritten hat. 13<br />

Einige Landessozialgerichte haben diese Vorgaben nicht<br />

auf EU-Bürger übertragen. 14 Anders als ein vollziehbar<br />

ausreisepflichtiger ehemaliger Asylbewerber, dessen Rückkehr<br />

in das Herkunftsland sowohl erhebliche tatsächliche<br />

als auch rechtliche Probleme entgegenstehen könnten, sei<br />

ein Unionsbürger nicht gehindert, sich innerhalb des sog.<br />

Schengen-Raumes frei zu bewegen. Deshalb stehe einer sofortigen<br />

Rückkehr in sein Heimatland – und einem dortigen<br />

Leistungsbezug 15 – nichts entgegen. 16 Dem ist das BSG –<br />

zumindest für einen verfestigten Aufenthalt – nicht gefolgt.<br />

D. Auswirkungen für die Praxis<br />

Für die Praxis ergibt sich aus der Entscheidung eine Verschiebung<br />

in der Zuständigkeit. Spielten die Fälle in der<br />

Vergangenheit überwiegend im SGB II und richtete sich das<br />

Begehren gegen die Jobcenter, so sind nun die kommunalen<br />

Träger als Sozialhilfeträger gefragt. Dies führt zu einer<br />

Kostenverlagerung.<br />

Dabei wird ein Ermessensspielraum grds. nur in den ersten<br />

sechs Monaten des Aufenthalts vorliegen. Unter Berücksichtigung<br />

der obigen verfassungsrechtlichen Vorgaben<br />

bedarf eine Absenkung der Leistungen einer guten Begründung,<br />

ist aber durchaus möglich. Nach der hier vertretenen<br />

Ansicht wird sich dies am ehesten rechtfertigen lassen,<br />

wenn ein Aufenthaltsrecht nicht besteht. 17 Das ist in den<br />

ersten sechs Monaten vor allem dann der Fall, wenn der<br />

EU-Bürger nicht nach Arbeit sucht. Sechs Monate hat ein<br />

EU-Bürger nämlich Zeit, Arbeit zu suchen, ohne nachweisen<br />

zu müssen, dass die Arbeitsuche Aussicht auf Erfolg hat. 18<br />

Zu denken ist bei einer Kürzung etwa an die im Regelsatz<br />

enthaltenen Ansparbeträge (Innenausstattung, Haushalts-<br />

7 EuGH, Urt. v. 11.11.2014 - C-333/13 - „Dano“.<br />

8 Siehe zur Grundlage und Entwicklung dieser Rechtsprechung:<br />

EuGH, Urt. v. 12.05.1998 - C-85/96 - „Martinez Sala“; EuGH, Urt.<br />

v. 20.09.2001 - C-184/99 - „Grzelczyk“; EuGH, Urt. v. 07.09.2004 -<br />

C-456/02 - „Trojani“.<br />

9 EuGH, Urt. v. 11.11.2014 - C-333/13 - „Dano“.<br />

10 BVerfG, Urt. v. 09.02.2010 - 1 BvL 1/09.<br />

11 BVerfG, Urt. v. 18.07.2012 - 1 BvL 10/10.<br />

12 Zum Vorstehenden: BVerfG, Urt. v. 09.02.2010 - 1 BvL 1/09 - juris<br />

Rn. 62 und Rn. 64.<br />

13 Zum Vorstehenden: BVerfG, Urt. v. 18.07.2012 - 1 BvL 10/10 - juris<br />

Rn. 95, Rn. 73 und Rn. 76.<br />

14 Etwa: LSG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 28.09.2015 - L 20 AS<br />

2161/15 B ER - juris Rn. 22 f.; LSG München, Beschl. v. 01.10.2015 -<br />

L 7 AS 627/15 B ER - juris Rn. 33; LSG Rheinland-Pfalz, Beschl. v.<br />

02.11.2015 - L 6 AS 503/15 B ER.<br />

15 Dazu etwa: LSG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 04.02.2015 - L 2 AS 14/15<br />

B ER - Rn. 40; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 20.08.2015 - L 12<br />

AS 1180/15 B ER - Rn. 27.<br />

16 Zum Zitat im Übrigen: LSG Baden-Württemberg, Beschl. v. 29.06.2015 -<br />

L 1 AS 2338/15 ER-B - juris Rn. 39.<br />

17 Siehe zu dieser Differenzierung näher: Greiser in: jurisPK-SGB XII,<br />

2. Aufl. 2014, Anhang zu § 23 SGB XII Rn. 123.1 ff.<br />

18 Vgl. dazu: EuGH, Urt. v. 26.02.1991 - C-292/89 - „Antonissen“; so<br />

auch die Umsetzung in § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU.<br />

158


JM 4 APRIL<br />

2016<br />

geräte und -gegenstände). Aber auch die für Verkehr und<br />

Nachrichtenübermittlung vorgesehenen Beträge könnten<br />

ggf. gekürzt werden. Die Positionen Freizeit, Unterhaltung,<br />

Kultur, Bildung, Beherbergungs- und Gaststättendienstleistungen<br />

können ggf. sogar weitestgehend entfallen.<br />

Ob das BSG in den ersten sechs Monaten eine Ermessensausübung<br />

für möglich hält, die zu einer Leistungsablehnung<br />

(oder lediglich der Gewährung der Rückreisekosten)<br />

kommt, hat es nicht abschließend beantwortet. Werden die<br />

Aussagen des BVerfG im AsylbLG-Urteil auf die Situation<br />

von EU-Bürgern eins zu eins übertragen, so dürfte sich eine<br />

solche Ermessenausübung wohl nur schwer begründen lassen.<br />

Das Gericht führt hier zu kurzen Aufenthalten im Bundesgebiet<br />

aus, dass sich nicht einmal eine Beschränkung<br />

auf das physische Existenzminimum rechtfertigen lasse.<br />

Die einheitlich zu verstehende menschenwürdige Existenz<br />

müsse „ab Beginn des Aufenthalts in der Bundesrepublik<br />

Deutschland realisiert werden“. 19 Dabei stellt das BVerfG<br />

nicht darauf ab, dass es Asylbewerbern häufig nicht möglich<br />

ist, in ihr Heimatland zurückzukehren. Dennoch ist aber<br />

offen, ob das BSG auch diese Aussagen des BVerfG auf<br />

EU-Bürger übertragen wird und ob das BVerfG selbst seine<br />

Rechtsprechung in dieser Strenge weiterführen wird.<br />

Da ein verfestigter Aufenthalt kein rechtmäßiger Aufenthalt<br />

sein muss, liegt eine Ermessensreduktion auch dann<br />

vor, wenn der EU-Bürger kein Aufenthaltsrecht mehr hat.<br />

In einem solchen Fall ist nach einer Verlustfeststellung (des<br />

Freizügigkeitsrechts) die Ausweisung des EU-Bürgers möglich.<br />

Davon haben die Ausländerbehörden bislang nur sehr<br />

selten Gebrauch gemacht. Ob sich dies nach dem besprochenen<br />

Urteil nun ändern wird, wird die Zukunft zeigen<br />

müssen.<br />

Aufenthalt nicht die Rückkehrmöglichkeit ins Heimatland<br />

entgegengestellt hat. Das Gericht erstreckt damit für diesen<br />

Fall die Rechtsprechung des BVerfG zum Grundrecht<br />

auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums<br />

auf EU-Bürger. Auf der anderen Seite schafft das<br />

BSG in den ersten sechs Monaten einen gewissen Spielraum,<br />

zumindest was die Höhe der Leistungen angeht. Hier<br />

wäre eine Differenzierung danach, ob ein Aufenthaltsrecht<br />

besteht, wünschenswert gewesen.<br />

Auch der Weg, dieses Ergebnis über einen Anspruch auf<br />

Sozialhilfe zu „konstruieren“, stellt sich – im Rahmen des<br />

geltenden Rechts – als sachgerecht dar. Gegen diese Lösung<br />

ist vorgebracht worden, in den Gesetzgebungsmaterialien<br />

habe der Gesetzgeber zu erkennen gegeben, dass<br />

erwerbsfähige Ausländer von Leistungen nach dem SGB<br />

XII ausgeschlossen sein sollen (§ 21 SGB XII). 20 Allerdings<br />

wäre der subjektive Wille des Gesetzgebers nur nach der<br />

sog. subjektiv-historischen Auslegung (allein) entscheidend.<br />

21 In der Rechtsprechung des BSG ist aber wohl die<br />

objektiv-historische Auslegung vorherrschend, 22 die nach<br />

dem im Gesetz objektivierten Willen des Gesetzgebers<br />

fragt. 23 Zudem handelt es sich vorliegend um eine verfassungskonforme<br />

Auslegung. Diese hat grds. Vorrang vor<br />

der subjektiv-historischen. Ist eine verfassungskonforme<br />

Auslegung möglich, so ist nach der Rechtsprechung des<br />

BVerfG nicht relevant, dass eine nicht mit der Verfassung<br />

vereinbare Auslegung eher dem subjektiven Willen des<br />

Gesetzgebers entsprochen hätte. 24 Eine Auslegung, die<br />

dazu führt, dass EU-Bürger, die unter den Ausschluss des<br />

§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II fallen, in keinem Fall Leistungen<br />

erhalten, ist mit dem Grundrecht auf Gewährleistung<br />

eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht<br />

vereinbar.<br />

E. Bewertung<br />

Die Entscheidung ist ganz überwiegend zu begrüßen. Sie<br />

stellt einen dogmatisch gut begründeten und praktisch<br />

handhabbaren Ausgleich zwischen den verfassungsrechtlichen<br />

Vorgaben auf der einen und dem einfachen Recht auf<br />

der anderen Seite dar.<br />

Insbesondere ist es positiv zu bewerten, dass das BSG dem<br />

„Ob“ einer Leistungsgewährung bei einem verfestigten<br />

19 BVerfG, Urt. v. 18.07.2012 - 1 BvL 10/10 - juris Rn. 94.<br />

20 SG Berlin, Urt. v. 11.12.2015 - S 149 AS 7191/13 unter Verweis auf:<br />

BT-Drs. 15/1514, S. 57 und BT-Drs. 16/688, S. 13.<br />

21 Vgl. dazu näher: Greiser, ZfSH/SGB 2014, 598, 602.<br />

22 Vgl. dazu: BSG, Urt. v. 30.09.2009 - B 9 V 1/08 R - juris Rn. 49 m.w.N.<br />

23 Vgl. dazu näher: Walz, ZJS 2010, 482, 485.<br />

24 Vgl. dazu etwa: BVerfG, Urt. v. 09.02.1982 - 1 BvR 845/79 - juris<br />

Rn. 87; vgl. auch: Walz, ZJS 2010, 482, 487.<br />

159


Die Monatszeitschrift<br />

Verwaltungsrecht<br />

Das „Gaffer-Phänomen“ im Straßenverkehr<br />

Dipl.-Verww. Ernst Hunsicker und Ref. iur. Sebastian Belz, LL.M.<br />

A. Einleitung<br />

Als „Gaffer“ werden gemeinhin extrem schaulustige und<br />

neugierige Verkehrsteilnehmer bezeichnet, die zur Befriedigung<br />

ihrer Sensationsgier gewillt sind, den Einsatz der<br />

Polizei und von Hilfs- und Rettungsdiensten bei der Bewältigung<br />

von Verkehrsunfällen oder bei der Beseitigung von<br />

Verkehrshindernissen zu behindern und sogar weitere Unfälle<br />

zu provozieren. Im Zeitalter der Smartphones erfährt<br />

dieses Phänomen einen weiteren Aufschwung und wird<br />

mehr und mehr zu einem Problem. Neben der Beeinträchtigung<br />

der Einsatzdienste greifen die „Gaffer“ mitunter<br />

massiv in geschützte Rechtsgüter etwaiger Unfallopfer ein.<br />

Die Möglichkeiten der modernen Technik scheinen den Drang<br />

der „Spektomanen“, das Geschehen in Foto und Film festhalten<br />

und verbreiten zu wollen, noch zu fördern. Erst im März<br />

letzten Jahres hat die Dortmunder Polizei auf der A1 zwölf<br />

Autofahrer angezeigt, die die Bergung zweier Lkw gefilmt<br />

hatten. Selbst nachdem sie von den Polizisten ermahnt worden<br />

waren, haben sie ihre „Dreharbeiten“ auf der Gegenfahrbahn<br />

damals nicht unterbrochen. Ein solches Vorgehen<br />

gegen „Gaffer“ ist jedoch die Ausnahme. In der Praxis haben<br />

die Einsatzkräfte der Polizei im Regelfall dringlichere Aufgaben<br />

zu bewältigen, als die Personalien der Schaulustigen aufzunehmen<br />

und diese ggf. strafrechtlich zu verfolgen. Oftmals<br />

fehlen schlichtweg die personellen Ressourcen am Unfallort,<br />

um sich um derartige Belange kümmern zu können.<br />

Die zunehmende Verbreitung des „Gaffer-Phänomens“,<br />

befeuert durch die stetig fortschreitende Technik, wirft die<br />

drängende Frage auf, wie dieser Entwicklung rechtlich entgegenzutreten<br />

ist. Im Folgenden soll deshalb der rechtliche<br />

Rahmen untersucht werden, welcher das Problem derzeit in<br />

den verschiedenen einschlägigen Rechtsgebieten zu erfassen<br />

vermag. Darüber hinaus werden aktuelle – sowohl faktische<br />

als auch rechtliche – Versuche und Reformvorschläge<br />

zur Eindämmung des Problems unter kritischer Würdigung<br />

dargestellt.<br />

Das Phänomen des „Gaffens“ wird auf verschiedenen<br />

rechtlichen Ebenen relevant und tangiert verschiedene<br />

Rechtsgüter. Zum einen wirft es die Frage der Pönalisierung<br />

und dementsprechend der straf- und ordnungswidrigkeitsrechtlichen<br />

Verfolgbarkeit auf. Nicht zu vernachlässigen<br />

sind dabei Gesichtspunkte des Opferschutzes, insbesondere<br />

hinsichtlich etwaig betroffener Persönlichkeitsrechte. Daneben<br />

treten gefahrenabwehrrechtliche Erwägungen und<br />

das Erfordernis, Verkehrsunfälle effektiv (feuer-)polizeilich<br />

und rettungsdienstlich begleiten zu können.<br />

I. Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht<br />

1. § 323c StGB: Unterlassene Hilfeleistung<br />

Ein möglicher Anknüpfungspunkt für die strafrechtliche<br />

Verfolgung des „Gaffer“-Problems ist die unterlassene Hilfeleistung<br />

i.S.d. § 323c StGB. Danach macht sich strafbar,<br />

wer bei Unglücksfällen nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich<br />

und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere<br />

ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung<br />

anderer wichtiger Pflichten möglich ist.<br />

Dogmatisch ist die unterlassene Hilfeleistung als echtes<br />

Unterlassungsdelikt ausgestaltet, d.h., der objektive Tatbestand<br />

wird bereits durch die Nichtvornahme der normierten<br />

und gebotenen Handlung verwirklicht. 1 Strafgrund des<br />

§ 323c StGB ist die in Notfällen gebotene mitmenschliche<br />

Solidarität zur Schadensabwehr innerhalb der Gesellschaft.<br />

2 Ausgelöst wird die sog. „Jedermannspflicht zur<br />

Hilfe“ durch einen Unglücksfall, eine gemeine Gefahr oder<br />

eine die Allgemeinheit betreffende Notlage. Die vorliegende<br />

Untersuchung beschränkt sich auf die Modalität des<br />

Unglücksfalles, wenngleich die anderen Fälle ebenfalls im<br />

Rahmen der diskutierten Problematik relevant werden können,<br />

bspw. bei Naturkatastrophen. Unter einem Unglücksfall<br />

ist jedes plötzlich eintretende Ereignis zu verstehen, das<br />

erhebliche Schaden anrichtet oder zu verursachen droht. 3<br />

Hierunter fallen auch Verkehrsunfälle. 4<br />

Hilfe muss allerdings nur geleistet werden, soweit dies<br />

erforderlich und zumutbar ist. Erforderlichkeit ist dann zu<br />

bejahen, wenn ohne die Hilfeleistung die Gefahr eines weiteren<br />

Schadens und die Möglichkeit besteht, den drohen-<br />

B. Rechtlicher Rahmen<br />

1 Vgl. BGH, Urt. v. 06.05.1960 - 2 StR 65/60 - BGHSt 14, 280, 281.<br />

2 Lackner/Kühl, StGB, 28. Aufl. 2014, § 323c Rn. 1.<br />

3 BGH, Urt. v. 12.02.1952 - 1 StR 59/50 - BGHSt 2, 150, 151; BGH,<br />

Urt. v. 10.06.1952 - 2 StR 180/52 - BGHSt 3, 65, 66; BGH, Beschl. v.<br />

10.03.1954 - GSSt 4/53 - BGHSt 6, 147, 152.<br />

4 BGH, Urt. v. 14.11.1957 - 4 StR 532/57 - BGHSt 11, 135, 136 f.<br />

160


JM 4 APRIL<br />

2016<br />

den Schaden abzuwenden. 5 Tatbestandlich ist bereits daran<br />

anzuknüpfen, dass der Schaulustige durch ein „Beiseitetreten“<br />

einen ersten Rettungskorridor zu schaffen hat. Unterlässt<br />

er die gebotene Handlung, wird durch das „Nichtbeiseitetreten“<br />

der objektive Tatbestand des § 323c StGB<br />

verwirklicht. 6 Es ist nicht auf ein Stehenbleiben entgegen<br />

polizeilicher Aufforderung abzustellen, denn § 323c StGB<br />

ist nicht als Ungehorsamsdelikt ausgestaltet, vielmehr wurde<br />

die Strafbarkeit eines Verstoßes gegen eine polizeiliche<br />

Aufforderung zur Beistandsleistung explizit durch das 3.<br />

StrÄndG 1953 aus dem StGB gestrichen. 7<br />

Sofern bereits Rettungskräfte anwesend sind, kommt eine<br />

Strafbarkeit unter dem Gesichtspunkt des „Nichtbeiseitetretens“<br />

nur für den Fall in Betracht, dass weitere Einsatzkräfte<br />

vonnöten sind. Ein etwaig untätig bleibender Schaulustiger<br />

kann sich jedenfalls nicht darauf berufen, dass weitere<br />

umstehende Personen ebenfalls hilfepflichtig sind. 8 Freilich<br />

kann darüber hinaus auch die Pflicht bestehen, aktiv zur Rettung<br />

beizutragen, und bei der Nichtvornahme der gebotenen<br />

Handlung so ein weiterer Anknüpfungspunkt zur strafrechtlichen<br />

Tatbestandsverwirklichung begründet werden.<br />

Darüber hinaus ist die Hilfe in den meisten Fällen auch zumutbar.<br />

Bewertungsmaßstäbe sind u.a. die Gefahren für<br />

den Helfenden innerhalb der Notfallsituation, aber auch<br />

seine physischen und geistigen Kräfte. 9 Jedenfalls wenn<br />

an ein „Beiseitetreten“ angeknüpft wird, stellt sich dieses<br />

wohl in den seltensten Fällen als unzumutbar dar, sodass<br />

ein objektiv tatbestandsmäßiges Handeln vorliegt.<br />

Problematischer erscheint der subjektive Tatbestand. Wird<br />

im Rahmen des subjektiven Tatbestandes auf den Vorsatz<br />

bezüglich der Nichtvornahme der gebotenen Handlung –<br />

d.h. auf das „Nichtbeiseitetreten“ – abgestellt, dürfte die<br />

Beweisbarkeit noch leicht fallen. 10 Dass jemand vorsätzlich<br />

aktiv nicht geholfen hat, wird indes oftmals schwierig zu<br />

beweisen sein.<br />

2. § 114 Abs. 3 StGB: Widerstand gegen Personen,<br />

die Vollstreckungsbeamten gleichstehen<br />

Der Tatbestand des § 114 Abs. 3 StGB greift extremere Formen<br />

des Behinderns professioneller Helfer auf. Danach wird<br />

bestraft, wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder<br />

Not hilfeleistende Einsatzdienste durch Gewalt oder durch<br />

Drohung mit Gewalt behindert oder sie dabei tätlich angreift.<br />

Behindern bedeutet in diesem Kontext, dass durch ein Verhalten<br />

des Täters eine in Gang gesetzte Hilfeleistung abgebrochen<br />

oder in ihrer Wirkung abgeschwächt wird. 11 Die Tatmittel<br />

der Gewalt oder des Drohens mit Gewalt entstammen<br />

ebenso wie der tätliche Angriff der Norm des Widerstandes<br />

gegen Vollstreckungsbeamte aus § 113 StGB. Der erst durch<br />

das 44. StrÄndG vom 01.11.2011 eingeführte – und unter<br />

dogmatischen Gesichtspunkten stark kritisierte – 12 § 114<br />

Abs. 3 StGB ist, soweit ersichtlich, in der Rechtsprechung bislang<br />

nicht in Erscheinung getreten. Er dürfte jedenfalls nicht<br />

den hier diskutierten Fall des typischen, bloß passiven Schaulustigen<br />

erfassen, sondern setzt aufgrund der angeführten<br />

Tatmittel weitergehende Handlungen voraus.<br />

3. Straßenverkehrsdelikte<br />

a. § 315b StGB: Gefährlicher Eingriff in den<br />

Straßenverkehr<br />

Gem. § 315b Abs. 1 Nr. 2 StGB wird bestraft, wer die Sicherheit<br />

des Straßenverkehrs dadurch beeinträchtigt, dass<br />

er Hindernisse bereitet und dadurch Leib oder Leben eines<br />

anderen Menschen oder fremde Sachen von bedeutendem<br />

Wert gefährdet.<br />

Hinsichtlich der Strafbarkeit von Schaulustigen gilt es zu<br />

differenzieren: Das bloße Behindern als solches dürfte für<br />

sich genommen noch kein „Hindernisbereiten“ i.S.d. § 315b<br />

Abs. 1 Nr. 2 StGB darstellen. Die mitunter willkürlichen und<br />

dadurch höchst gefährlichen Abbremsmanöver von „Gaffern“<br />

können jedoch ausreichen, um § 315b StGB als konkretes<br />

Gefährdungsdelikt tatbestandsmäßig zu erfüllen.<br />

Erfasst werden können diese jedoch grds. nur in Gestalt<br />

des sog. verkehrswidrigen Inneneingriffes. Ein solcher liegt<br />

vor, wenn ein Verkehrsteilnehmer sein Fahrzeug bewusst<br />

zweckentfremdet und so den Verkehrsvorgang zu einem<br />

Verkehrseingriff pervertiert.<br />

Neben dem konstitutiven bewusst zweckwidrigen Einsatz<br />

seines Fahrzeugs in verkehrsfeindlicher Einstellung muss<br />

ferner ein mindestens bedingter Schädigungsvorsatz des<br />

Fahrers hinzutreten. 13 Auch muss die Handlung des Täters<br />

unmittelbar auf einen Verkehrsvorgang einwirken und die<br />

Sicherheit des Straßenverkehrs beeinträchtigen. Eine solche<br />

Beeinträchtigung liegt vor, wenn der Eingriff eine Steigerung<br />

der normalen Betriebsgefahr hervorgerufen hat und der Verkehr<br />

folglich in seinem ungestörten Ablauf gefährdet wur-<br />

5 BGH, Beschl. v. 02.03.1962 - 4 StR 355/61 - BGHSt 17, 166.<br />

6 Scheffler, NJW 1995, 232, 234.<br />

7 Scheffler, NJW 1995, 232, 234 m.w.N.<br />

8 BGH, Urt. v. 22.04.1952 - 1 StR 516/51 - BGHSt 2, 296, 298; BayObLG,<br />

Urt. v. 03.11.1956 - RReg. 3 St 227/56; OLG Hamm, Urt. v. 10.10.1967 -<br />

3 Ss 1150/67.<br />

9 Vgl. zu relevanten Bewertungsmaßstäben Lackner/Kühl, StGB, 28.<br />

Aufl. 2014, § 323c Rn. 7.<br />

10 Scheffler, NJW 1995, 232, 234.<br />

11 Lackner/Kühl, StGB, 28. Aufl. 2014, § 114 Rn. 4.<br />

12 Bosch in: MünchKomm StGB, 2. Aufl. 2012, § 114 Rn. 11; Fahl, ZStw<br />

2012, 311, 320; Singelnstein/Puschke, NJW 2011, 3473, 3474 f.<br />

13 BGH, Urt. v. 20.02.2003 - 4 StR 228/02 - BGHSt 48, 233, 237; BGH,<br />

Beschl. v. 22.11.2011 - 4 StR 522/11.<br />

161


Die Monatszeitschrift<br />

de. Dabei muss sich eine abstrakte Gefahrenlage zu einer<br />

konkreten Gefährdung von Leib oder Leben eines anderen<br />

Menschen oder einer fremden Sache von bedeutendem Wert<br />

verdichtet haben. Es muss im Weiteren zu einem sog. Beinahe-Unfall<br />

gekommen sein, d.h., dass das Gefährdungsobjekt<br />

so in den Wirkbereich der schadensträchtigen Tathandlung<br />

gelangt sein muss, dass der Eintritt eines Schadens nicht<br />

mehr gezielt abgewendet werden kann und sein Ausbleiben<br />

folglich nur noch von bloßen Zufälligkeiten abhängt. 14<br />

Jedenfalls ein willkürliches Abbremsen aus hoher Geschwindigkeit,<br />

um den nachfolgenden Kraftfahrzeugführer<br />

zu einer scharfen Bremsung oder Vollbremsung zu zwingen,<br />

stellt eine missbräuchliche Nutzung des Fahrzeuges<br />

dar und kann demnach einen gefährlichen Eingriff in den<br />

Straßenverkehr i.S.d. § 315b Abs. 1 Nr. 2 StGB begründen. 15<br />

Für den Regelfall der „neugierbedingten“ verlangsamten<br />

Fahrt an Unfallstellen fehlt es jedenfalls an den subjektiven<br />

Voraussetzungen, sodass § 315b StGB nur in den seltensten<br />

Fällen im Zusammenhang mit „Gaffern“ tatbestandlich<br />

erfüllt sein dürfte.<br />

b. Verkehrsverstöße i.S.d. Straßenverkehrsordnung<br />

(StVO)<br />

Für „Gaffer“ kommen darüber hinaus straßenverkehrsrechtliche<br />

Ordnungswidrigkeiten in Betracht.<br />

Für ein Einsatzfahrzeug, das blaues Blinklicht zusammen<br />

mit dem Einsatzhorn verwendet, ist sofort freie Bahn zu<br />

schaffen. Geschieht dies nicht, löst dies eine Ordnungswidrigkeit<br />

gem. §§ 38 Abs. 1 Satz 2, 49 Abs. 3 Nr. 3 StVO<br />

aus und wird mit einem Regelsatz von 20 € bei 0 Punkten<br />

(BKat-Nr. 135) geahndet. Pönalisiert wird damit der Ungehorsam<br />

der Verkehrsteilnehmer, da die Pflicht unabhängig<br />

davon gilt, ob die Ausübung der Sonderrechte ihrerseits<br />

rechtmäßig war. 16<br />

Ferner ist es bußgeldbewehrt, beim Führen eines Fahrzeuges<br />

den Hörer eines Mobil- oder Autotelefons aufzunehmen<br />

oder zu halten (vgl. §§ 23 Abs. 1a, 49 Abs. 1 Nr. 22<br />

StVO, Regelsatz 60 €, 1 Punkt – BKat-Nr. 246/246.1). § 23a<br />

Abs. 1a StVO ist im Einklang mit dem Willen des Verordnungsgebers<br />

dahin auszulegen, dass er unabhängig davon<br />

einschlägig ist, ob die Telefonfunktion verwendet wird oder<br />

nicht; erfasst werden kann also auch das Filmen oder Fotografieren<br />

während der Fahrt, da der Schutzzweck der Norm<br />

auf eine beidhändige Erfassung des Lenkrades abzielt. 17<br />

Weiterhin hat der Fahrzeugführer bei stockendem Verkehr<br />

auf einer Autobahn oder Außerortsstraße für die Durchfahrt<br />

von Polizei- oder Hilfsfahrzeugen eine vorschriftsmäßige<br />

Gasse zu bilden. Ein etwaiges Fehlverhalten ist gem. §§ 11<br />

Abs. 2, 49 Abs. 1 Nr. 11 StVO, Regelsatz 20 €, 0 Punkte<br />

(BKat-Nr. 50) bußgeldbewehrt.<br />

Schließlich kann auch daran angeknüpft werden, dass es<br />

gem. §§ 12 Abs. 2, 18 Abs. 8 StVO verboten ist, auf Autobahnen<br />

oder Kraftfahrstraßen zu halten oder zu parken.<br />

Eine etwaige Zuwiderhandlung ist gem. § 49 Abs. 1 Nr. 18<br />

StVO bei einem Regelsatz von 30 €, 0 Punkte (BKat-Nr. 84)<br />

bzw. 70 €, 1 Punkt (BKat-Nr. 85) bußgeldbewehrt.<br />

II. Schutz der Persönlichkeitsrechte betroffener<br />

Unfallopfer<br />

1. § 201a StGB: Verletzung des höchstpersönlichen<br />

Lebensbereichs durch Bildaufnahmen<br />

Als weiteres schützenswertes Rechtsgut ist das allgemeine<br />

Persönlichkeitsrecht der Unfallopfer anzuführen. Je nach<br />

Fallgestaltung kann dieses insbesondere dann tangiert<br />

sein, wenn Unfallopfer am Ort des Geschehens fotografiert<br />

oder gefilmt werden.<br />

§ 201a StGB schützt das allgemeine Persönlichkeitsrecht.<br />

Im Rahmen der letzten Gesetzesnovellierung durch das 49.<br />

StrÄndG vom 21.01.2015 wurde § 201a StGB um Tatbestandsmodalitäten<br />

ergänzt, die nunmehr auch die strafrechtliche<br />

Verfolgung einzelner Handlungen Schaulustiger<br />

ermöglichen. Zwar war es primäre gesetzgeberische Intention,<br />

den strafrechtlichen Schutz gegen Kinderpornografie<br />

und Kindesmissbrauch an europäische Übereinkommen<br />

und Richtlinien anzupassen, gleichwohl traten vereinzelt<br />

weitere Regelungsbereiche hinzu.<br />

Konkret wird gem. § 201a Abs. 1 Nr. 2 StGB bestraft, wer<br />

eine Bildaufnahme, die die Hilflosigkeit einer anderen Person<br />

zur Schau stellt, unbefugt herstellt oder überträgt und<br />

dadurch den höchstpersönlichen Lebensbereich der abgebildeten<br />

Person verletzt.<br />

Vor dem Hintergrund, dass die moderne Technik nicht nur<br />

die Aufnahme und das Verbreiten von Bildmaterial erleichtert,<br />

sondern angesichts der Anonymität auch die Hemmschwelle<br />

der Verbreitung von Inhalten in den Telemedien<br />

sinkt, zielt die Neufassung des § 201a StGB auf eine Ausweitung<br />

des Persönlichkeitsrechtsschutzes. Die Neufassung<br />

soll auch entwürdigende, bloßstellende oder gewalttätige<br />

Situationen erfassen, im Besonderen auch außerhalb von<br />

14 Vgl. dazu näher BGH, Beschl. v. 03.11.2009 - 4 StR 373/09; BGH, Beschl.<br />

v. 10.12.2009 - 4 StR 503/09 - jeweils m.w.N.<br />

15 OLG Düsseldorf, Beschl. v. 20.04.1989 - 5 Ss 86/89 - 34/89 I, unter<br />

tateinheitlicher Verwirklichung der Nötigung des § 240 StGB; OLG<br />

Karlsruhe, Beschl. v. 11.11.1996 - 1 Ss 154/96.<br />

16 Heß in: Burmann/Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 23. Aufl.<br />

2014, § 38 Rn. 11; Scheffler, NJW 1995, 232, 233.<br />

17 Heß in: Burmann/Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 23. Aufl.<br />

2014, § 23 Rn. 22a; zu Einzelfällen der Rechtsprechung siehe Janker,<br />

NZV 2006, 69.<br />

162


JM 4 APRIL<br />

2016<br />

Wohnungen oder gegen Einblick besonders geschützter<br />

Räume. 18 Diese ursprünglich lediglich in der Gesetzesbegründung<br />

zu findende Intention wurde nach einer Anregung<br />

des zuständigen Bundestagsausschusses als eigenständige<br />

Tatbestandsmodalität eingefügt. Der ursprüngliche Entwurf<br />

sah diese Fälle lediglich insoweit erfasst, als die Bildaufnahmen<br />

geeignet seien, dem Ansehen der abgebildeten Person<br />

erheblich zu schaden. Da jedoch jedenfalls dann, wenn die<br />

abgebildete Person unverschuldet in die hilflose Lage gerät,<br />

etwa als Opfer einer Gewalttat, kein Ansehensverlust anzunehmen<br />

ist, wurde der Wortlaut als zu eng bewertet und<br />

entsprechend erweitert. 19<br />

Tatbestandlich setzt die Norm zunächst die Hilflosigkeit der<br />

betroffenen Person voraus. Der Begriff bezeichnet eine Situation,<br />

in der eine Person aufgrund ihrer körperlichen oder<br />

psychischen Konstitution oder wegen äußerer Einflüsse<br />

nicht (mehr) in der Lage ist, einen Willen zu bilden oder<br />

sich einem gebildeten Willen entsprechend zu verhalten<br />

und sich aufgrund dessen der Situation nicht entziehen<br />

kann. 20 Entscheidend ist also, dass sich die betroffene Person<br />

nicht mehr selbst helfen, nicht mehr mit eigener Kraft<br />

oder eigenen Mitteln der Situation entziehen kann. Solche<br />

Umstände liegen bei verunfallten Personen regelmäßig vor.<br />

Auf subjektiver Ebene muss die Hilflosigkeit des Opfers für<br />

den Täter darüber hinaus erkennbar sein. 21<br />

Durch die Bildaufnahme muss die abgebildete Person in<br />

ihrem höchstpersönlichen Lebensbereich i.S.d. § 201a<br />

Abs. 1 Nr. 3 StGB verletzt werden. Der Begriff knüpft an<br />

den Kerngehalt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts –<br />

die Intimsphäre – an und orientiert sich insbesondere an<br />

den Bereichen Krankheit, Tod und Sexualität. 22 Demnach<br />

lässt sich bei Unglücksfällen, in denen verunglückte, d.h.,<br />

jedenfalls verletzte Menschen gezeigt werden, ein betroffener<br />

höchstpersönlicher Lebensbereich feststellen. Aufgrund<br />

der Konturenlosigkeit des Rechtsgutes dürfte jedoch eine<br />

nicht unproblematische Abgrenzungsproblematik drohen.<br />

Insbesondere stellt sich die Frage, ob durch die Hilflosigkeit<br />

der Lage bei einem Unfall bereits die Verletzung des<br />

höchstpersönlichen Lebensbereichs des Unfallopfers indiziert<br />

wird. Entsprechend den Beispielsfällen der Gesetzesbegründung<br />

wird teilweise eine besondere Schwere der<br />

körperlichen Beeinträchtigung gefordert, andererseits soll<br />

auch die „betrunkene Person auf dem Heimweg“ erfasst<br />

sein. Konkret gesprochen stellt sich also die Frage: Genügt<br />

es, wenn ein Unfallopfer bspw. „nur“ eingeklemmt ist oder<br />

muss dieses darüber hinaus verletzt sein, und wenn ja,<br />

sichtbar, d.h. blutend und bewusstlos? Aufgrund der Weite<br />

der Begrifflichkeiten ist die Norm unter dem Aspekt der<br />

mangelnden Tatbestandsbestimmtheit dem – nicht offensichtlich<br />

unbegründeten – Vorwurf der Verfassungswidrigkeit<br />

ausgesetzt. 23 Strafprozessual erwähnenswert ist, dass<br />

gem. § 201a Abs. 5 StGB die Einziehung der Tatwerkzeuge<br />

gem. §§ 74 ff. StGB möglich ist.<br />

2. § 33 KunstUrhG<br />

Neben die Vorschrift des (neuen) § 201a StGB tritt in Gestalt<br />

des § 33 Abs. 1 KunstUrhG die einzig weitere Strafvorschrift,<br />

die eine Verletzung des Schutzgutes des allgemeinen<br />

Persönlichkeitsrechts pönalisiert. 24 Gem. § 22<br />

Satz 1 KunstUrhG dürfen Bildnisse nur mit Einwilligung des<br />

Abgebildeten verbreitet oder öffentlich zur Schau gestellt<br />

werden. § 33 Abs. 1 KunstUrhG enthält eine Strafvorschrift<br />

für den Fall, dass ein Bildnis entgegen den §§ 22, 23 Kunst-<br />

UrhG verbreitet oder öffentlich zur Schau gestellt wird.<br />

Tatbestandlich ist der Anwendungsbereich auf Bildnisse<br />

beschränkt. Erfasst wird also nicht jedes Foto; maßgeblich<br />

ist vielmehr die Erkennbarkeit der konkreten Person. 25<br />

Als absolutes Antragsdelikt wird die Tat gem. § 33 Abs. 2<br />

KunstUrhG nur auf Antrag verfolgt. Ferner ist die Norm ein<br />

Privatklagedelikt gem. § 374 Abs. 1 Nr. 8 StPO, sodass von<br />

der Staatsanwaltschaft nur dann Klage erhoben wird, wenn<br />

dies im öffentlichen Interesse liegt (vgl. § 376 StPO).<br />

Ein öffentliches Interesse wird jedoch nur dann vorliegen,<br />

wenn der Rechtsfrieden über den Lebenskreis des Verletzten<br />

hinaus gestört ist und die Strafverfolgung ein gegenwärtiges<br />

Anliegen der Allgemeinheit darstellt (vgl. Nr. 86<br />

Abs. 2 RiStBV). Darüber hinaus wird es in der Regel zu<br />

bejahen sein, wenn eine nicht nur geringfügige Schutzrechtsverletzung<br />

vorliegt (vgl. Nr. 261 RiStBV). Eine bloße<br />

Privatklage ist hingegen ausgeschlossen, wenn ein Privatklagedelikt<br />

mit einem Offizialdelikt im Rahmen einer Tat im<br />

prozessualen Sinn zusammentrifft.<br />

Der Umstand der Ausgestaltung der Norm als Privatklagedelikt<br />

sowie ihr eingeschränkter Anwendungsbereich<br />

lassen die Norm in der Praxis ein Schattendasein fristen.<br />

Die Betroffenen streben stattdessen die Durchsetzung ihrer<br />

zivilrechtlichen Ansprüche aus § 823 BGB i.V.m. Art. 1 und<br />

2 GG bzw. §§ 22, 23 KUG oder § 201a StGB sowie § 1004<br />

BGB an. 26 Der Zivilrechtsweg beinhaltet jedoch ein mitun-<br />

18 BT-Drs. 18/2601, S. 36.<br />

19 BT-Drs. 18/3202 (neu), S. 28.<br />

20 Busch, NJW 2015, 977, 978.<br />

21 Seidl/Wiedmer, jurisPR-ITR 17/2015, Anm. 2.<br />

22 Flechsig, ZUM 2004, 605, 609.<br />

23 Heuchemer in: BeckOK StGB, § 201a Rn. 1 m.w.N.<br />

24 Zu der streitigen Frage der Tateinheit oder -mehrheit zwischen § 201a<br />

StGB und § 33 KunstUrhG siehe Heuchemer in: BeckOK StGB, § 201a<br />

Rn. 26 bzw. Lackner/Kühl, StGB, 28. Aufl. 2014, § 201a Rn. 11 m.w.N.<br />

25 Ernst, NJW 2004, 1277, 1278.<br />

26 Kaiser in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 202. EL, § 33<br />

KunstUrhG Rn. 3 m.w.N. zu bereits ergangener Rechtsprechung.<br />

163


Die Monatszeitschrift<br />

ter nicht unerhebliches Kostenrisiko und unterliegt den zivilprozessualen<br />

Beibringungs- und Beweisschwierigkeiten.<br />

3. Bewertung<br />

Der Schutz des Persönlichkeitsrechts in Gestalt des Rechts<br />

am eigenen Bild hat durch die Neuregelung des § 201a StGB<br />

eine deutliche Stärkung erfahren. Anders als in den Fällen,<br />

in denen bisher nur eine Strafbarkeit gem. den § 33 Kunst-<br />

UrhG i.V.m. §§ 22, 23 KunstUrhG bestand, beginnt die Strafbarkeit<br />

jetzt in vielen Fällen nicht erst bei der Verbreitung<br />

oder den öffentlichen Zur-Schau-Stellen, sondern bereits bei<br />

der Herstellung der Bilder oder zumindest wenn die Bilder<br />

einem Dritten zugänglich gemacht werden. Auch wurde ein<br />

weiteres Hemmnis der Strafverfolgung – zumindest teilweise<br />

– abgebaut: Bei § 201a StGB handelt es sich gem. § 205<br />

Abs. 1 Satz 2 StGB um ein relatives Antragsdelikt. Ob dies in<br />

der Praxis allerdings zu einer verstärkten Strafverfolgung von<br />

Amts wegen führen wird, bleibt abzuwarten. Wünschenswert<br />

wäre diese Entwicklung jedenfalls unter dem Gesichtspunkt<br />

der Schutzbedürftigkeit der betroffenen Rechtsgüter. Oftmals<br />

erfasst § 201a StGB Fälle, in denen sich der Betroffene typischerweise<br />

für die Existenz und Verbreitung der Bilder derart<br />

schämt, dass er von sich aus auf behördliche Hilfe verzichtet.<br />

27 Dieser Umstand ist indes ein zweischneidiges Schwert,<br />

denn es gilt, ebenso zu berücksichtigen, dass der Einzelne<br />

selbst entscheiden können sollte, ob er eine strafrechtliche<br />

Verfolgung wünscht oder davon absehen möchte. Diese Bedenken<br />

dürften jedoch für die im Raum stehenden „Opfer“<br />

von Schaulustigen im Zusammenhang mit Unfällen regelmäßig<br />

von untergeordneter Natur bleiben.<br />

III. Ordnungsrechtlicher Rechtsrahmen<br />

Neben dem Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht sowie<br />

dem Zivilrecht beinhaltet auch das Gefahrenabwehrrecht<br />

Mittel, um störendes „Gaffen“ einzudämmen.<br />

1. Platzverweisungen<br />

Nach den Gefahrenabwehrgesetzen der Bundesländer<br />

kann eine (präventive) Platzverweisung gegen eine Person<br />

angeordnet werden, die den Einsatz der Feuerwehr<br />

oder von Hilfs- und Rettungsdiensten behindert. Durch<br />

diesen wird einer Person aufgegeben, einen bestimmten<br />

Ort zu verlassen oder nicht zu betreten. 28 Als bloße Anordnungsbefugnisse<br />

beinhalten sie allerdings keine Durchsetzungsmaßnahmen,<br />

sondern sind nach den allgemeinen<br />

vollstreckungsrechtlichen Grundlagen zwangsweise durchsetzbar.<br />

29 Im Regelfall dürften jedoch mündliche Verfügungen<br />

ausreichen, um die Gefahrenlage zu bereinigen.<br />

Wird die Polizei hingegen strafverfolgend (repressiv) tätig,<br />

ergibt sich die Rechtsgrundlage aus § 164 StPO. Danach<br />

ist neben der Festnahme von Störern die Platzverweisung<br />

zur „ungestörten Strafverfolgung“ als milderes Mittel anwendbar.<br />

30<br />

Die Nichtbeachtung einer Platzverweisung oder einer vergleichbaren<br />

Eingriffsmaßnahme ist grds. weder straf- noch<br />

bußgeldbewehrt (anders die Brandschutz- und Katastrophenschutzgesetze,<br />

dazu sogleich).<br />

2. Brand- und Katastrophenschutzgesetze<br />

In allen Bundesländern existieren ferner Brand- bzw. Katastrophenschutzgesetze,<br />

die die Problematik behindernder<br />

Personen an Brandstellen bzw. Einsatzorten von Katastrophen<br />

erfassen und mit der Erhebung eines Bußgeldes bei<br />

Zuwiderhandlungen ahnden. Eine detaillierte Darstellung<br />

der einzelnen Ausgestaltungen der Bundesländer ist an<br />

dieser Stelle nicht möglich, gleichwohl soll der Regelungsgehalt<br />

der sich ähnelnden Normen zumindest exemplarisch<br />

umrissen werden.<br />

Den Einsatz der Feuerwehren regeln in allen Bundesländern<br />

die Brandschutzgesetze (oder ähnlich lautende Gesetze).<br />

Als Beispiel sei § 24 Satz 1 NBrandSchG angeführt, wonach<br />

die Einsatzleiterin oder der Einsatzleiter die für die<br />

Durchführung eines Einsatzes erforderlichen Maßnahmen<br />

trifft. Sie oder er kann insbesondere Sicherungsmaßnahmen<br />

treffen, die erforderlich sind, damit die Feuerwehr am<br />

Einsatzort ungehindert tätig sein kann (§ 24 Satz 2 Nr. 1<br />

NBrandSchG). Nach Art. 25 BayFwG kann die Feuerwehr<br />

das Betreten der Schadensstelle und ihrer Umgebung verbieten<br />

oder Personen von dort verweisen und die Schadensstelle<br />

und den Einsatzraum der Feuerwehr sperren,<br />

wenn sonst der Einsatz behindert würde.<br />

Daran werden unter Umständen auch Bußgelder geknüpft.<br />

So sieht z.B. § 37 Abs. 1 Nr. 3 NBrandSchG vor, dass jemand,<br />

der vorsätzlich oder fahrlässig einer vollziehbaren Anordnung<br />

nach u.a. § 24 Satz 2 Nr. 1 NBrandSchG nicht nachkommt<br />

oder zuwiderhandelt, eine Ordnungswidrigkeit begeht.<br />

Einige Katastrophenschutzgesetze der Länder sehen Platzverweisungen<br />

bzw. Räumungen oder vergleichbare Maßnahmen<br />

gegenüber Anwesenden am Einsatzort vor; teilweise<br />

ist die Nichtbefolgung bußgeldbewehrt. 31 So kann<br />

27 Seidl/Wiedmer, jurisPR-ITR 17/2015, Anm. 2.<br />

28 Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht, 7. Aufl. 2012,<br />

§ 16 Rn. 1.<br />

29 Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht, 7. Aufl. 2012,<br />

§ 16 Rn. 31.<br />

30 Griesbaum in: Karlsruher Kommentar StPO, 7. Aufl. 2013, § 164 Rn. 7<br />

m.w.N.<br />

31 Vgl. bspw. Art. 10 BayKSG; §§ 29, 35 Abs. 1 Nr. 3 LKatSGBW; §§ 29, 37<br />

Abs. 1 Nr. 3 LBKG RhPf; §§ 22 Abs. 3, 40 Abs. 5, 50 Abs. 1 Nr. 3, 5 ThBKG.<br />

164


JM 4 APRIL<br />

2016<br />

bspw. nach Art. 10 BayKSG die Katastrophenschutzbehörde<br />

das Betreten des Katastrophengebiets verbieten, Personen<br />

von dort verweisen und das Katastrophengebiet sperren<br />

und räumen, wenn dies zur Katastrophenabwehr erforderlich<br />

ist. Mit Geldbuße kann gem. Art. 16 Nr. 2 BayKSG –<br />

entsprechend einer landesrechtlich gängigen Regelungsart<br />

– belegt werden, wer vorsätzlich oder fahrlässig einer vollziehbaren<br />

Anordnung nach Art. 10 BayKSG zuwiderhandelt.<br />

Auch in diesem Regelungszusammenhang fehlt es demnach<br />

nicht an einer rechtlichen Erfassung der Problematik<br />

von Schaulustigen. Der Anwendungsbereich katastrophenschutzrechtlicher<br />

Normen ist jedoch auf gravierende Gefahren<br />

beschränkt, 32 sodass die aufgeführten rechtlichen<br />

Steuerungsmittel überhaupt bloß in seltenen Fällen tatbestandlich<br />

einschlägig sein dürften.<br />

C. Reformbedarf<br />

I. Reformbedarf des materiellen Rechts<br />

Der skizzierte Rechtsrahmen macht eines deutlich: Es existiert<br />

ein bunter Strauß an Rechtsnormen, die aus verschiedenen<br />

Perspektiven des Rechts jeweils unterschiedliche Rechtsgüter<br />

schützen und die sowohl ein Einschreiten gegen Schaulustige<br />

im Sinne der Gefahrenabwehr als auch die straf- bzw.<br />

ordnungswidrigkeitenrechtliche Verfolgung umfassen.<br />

Das Hauptproblem der dargestellten Rechtslage und zugleich<br />

ein starkes Argument gegen einen Reformbedarf ist<br />

die mangelnde Durchsetzung der Normen. Insbesondere<br />

den Einsatzkräften kommen in Unglücksfällen dringlichere<br />

Aufgaben zu, als die straf- und ordnungswidrigkeitenrechtliche<br />

Verfolgung der „Gaffer“ zu betreiben. Zudem fehlt es<br />

oft an Zeit und Personal, die Normverstöße zu verfolgen<br />

und Beweise zu sichern. Demnach handelt es sich stärker<br />

um ein Vollzugsdefizit als um eine Rechtslücke.<br />

Gleichwohl kündigte Niedersachsens Innenminister Boris<br />

Pistorius (SPD) jüngst an, einen Gesetzentwurf vorlegen<br />

zu wollen, der das Fotografieren und Filmen von Unfallopfern<br />

verbiete. Er führt an, dass außer der Presse niemand<br />

das Recht habe, Aufnahmen von Opfern zu machen.<br />

Zwecks eines hinreichenden Opferschutzes müsse ein solches<br />

Verhalten strafrechtlich bewehrt sein. Derzeit werde<br />

favorisiert, entsprechende Paragrafen im KunstUhrG anzupassen.<br />

Vor dem Hintergrund der jüngsten Reform des § 201a<br />

StGB erscheint der Mehrwert einer bloßen Reform des<br />

KunstUhrG fraglich. Die spärlichen Informationen über<br />

das niedersächsische Reformvorhaben deuten darauf hin,<br />

dass die Persönlichkeitsrechte etwaiger Unfallopfer in den<br />

Vordergrund rücken sollen. Eben dieses Rechtsgut hat jedoch<br />

unlängst eine Aufwertung durch die Änderung des<br />

§ 201a StGB erfahren. Sofern die Gerichte der hier vorgenommenen<br />

– und vom Gesetzgeber intendierten – Auslegung<br />

folgen, besteht zumindest ein Schutz in besonderen<br />

Unfallsituationen. Zugegebenermaßen ist die Frage offen,<br />

welche konkreten Anforderungen an die Tatbestandsmerkmale<br />

im Einzelnen zu stellen sind. Eine restriktive Auslegung<br />

der Norm könnte folglich zu Schutzlücken hinsichtlich<br />

der Persönlichkeitsrechte verunfallter Personen führen, sodass<br />

allenfalls vor diesem Hintergrund eine Ausweitung auf<br />

jedwede Unfallsituation sachdienlich wäre. Darüber hinaus<br />

käme als strenge Form ein generelles Fotografie- und Filmverbot<br />

– unabhängig etwaig tangierter Persönlichkeitsrechte<br />

Betroffener – in Betracht.<br />

II. Maßnahmen und Notwendigkeiten zur Bewältigung<br />

des Phänomens<br />

Der aktuelle und auch ein etwa reformierter Rechtsrahmen<br />

könnten nicht das dringlichere Problem des Mangels<br />

der faktischen Rechtsverfolgung bewältigen. Um effektiv<br />

Rechtsverstöße ahnden zu können, müssten die Einsatzkräfte<br />

nicht bloß für eine etwaige Strafverfolgung stärker<br />

sensibilisiert werden, sondern personell derart aufgestellt<br />

sein, dass eine höhere Anzahl von Einsatzkräften zu Unglücksfällen<br />

abgestellt werden kann. Schlussendlich ist<br />

dies der internen Organisation zuzurechnen, die jedoch –<br />

wie häufig – auf haushaltspolitischen Entscheidungen<br />

beruht.<br />

Eine Möglichkeit rein praktischer Natur, um das Problem<br />

einzudämmen, ist ein derzeitiger Modellversuch in Nordrhein-Westfalen.<br />

Um den „Gaffern“ die Sicht zu versperren,<br />

werden Sichtschutzwände entlang von Unfallstellen<br />

erprobt. Bislang fällt das Fazit positiv aus: Insbesondere<br />

seien durch sie wirksam Staus vermieden sowie Unfallopfer<br />

und Rettungskräfte wirkungsvoll vor „Gaffern“ geschützt<br />

worden. 33<br />

Zweifelsohne kann dies alleine nicht zielführend sein,<br />

gleichwohl ist ihre ergänzende Beiziehung sinnvoll und<br />

weist vor allem auf das grundlegende Problem hin: die<br />

Sensationsgier des Menschen. Dort, wo das Ereignis abgeschirmt<br />

ist, lässt das Interesse nach. Dringliches Ziel<br />

muss demnach die gesamtgesellschaftliche, öffentliche<br />

Aufklärung und Sensibilisierung sein. Sinnvoll erscheinen<br />

insbesondere Präventionsmaßnahmen unter Einbeziehung<br />

aller verfügbaren Medien, aber auch von Fahrschulen und<br />

Automobilklubs.<br />

32 Vgl. Art. 1 Abs. 2 BayKSG.<br />

33 Gemeinsame Pressemitteilung von Straßen.NRW und dem NRW-<br />

Verkehrsministerium vom 07.09.2015.<br />

165


Die Monatszeitschrift<br />

Subjektiver Rechtsschutz, Einwendungspräklusion<br />

und Bestandskraft – klare Worte<br />

vom EuGH?<br />

EuGH, Urt. v. 15.10.2015 - C-137/14<br />

RiVG Dr. Thomas Jacob<br />

A. Problemstellung<br />

Auf wenigen Feldern hat der EUGH in den vergangenen Jahren<br />

so weitreichende Entscheidungen gefällt wie auf dem<br />

Gebiet des europäischen Umwelt- und Naturschutzrechts.<br />

Erscheinen die hierbei getroffenen Aussagen auf den ersten<br />

Blick zumeist wie „fachchinesisch“, so ist doch der „legal<br />

impact“ dieser Rechtssätze nicht zu unterschätzen. Noch<br />

mehr: Hier hat sich der EuGH derart umfassend zu für den<br />

deutschen Verwaltungsrechtsschutz zentralen Gesichtspunkten<br />

geäußert, dass die öffentlich-rechtliche Fachöffentlichkeit<br />

geradezu gebannt nach Luxemburg schaut, wenn von dort<br />

wieder einmal ein Spruch zur Umsetzung und Interpretation<br />

europäischen Umweltrechts zu erwarten ist.<br />

Unabhängig von der juristischen Seite sind die realen<br />

Auswirkungen der EuGH-Urteile zum Umwelt- und Naturschutzrecht<br />

ernst zu nehmen und in ihrer Breitenwirkung<br />

zu würdigen. Die besonders zentralen Fragen des<br />

Flora-Fauna-Habitat-Rechts (FFH-Richtlinie) und der – hier<br />

interessierenden – Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP-<br />

Richtlinie) sind Teil beinahe jeder größeren Planungs- und<br />

Vorhabenzulassungsentscheidung. Dies kann der Ausbau<br />

von Wasser- und Fernstraßen, Energieleitungen oder anderen<br />

großen Infrastrukturvorhaben sein. In all diesen Verfahren<br />

ist Rechtsprechung ohne den Einfluss des Unionsrechts<br />

undenkbar geworden. Und ausgehend hiervon bricht die<br />

Judikatur des EuGH immer wieder und drastisch auch in<br />

das deutsche Prozessrecht ein.<br />

Mit diesem Urteil endet das durch die Kommission gegen<br />

Deutschland geführte Vertragsverletzungsverfahren<br />

Nr. 2007/4267 mit weitreichenden Folgen für das Prozessrecht<br />

in umwelt- und planungsrechtlichen Streitigkeiten.<br />

Um die Reichweite der Entscheidung des Gerichtshofs angemessen<br />

zu erfassen, ist es sinnvoll, vorab einen Blick auf<br />

das in der VwGO angelegte subjektive Rechtsschutzsystem<br />

zu werfen: Nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann der Kläger<br />

nicht allein gestützt auf die Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsakts<br />

dessen Aufhebung verlangen. Zusätzlich ist<br />

erforderlich, dass er selbst durch die Verwaltungsentscheidung<br />

in eigenen Rechten verletzt wird. Dies muss er bereits<br />

auf der Ebene der Zulässigkeit geltend machen (§ 42 Abs. 2<br />

VwGO). Ferner kann der Kläger im Umwelt- und Planungsrecht<br />

aufgrund gesetzlicher Anordnung 1 nur mit dem sachlichen<br />

Vortrag Erfolg haben, den er bereits im Verwaltungsverfahren<br />

innerhalb einer bestimmten Einwendungsfrist<br />

vorgebracht hat. Versäumt er dies, tritt die sog. materielle<br />

Präklusion ein und das Gericht kann seinen Vortrag insoweit<br />

unberücksichtigt lassen (vgl. z.B. § 73 Abs. 4 Satz 3<br />

VwVfG). Schließlich gilt im bestehenden Rechtsschutzsystem,<br />

dass sich der Kläger nur gegen die Verwaltungsentscheidungen<br />

wenden kann, die noch nicht bestandskräftig<br />

und damit unangreifbar geworden sind.<br />

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung<br />

Im Rahmen der hier gegen die Bundesrepublik wegen fehlerhafter<br />

Umsetzung von Art. 10a der Richtlinie 85/337/<br />

EWG vom 27.06.1985 2 (heute Art. 11 der Richtlinie<br />

2011/92/EU vom 13.12.2011 3 , im Folgenden: UVP-RL) und<br />

Art. 15a der Richtlinie 96/61/EG vom 24.09.1996 4 (heute<br />

Art. 25 der Richtlinie 2010/75/EU vom 24.11.2010 5 ) in<br />

deutsches Recht, insbesondere durch das Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz<br />

(UmwRG), erhobenen Beschwerde brachte<br />

die Kommission mehrere Rügen vor.<br />

Zunächst befindet der EuGH über das deutsche Rechtsschutzsystem,<br />

das Klagemöglichkeiten nur bei der Verletzung<br />

in eigenen Rechten vorsieht. Bezugnehmend auf seine<br />

bisherige Rechtsprechung 6 stellt der Gerichtshof unter Bestätigung<br />

von § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO fest, dass auch im<br />

Anwendungsbereich der UVP-RL ein privater Einzelner mit<br />

seinem Rechtsbehelf nur dann Erfolg haben kann, wenn<br />

er durch die Verwaltungsentscheidung in seinen eigenen<br />

Rechten verletzt wird (Rn. 34). Da sich die Rüge nur auf<br />

Private bezog, nicht aber auf anerkannte Umweltverbände<br />

(Rn. 32), weist sie der EuGH zurück. Für Umweltverbände<br />

hingegen dürfe die Verletzung subjektiv-öffentlicher Rechte<br />

nicht verlangt werden.<br />

Mit der zweiten Rüge dringt die Kommission durch. Der<br />

Gerichtshof hält § 4 Abs. 1 UmwRG für unionsrechtswidrig.<br />

Art. 11 UVP-RL verlange, dass die verfahrensrechtliche und<br />

materiell-rechtliche Rechtmäßigkeit einer Entscheidung<br />

angefochten werden könne, ohne dass die Klagegründe<br />

inhaltlich beschränkt werden dürften (Rn. 47). 7 § 4 Abs. 1<br />

UmwRG sanktioniere insoweit aber nur den Fall, dass eine<br />

erforderliche Umweltverträglichkeitsprüfung gänzlich fehle.<br />

Sei die Prüfung zwar durchgeführt worden, aber ledig-<br />

1 Überblick bei Jacob in: Gärditz, VwGO, 2013, § 87b Rn. 6.<br />

2 ABl. L 175 vom 05.07.1985, S. 40.<br />

3 ABl. L 26 vom 28.01.2012, S. 1.<br />

4 ABl. L 257 vom 10.10.1996, S. 26.<br />

5 ABl. L 334 vom 17.12.2010, S. 17.<br />

6 EuGH, Urt. v. 12.05.2011 - C-115/09 Rn. 45 - „Trianel“.<br />

7 Vgl. schon EuGH, Urt. v. 12.05.2011 - C-115/09 Rn. 37 - „Trianel“;<br />

EuGH, Urt. v. 07.11.2013 - C-72/12 Rn. 36 - „Gemeinde Altrip“.<br />

166


JM 4 APRIL<br />

2016<br />

lich fehlerhaft, sei sie nach dem UmwRG nicht angreifbar<br />

(Rn. 50). Hierin liegt für den EuGH der erste Richtlinienverstoß.<br />

In einem zweiten Schritt hält der EuGH im Kontext der<br />

UVP-RL auch die verwaltungsverfahrensrechtliche Regelung<br />

des § 46 VwVfG für unionsrechtswidrig. Er hält es für<br />

problematisch, dass diese Vorschrift verlange, dass sich ein<br />

Verfahrensfehler (wie eben die genannte fehlerhafte UVP-<br />

Prüfung) auf das Ergebnis der Entscheidung ausgewirkt<br />

haben müsse, damit die Entscheidung insgesamt rechtswidrig<br />

werde (Rn. 55). Insbesondere verbietet der EuGH,<br />

dass die Beweislast für diesen Kausalzusammenhang von<br />

Verfahrensfehler und Entscheidungsergebnis dem Kläger<br />

aufgebürdet wird (Rn. 59). Nur, wenn das Gericht selbst<br />

eine solche Feststellung der fehlenden Auswirkung eines<br />

Verfahrensfehlers treffen könne, könnte § 46 VwVfG mit<br />

Unionsrecht vereinbar sein (Rn. 60).<br />

Besonders weitgehend ist die Würdigung der dritten Rüge.<br />

Der EuGH bringt hier für UVP-pflichtige Vorhaben die in<br />

Deutschland gesetzlich vorgesehene materielle Präklusion<br />

mit knappen Worten zu Fall. Wie ausgeführt, lässt der EuGH<br />

für Art. 11 UVP-RL keine Einschränkung der Klagegründe<br />

zu (Rn. 77). Damit seien dann auch Regelungen wie die<br />

der Einwendungspräklusion unvereinbar (z.B. § 2 Abs. 3<br />

UmwRG, § 73 Abs. 4 VwVfG), die die gerichtliche Kontrolle<br />

auf den Vortrag beschränken, den der Kläger bereits im<br />

Verwaltungsverfahren angebracht hat (Rn. 78). Die von<br />

der Bundesrepublik vorgebrachten Argumente für dieses<br />

im Planungs- und Zulassungsrecht bedeutende Instrument<br />

wischt der EuGH beiseite und gestattet lediglich, dass der<br />

Gesetzgeber „missbräuchliches oder unredliches Vorbringen“<br />

im Gerichtsverfahren ausschließen könne (Rn. 81).<br />

Auch den letzten drei Rügen gibt der EuGH statt. Die Rügen<br />

zielen auf die in § 5 UmwRG angesiedelten Übergangsfristen<br />

und -regelungen, mit denen der Gesetzgeber frühere<br />

Defizite in der Umsetzung der UVP-RL beseitigen wollte.<br />

Der Gerichtshof verwirft dabei die geltende Fassung des<br />

UmwRG, mit der die Bundesrepublik zum Zeitpunkt des<br />

Inkrafttretens des Gesetzes am 15.12.2006 bestands- wie<br />

rechtskräftige Entscheidungen vom Anwendungsbereich<br />

des Gesetzes ausnehmen wollte (Rn. 97). Da die Bundesrepublik<br />

die UVP-RL unzureichend umgesetzt habe, indem<br />

sie die Klagebefugnis von Umweltverbänden und den gerichtlichen<br />

Prüfungsmaßstab unzulässigerweise beschränkt<br />

habe, könne sie dem nun nicht die Bestands- und Rechtskraft<br />

der Entscheidungen entgegenhalten (Rn. 98).<br />

Das Urteil steht in einer Reihe mit weiteren prominenten<br />

Entscheidungen des Gerichtshofs auf dem Gebiet der<br />

Umweltverbandsklage; die Diskussion über noch weitergehende<br />

Folgerungen – nicht zuletzt auf Grundlage der<br />

Aarhus-Konvention und dem dort geforderten „weiten<br />

Zugang“ zu den Gerichten in Umweltangelegenheiten<br />

– dauert unvermindert an. 8 Nicht überraschend ist, dass<br />

im Anwendungsbereich der UVP-RL die Klagerechte von<br />

Individualklägern weiterhin an § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO<br />

gemessen werden dürfen. Nichts Neues gibt es auch zur<br />

Rügefähigkeit von Verfahrensfehlern (§ 4 Abs. 1 UmwRG<br />

und § 46 VwVfG).<br />

Von zentraler Bedeutung im Vertragsverletzungsverfahren<br />

war hingegen die Frage der Unionsrechtswidrigkeit<br />

der materiellen Präklusion. Hier setzt der EuGH einen<br />

(vorläufigen?) Schlusspunkt unter einen Diskurs, in den<br />

sich auch das BVerwG noch Anfang 2014 eingebracht hat.<br />

Das BVerwG wies darauf hin, dass sich die Präklusion gerade<br />

nicht auf rechtliches Vorbringen erstrecke, sondern<br />

nur auf Tatsachenfragen. Hierdurch solle die besondere<br />

Sachkunde der Naturschutzvereinigungen in das Verwaltungsverfahren<br />

eingebracht werden, indem diese zu einer<br />

kritischen Auseinandersetzung mit dem vorhandenen<br />

naturschutzfachlichen Material angehalten würden. 9 Das<br />

BVerwG hat auch auf das Eigenverwaltungsrecht der EU<br />

hingewiesen, das eine dem Einwendungsausschluss nach<br />

deutschem Recht vergleichbare Beschränkung des Tatsachenvortrags<br />

und damit der Rechtmäßigkeitskontrolle<br />

eines Gemeinschaftsaktes im gerichtlichen Verfahren<br />

kenne. 10<br />

Während die Ausführungen des EuGH zum Anwendungsbereich<br />

des UmwRG zu erwarten waren, 11 ist doch die<br />

Konsequenz überraschend, mit der der Gerichtshof die Einwände<br />

Deutschlands zur Bestands- und Rechtskraft beiseiteschiebt.<br />

Hier bleibt nach dem Urteil einiges im Dunkeln,<br />

wobei die Frage naheliegt, ob die Ausführungen des EuGH<br />

selbst „so konkret, bestimmt und klar sind, dass sie dem<br />

Erfordernis der Rechtssicherheit genügen“ (Rn. 51).<br />

D. Auswirkungen für die Praxis<br />

Zunächst gilt es, das laufende Novellierungsverfahren zum<br />

UmwRG abzuwarten. Hier dürfte der Gesetzgeber einige<br />

Unvereinbarkeiten mit Art. 11 UVP-RL abstellen.<br />

Ein Paukenschlag ist das Ende der Präklusion für UVP-pflichtige<br />

Vorhaben. Der EuGH hat sich nicht damit begnügt, die<br />

in der Tat recht kurzen Einwendungsfristen zu hinterfragen,<br />

sondern mit brutaler Kürze ein etabliertes Instrument des<br />

C. Kontext der Entscheidung<br />

8 Vgl. statt vieler Seibert, NVwZ 2013, 1040; Gärditz, NVwZ 2014, 1.<br />

9 BVerwG, Beschl. v. 06.03.2014 - 9 C 6.12 Rn. 16.<br />

10 BVerwG, Beschl. v. 06.03.2014 - 9 C 6.12 Rn. 17.<br />

11 Vgl. EuGH, Urt. v. 07.11.2013 - C-72/12 Rn. 31 - „Gemeinde Altrip“.<br />

167


Die Monatszeitschrift<br />

nationalen Rechtssystems vom Tisch gefegt, das in überaus<br />

komplexen Planfeststellungs- und Vorhabenzulassungsverfahren<br />

die nicht weniger komplexen Vorgaben des Naturschutz-<br />

und Umweltrechts „handhabbar“ gemacht hat.<br />

Immerhin hat der EuGH den Fingerzeig gegeben, dass er<br />

eine gesetzliche Regelung akzeptieren könnte, die „missbräuchliches“<br />

Vorbringen als unzulässig wertet. Dies könnte<br />

klagende Umweltverbände dazu anhalten, vorhandenes<br />

Fachwissen im Verwaltungsverfahren nicht zurückzuhalten<br />

und erstmals vor Gericht gegen die Zulassungsentscheidung<br />

in Stellung zu bringen. Bis zu einer solchen Regelung<br />

gilt aber nach dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts<br />

die Unzulässigkeit jeglicher Einwendungspräklusion, was<br />

sich bereits in aktuellen Verfahren auswirkt. 12<br />

Schwer zu prognostizieren sind die Auswirkungen des<br />

EuGH-Diktums zur Bestands- und Rechtskraft im Zusammenhang<br />

mit der verspäteten Umsetzung der UVP-RL in<br />

deutsches Recht. Fraglich ist insbesondere, wie allgemein<br />

der EuGH hier verstanden sein will. Es dürfte indes<br />

nahe liegen, möglichst wortlautnah zunächst die vom<br />

EuGH verworfenen Übergangsregelungen in den Blick<br />

zu nehmen.<br />

E. Bewertung<br />

Die Tragweite des Urteils im Anwendungsbereich der UVP-<br />

RL dürfte enorm sein und Anlass zu weitgehenden Diskussionen<br />

geben. Liegt der Gerichtshof mit einigen seiner Bewertungen<br />

auf der bisherigen Linie seiner Rechtsprechung,<br />

erfordert doch die apodiktische Absage an materielle Präklusionsvorschriften<br />

nach bisheriger Fassung ein sofortiges<br />

Umdenken. Dies dürfte ungeachtet des Umstands gelten,<br />

dass das Urteil nicht den Eindruck vermittelt, sämtliche<br />

Argumente der Bundesrepublik eingehend zu würdigen.<br />

Interessant wird sein, wie Wissenschaft und Praxis auf die<br />

Aussagen des EuGH zur Bestands- und Rechtskraft reagieren<br />

werden.<br />

12 Vgl. BVerwG, Urt. v. 22.10.2015 - 7 C 15.13 - „Gemeinde Altrip“.<br />

Steuerrecht<br />

RiBFH Prof. Dr. Monika Jachmann-Michel<br />

Steuer(un)gerechtigkeit für Familien?<br />

A. Problemstellung<br />

Der medienpräsente politische Kampf gegen Kinderarmut<br />

und eine vielfach angeprangerte Benachteiligung von Alleinerziehenden<br />

in Deutschland werden gerade auch im<br />

Kontext einer angeblichen Familienblindheit unseres Steuersystems<br />

bzw. Steuerungerechtigkeit für Familien geführt.<br />

Die intendierte Gewährleistung von Wohlergehen und Teilhabe<br />

über monetäre Leistungen für Familien und Kinder ist<br />

aber keine Aufgabe des Steuerrechts. Steuern sollen der Finanzierung<br />

der staatlichen Aufgabenerfüllung dienen, also<br />

auch der Finanzierung sozial motivierter staatlicher Leistungen<br />

an Familien. Dabei ist die Steuerlast gleichmäßig<br />

auf die Steuerpflichtigen zu verteilen, dies nach Maßgabe<br />

ihrer Mitverantwortung als Bürger für das Gemeinwohl,<br />

d.h. entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit. 1<br />

Bei der Diskussion über die Steuer(un)gerechtigkeit für<br />

Familien geht es um die Frage, ob bzw. inwieweit Familien<br />

bzw. deren Mitglieder gleichheitsgerecht belastet<br />

werden. Der maßgebliche Vergleich ist dabei ausschließlich<br />

zwischen steuerpflichtigen Familien bzw. Familien-<br />

mitgliedern einerseits und anderen Steuerpflichtigen<br />

andererseits zu ziehen. Keine Frage der Steuergerechtigkeit<br />

ist der Lebensstandard von Steuerpflichtigen nach<br />

Steuerzahlung einerseits und der von Bürgern, die ohnehin<br />

keine Steuern zahlen, andererseits. Familienpolitisch<br />

motivierte Sozialsubventionierung ist keine der Besteuerungsgleichheit<br />

immanente Frage. Wird das Steuerrecht<br />

– entgegen seiner originären Funktion – zur Subventionierung<br />

aus sozialen Gründen gebraucht, gilt es sub<br />

specie Steuergerechtigkeit die steuerliche Begünstigung<br />

der subventionierten Gruppe gegenüber anderen Steuerpflichtigen<br />

zu rechtfertigen.<br />

Speziell wenn es um moderne Postulate der Familienpolitik<br />

geht, kommt eine weitere Grundproblematik hinzu: ein weiter,<br />

rechtlich nicht vorgeformter Familienbegriff, der bestimmt<br />

wird vor allem durch starke persönliche Bindungen oder eine<br />

1 Dazu stv. Jachmann, Nachhaltige Entwicklung und Steuern, 2003,<br />

S. 51 ff. m.w.N.<br />

168


JM 4 APRIL<br />

2016<br />

gegenseitige Sorge mehrerer Generationen. 2 Das Steuerrecht<br />

lebt demgegenüber von seiner Tatbestandsmäßigkeit im Sinne<br />

einer eindeutigen engmaschigen gesetzlichen Vorzeichnung<br />

des Steuereingriffs. Zu bedenken gilt es daneben die<br />

nicht beliebig auslegbare Textfassung von Art. 6 GG sowie<br />

die Eigenschaft der Ehe als Erwerbsgemeinschaft, während<br />

die Eltern-Kind-Beziehung lediglich eine Verbrauchsgemeinschaft<br />

darstellt. Beide können zwangsläufig aus systemimmanenten<br />

Gründen im Rahmen einer Besteuerung des Erwerbs,<br />

wie sie das EStG regelt, nicht gleich behandelt werden.<br />

Steht vor diesem Hintergrund die angebliche Familienblindheit<br />

unseres Steuersystems im Fokus, verbergen sich dahinter<br />

v.a. zwei grundsätzliche Problemfelder: Zum einen geht<br />

es um eine etwaige Verfehltheit des Ehegattensplittings, 3<br />

zum anderen um die Reformbedürftigkeit des steuerlichen<br />

Familienleistungsausgleichs, weil – wie vielfach postuliert<br />

– dem Staat jedes Kind gleich viel wert sein sollte. 4<br />

Beiden Aspekten soll im Folgenden nachgegangen werden.<br />

B. Das Ehegattensplitting – ein Stein des Anstoßes?<br />

Art. 6 Abs. 1 GG schützt die Ehe als Erwerbs- und Verbrauchsgemeinschaft<br />

5 und sichert den Ehepartnern eine<br />

selbstbestimmte Ausgestaltung ihrer ehelichen Lebensgemeinschaft.<br />

Die Eheschließung darf keine steuerlichen<br />

Nachteile nach sich ziehen. Die Entscheidung, welcher der<br />

Ehepartner in welchem Umfang zur Erwirtschaftung des<br />

gemeinsamen, den Lebensunterhalt sichernden Einkommens<br />

beiträgt, steht in freiem Ermessen der Ehegatten und<br />

muss von staatlichen und damit auch von steuergesetzlichen<br />

Regelungen unbeeinflusst bleiben. 6 Gleiches gilt für<br />

die Entscheidung für oder gegen Kinder.<br />

Diesen Vorgaben trägt das Ehegattensplitting (§§ 26, 26b<br />

EStG) adäquat Rechnung. Es sichert durch die hälftige Aufteilung<br />

des Einkommens auf beide Ehepartner zum einen<br />

die Präferenzentscheidung der Ehepartner, wer in welchem<br />

Umfang ein Einkommen erwirtschaftet. Zum anderen ist<br />

diese Einkommenszuordnung deshalb angemessen, weil sie<br />

der gesetzlichen Vorstellung eines gemeinsamen Haushalts<br />

entspricht, in dem beide Ehegatten gleichermaßen leistungsfähig<br />

sind. 7 Darüber hinaus wird die ehe-, unterhalts- und<br />

güterrechtliche Verbindung (§§ 1353 ff., §§ 1363 ff. BGB)<br />

beider Ehepartner als Wirtschaftsgemeinschaft 8 – bezogen<br />

auf die Zugewinngemeinschaft (§§ 1363 ff. BGB) und damit<br />

den regelmäßig vorkommenden Güterstand – nachgezeichnet.<br />

Das Ehegattensplitting kann als typisierende Besteuerung<br />

entsprechend der ehelichen Unterhaltsverpflichtungen<br />

betrachtet werden, die ebenfalls eine hälftige Aufteilung des<br />

Einkommens zum Gegenstand haben (sog. unterhaltsrechtlicher<br />

Halbteilungsgrundsatz). Es sichert so eine leistungsfähigkeitsgerechte<br />

Besteuerung (Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 6<br />

Abs. 1 GG). Insbesondere wird durch das Splitting eine Benachteiligung<br />

von Alleinverdienerehen ausgeschlossen. 9 Die<br />

Fälle der Gütertrennung sind insoweit adäquat erfasst, als<br />

für sie typisierend angenommen werden kann, dass die Ehepartner<br />

die getrennte Veranlagung (§§ 26, 26a EStG) wählen.<br />

Wenn in der Familienpolitik einerseits gefordert wird, es<br />

dürfe für Anerkennung und Unterstützung nicht maßgeblich<br />

sein, ob es um verheiratete oder unverheiratete Eltern<br />

oder um Alleinerziehende gehe, 10 und andererseits verlangt<br />

wird, Haushalte mit Kindern seien besonders zu berücksichtigen,<br />

11 ist dies vielfach gegen das Ehegattensplitting<br />

gerichtet, verfehlt jedoch dessen Rechtfertigung und steuersystematische<br />

Einbindung im EStG.<br />

Das Ehegattensplitting dient nicht der Förderung von Kindern<br />

– das ist die „Baustelle“ des Familienleistungsausgleichs<br />

(dazu C.) – und es subventioniert nicht die Ehe. Anknüpfungspunkt<br />

für das Splitting ist nicht das Vorliegen eines<br />

Trauscheins, sondern es stellt vielmehr sicher, dass die durch<br />

Art. 6 Abs. 1 GG geschützte, von staatlicher Einflussnahme<br />

freie Gestaltung des Zusammenlebens der Ehegatten als Erwerbs-<br />

bzw. Wirtschafts- und Verbrauchsgemeinschaft ohne<br />

steuerliche Folgen bleibt, also der Staat auch nicht mittelbar<br />

über die Steuer die Freiheit dieser Lebensgestaltung begrenzt.<br />

Damit ist das Ehegattensplitting ein Baustein der Besteuerungsgleichheit,<br />

keine rechtfertigungsbedürftige Abweichung<br />

davon. In dieser Eigenschaft kann und muss es aus gleichheitsrechtlichen<br />

Gründen auf der Ehe rechtlich vergleichbare<br />

Lebensformen ausgedehnt werden – so auf eingetragene<br />

Lebenspartnerschaften – 12 , nicht aber auf die Eltern-Kind-Beziehung.<br />

Denn letztere ist eben keine Erwerbsgemeinschaft.<br />

2 Vgl. etwa Eckpunktepapier des Deutschen Vereins zur Weiterentwicklung<br />

des Systems monetärer Unterstützung von Familien und Kindern,<br />

DV 38/12 AF II 25.06.2013 (im Folgenden zitiert als DV), S. 4 f.<br />

3 DV S. 19, 27.<br />

4 Vgl. DV S. 12 f., 22; Gillmann:„Dem Staat sollte jedes Kind gleich viel<br />

Wert sein“ in: Handelsblatt (2015), Nr. 214, S. 12.<br />

5 BVerfG, Urt. v. 03.11.1982 - 1 BvR 620/78, 1335/78, 1104/79 u.<br />

363/80 - BVerfGE 61, 319, 345.<br />

6 Vgl. nur BVerfG, Beschl. v. 04.12.2002 - 2 BvR 400/98 - BVerfGE 107,<br />

27, 53 m.w.N.<br />

7 Sandweg, DStR 2015, 459, 460.<br />

8 Vgl. dazu Jachmann, Nachhaltige Entwicklung und Steuern, 2003,<br />

S. 225 ff. m.w.N.<br />

9 BVerfG, Urt. v. 03.11.1982 - 1 BvR 620/78, 1335/78, 1104/79<br />

u. 363/80 - BVerfGE 61, 319, 345.<br />

10 Bohsem:„Ehegattensplitting passt nicht mehr in unsere Gesellschaft“<br />

in SZ v. 20.10.2015.<br />

11 SPD in: Beschl. d. SPD-Parteivorstands: Moderne Familienpolitik weiter<br />

denken v. 19.10.2015.<br />

12 BVerfG, Beschl. v. 07.05.2013 -2 BvR 909/06, 1981/06 u. 288/07 -<br />

BVerfGE 133, 377; nachdem das BVerfG mit Beschl. v. 07.05.2013 den<br />

Ausschluss von eingetragenen Lebenspartnern vom Ehegattensplitting<br />

für verfassungswidrig erklärt hat, wurde § 2 Abs. 8 EStG neu eingeführt.<br />

169


Die Monatszeitschrift<br />

Damit werden aber auch Alleinerziehende nicht etwa durch<br />

das Ehegattensplitting benachteiligt. Sie leben gerade in<br />

keiner Erwerbsgemeinschaft, deren Schutz das Splitting dienen<br />

könnte. Man kann freilich fragen, ob es Aufgabe der<br />

Gemeinschaft der Steuerzahler ist, faktische Nachteile der<br />

Entscheidung für die Lebensform „Alleinerziehend“ durch<br />

monetäre Leistungen in Gestalt von Steuervergünstigungen<br />

auszugleichen. Die ggf. zu kompensierende faktische<br />

Schlechterstellung ist aber keine Konsequenz des Splittings.<br />

Insoweit wäre primär zu konkretisieren, durch welche monetären<br />

Lasten jenseits des Kindesexistenzminimums, das via<br />

Kinderfreibeträge / Kindergeld berücksichtigt ist, Alleinerziehende<br />

mehr belastet sind als erziehende Eltern. Es geht hier<br />

wohl um eine persönliche Einschränkung der individuellen<br />

Entfaltungsfreiheit, die aus der Alleinzuständigkeit für das<br />

Kind resultiert. Monetär abbildbar ist dies unter Umständen<br />

durch gesteigerte Fremdbetreuungskosten, die aber – wie<br />

auch bei Eltern – nach tatsächlichem Anfall und je nach<br />

beruflicher oder privater Veranlassung als erwerbs- oder<br />

existenzsichernder Aufwand berücksichtigt werden sollten.<br />

Neben einem erwerbs- und aufwandsunabhängigen Betreuungsbedarf<br />

als Teil des familiären Existenzminimums 13<br />

sollte es eine von diesem Bedarf unabhängige Kategorie des<br />

erwerbsbedingten Betreuungsaufwands geben. Aufwendungen<br />

für Fremdbetreuung während der Arbeitszeit sollten in<br />

der tatsächlich entstehenden Höhe als Werbungskosten (§ 9<br />

EStG) abziehbar sein. Nur die volle Abziehbarkeit des beruflichen<br />

Mehraufwands trägt dem Ziel der Vereinbarkeit von<br />

Berufstätigkeit und Familie hinreichend Rechnung. Darüber<br />

hinaus bietet die Abziehbarkeit erwerbsbedingten Betreuungsaufwands<br />

als Werbungskosten die Möglichkeit, durch<br />

Kinderbetreuungskosten entstandene Verluste mit positiven<br />

Einkünften späterer Jahre zu verrechnen. Von dieser Möglichkeit<br />

profitieren insbesondere auch Alleinerziehende. 14<br />

Aus Verfassungsgründen (Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1<br />

GG) geboten ist der Abzug von erwerbsbedingten Kinderbetreuungskosten<br />

insoweit, als die finanzielle Leistungsfähigkeit<br />

der Eltern durch erwerbsbedingten Betreuungsaufwand<br />

tatsächlich gemindert ist. Als zwangsläufige Aufwendungen<br />

müssen gerade erwerbsbedingte Kinderbetreuungskosten<br />

in realitätsgerechter Höhe steuerlich abziehbar sein. 15 In<br />

der Einzelausgestaltung kann der Gesetzgeber typisierend<br />

erwerbsbedingte Kinderbetreuungskosten der Höhe nach<br />

begrenzen; 16 sie um eine zumutbare Eigenbelastung –<br />

vergleichbar § 33 Abs. 1 EStG – zu kürzen, wäre dagegen<br />

verfassungswidrig. 17 Im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit<br />

kann der Gesetzgeber freilich wählen, ob er erwerbsbedingte<br />

Kinderbetreuungskosten „wegen ihrer Veranlassung durch<br />

die Erwerbstätigkeit [der Eltern] den Werbungskosten und<br />

Betriebsausgaben zuordnet oder durch eine spezielle Norm<br />

[…] die private (Mit-)Veranlassung – die elterliche Entscheidung<br />

für Kinder, die eine Betreuung erst erforderlich macht<br />

– systematisch in den Vordergrund stellt“. 18<br />

Der Betreuungsfreibetrag einerseits (§ 32 Abs. 6 EStG),<br />

der den allgemeinen kindesbedingten Betreuungsbedarf<br />

wiedergibt, und die erwerbsbedingten Kinderbetreuungskosten<br />

andererseits stellen unterschiedliche, voneinander<br />

unabhängige Kategorien dar. 19 Jenseits des Abzugs von erwerbsbedingten<br />

Kinderbetreuungskosten wäre der Abzug<br />

erwerbsunabhängiger Kinderbetreuungskosten als Sonderausgaben<br />

(§ 10 Abs. 1 Nr. 5 EStG) nicht erforderlich, da diese<br />

Kosten bereits als vom allgemeinen Betreuungsfreibetrag<br />

(§ 32 Abs. 6 EStG) umfasst angesehen werden können. Der<br />

Umstand aber, dass Alleinerziehende unter Umständen vom<br />

anderen Elternteil keine faktische, ggf. auch mentale Unterstützung<br />

haben, führt eher zu einer psychischen Belastung,<br />

die aber im Steuersystem im Bereich der Sonderausgaben<br />

oder der außergewöhnlichen Belastungen zu verorten ist.<br />

Insoweit ist der Entlastungsbetrag für Alleinerziehende gem.<br />

§ 24b EStG, der rückwirkend zum 01.01.2015 um 600 € auf<br />

1.908 € angehoben wurde und nunmehr nach der Kinderzahl<br />

gestaffelt ist, 20 nicht zu beanstanden.<br />

Jenseits dessen könnte man freilich überlegen, das Splitting<br />

ersatzlos entfallen zu lassen und jedes Individuum im<br />

Sinne einer reinen Individualbesteuerung gleich zu behandeln.<br />

Bei einer Individualbesteuerung der Ehegatten müssten<br />

jedoch die ehelichen Unterhaltsverpflichtungen steuerrechtlich<br />

abgebildet werden. Das steuerliche Ergebnis<br />

würde sich dann kaum vom geltenden Recht unterscheiden.<br />

Entsprechend der hälftigen Aufteilung des Ehegatteneinkommens<br />

nach unterhaltsrechtlichen Gesichtspunkten<br />

wären die – die subjektive Leistungsfähigkeit mindernden –<br />

Unterhaltsverpflichtungen jeweils hälftig zu berücksichtigen.<br />

Das Einkommen des einkommensstärkeren Ehegatten<br />

und das des einkommensschwächeren würden addiert und<br />

auf beide gleich verteilt. Soweit bei sehr hohen Einkommen<br />

angesichts einer unterhaltsrechtlichen Sättigungsgrenze<br />

keine hälftige Aufteilung mehr erfolgt, wäre eine höhenmäßige<br />

Begrenzung des aus dem Ehegattensplitting resultierenden<br />

steuerlichen Vorteils möglich.<br />

13 BVerfG, Beschl. v. 10.11.1998 - 2 BvR 1057/91, 1226/91, 980/91 -<br />

BVerfGE 99, 216, 235; vgl. dazu §§ 31, 32 EStG.<br />

14 Vgl. BT-Drs. 17/6122, S. 4.<br />

15 BVerfG, Beschl. v. 16.03.2005 - 2 BvL 7/00 - BVerfGE 112, 268, 282.<br />

16 BFH, Urt. v. 05.07.2012 - III R 80/09 - BFHE 238, 76, 83 mit Verweis<br />

auf BFH, Urt. v. 09.02.2012 - III R 67/09 - BFHE 237, 39.<br />

17 BVerfG, Urt. v. 16.03.2005 - 2 BvL 7/00 - BVerfGE 112, 268, 280 f.<br />

18 BVerfG, Urt. v. 16.03.2005 - 2 BvL 7/00 - BVerfGE 112, 268, 281 f.<br />

19 Bei unangemessenem Aufwand gilt § 4 Abs. 5 Nr. 7 EStG.<br />

20 Der Entlastungsbetrag steigt für das zweite und jedes weitere zu berücksichtigende<br />

Kind zusätzlich um 240 € jährlich (sog. Erhöhungsbetrag<br />

n.F.).<br />

170


JM 4 APRIL<br />

2016<br />

Verfassungswidrig wäre aber ein begrenztes Ehegatten-<br />

Realsplitting (sog. Individualbesteuerung mit übertragbarem<br />

Höchstbetrag), das die auf den einkommensschwächeren<br />

Ehegatten übertragbaren Unterhaltsleistungen der Höhe<br />

nach auf z. B. max. 10.000 € begrenzte; 21 die realen Unterhaltsverpflichtungen<br />

blieben hier unberücksichtigt. Die begrenzte<br />

Umverteilung von 10.000 € bei „Einverdienerehen“<br />

würde bereits bei einem Einkommen von über 20.000 € die<br />

Unterhaltsverpflichtungen nicht mehr realitätsgerecht abbilden;<br />

die Ehe als Wirtschaftsgemeinschaft wäre verkannt.<br />

Denkbar wäre ein der Höhe nach am nachehelichen Realsplitting<br />

des § 10a Nr. 1 EStG orientierter fiktiver Unterhaltsabzug.<br />

22 Dies würde sich zwar in ein (Familien-)<br />

Realsplitting eingliedern und Finanzmittel zu dessen Finanzierung<br />

generieren, 23 ohne die Ehe als Erwerbs- und Verbrauchsgemeinschaft<br />

vollkommen zu verkennen. Allerdings<br />

bestünde für Steuerpflichtige mit höheren Einkommen die<br />

Möglichkeit, weitergehende Splittingwirkungen durch vertragliche<br />

Gestaltungen herbeizuführen mit der Konsequenz<br />

erheblichen Kontrollaufwands für die Finanzverwaltung.<br />

Die Annahme, das Ehegattensplitting sei eine Motivationsbremse<br />

für verheiratete Frauen, zu arbeiten, scheint nur<br />

prima facie schlüssig. Kommt es bei Ehegatten zu einer<br />

geänderten Aufgabenverteilung, führt gerade das Splitting<br />

dazu, dass bei unverändertem Gesamteinkommen der<br />

Ehepartner die Höhe der zu zahlenden Einkommensteuer<br />

gleich bleibt. 24 Nimmt die Ehefrau eine Arbeit auf, führt<br />

dies tatsächlich zu dem Nachteil, dass die Steuerlast des<br />

Paares gegenüber der vorherigen Steuerlast ansteigt; dies<br />

ist aber auf den Anstieg des Einkommens und damit der Bemessungsgrundlage<br />

für die Einkommensteuer zurückzuführen.<br />

Der Grund für den zusätzlichen Anstieg der Steuerlast<br />

liegt in der Progression der Einkommensteuer, die durch<br />

das Splittingverfahren gerade abgemildert wird.<br />

C. Zum Postulat, dass dem Staat jedes Kind gleich<br />

viel wert sein sollte<br />

Wenn die politische Forderung, dem Staat solle jedes Kind<br />

gleich viel wert sein, an den Steuergesetzgeber gerichtet<br />

wird, hat dies zwei Ursachen: zum einen ein Missverständnis<br />

des progressionsbedingten Kinderfreibetrags und zum<br />

anderen seine methodisch unglückliche Vermengung mit<br />

dem Kindergeld im geltenden sog. dualen System.<br />

Der Kinderfreibetrag 25 ist nichts anderes als die verfassungsrechtlich<br />

zwingende Freistellung des Teils des Erwerbseinkommens<br />

von der Besteuerung, das die Eltern<br />

für die Existenzsicherung ihrer Kinder brauchen. Mit dem<br />

Kinderfreibetrag wird aber kein Aufwand zum Abzug zugelassen<br />

– dies auch nicht in typisierter Form; vielmehr gilt es,<br />

die von Art. 6 Abs. 1 GG geforderte Ausdehnung der Steuerfreiheit<br />

des Existenzminimums des Steuerpflichtigen auf<br />

seine Kinder gesetzlich umzusetzen.<br />

Der sog. Familienleistungsausgleich (§ 31 EStG) soll pauschal<br />

die Minderung an wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit<br />

ausgleichen, die Eltern durch ihre Kinder im Vergleich zu Kinderlosen<br />

erfahren. Dabei wird – de lege lata – seit 1996 ein<br />

monatliches Kindergeld – der Sache nach Sozialleistung, gesetzestechnisch<br />

Steuervergütung – auf die Entlastung durch<br />

die Kinderfreibeträge (§ 32 Abs. 6 EStG) gezahlt. Soweit hierfür<br />

nicht erforderlich, dient es als Sozialsubvention für die Familie.<br />

26 Diese Regelungstechnik verschleiert, dass die Kinderfreibeträge<br />

der Herstellung steuerlicher Belastungsgleichheit<br />

durch Berücksichtigung der kindesbedingten Minderung der<br />

Leistungsfähigkeit der Eltern dienen.<br />

Das freigestellte Kindesexistenzminimum umfasst neben<br />

dem sächlichen Existenzminimum auch einen Freibetrag<br />

für Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf.<br />

Damit soll die Minderung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit<br />

der Eltern ausgeglichen werden, die dadurch<br />

entsteht, dass sie sich der Betreuung und Erziehung ihrer<br />

Kinder entweder – mit Erwerbseinbußen – widmen oder<br />

Dritte entgeltlich damit betrauen. Unerheblich ist dabei, auf<br />

welche Weise und aus welchen Gründen Eltern die erforderliche<br />

Betreuung im Einzelnen organisieren und welcher<br />

konkrete Aufwand ihnen entsteht. 27<br />

Die Minderung der steuerlichen Leistungsfähigkeit, die<br />

Eltern durch Kinder im Vergleich zu Kinderlosen erfahren,<br />

wird gegenwärtig pauschal durch Kinderfreibeträge (derzeit<br />

insgesamt 3.576 €, vgl. § 32 Abs. 6 Satz 1 EStG) oder Kindergeld<br />

(190 € für das erste und zweite Kind, 196 € für das<br />

dritte Kind, 221 € für jedes weitere Kind, vgl. § 66 Abs. 1<br />

Satz 1 EStG) berücksichtigt. Kinder unter 18 Jahren mindern<br />

uneingeschränkt die steuerliche Bemessungsgrundlage (Kinderfreibetrag)<br />

oder berechtigen zum Bezug von Kindergeld<br />

(§ 32 Abs. 3 EStG), volljährige Kinder nur unter besonderen<br />

Voraussetzungen (§ 32 Abs. 4 und 5 EStG). Kinder in Aus-<br />

21 Vgl. z.B. Bündnis 90/Die Grünen, BT-Drs. 16/1152.<br />

22 Vgl. z.B. SPD in: Das Wir entscheidet – Regierungsprogramm der SPD<br />

2013-2017, S. 50 f.<br />

23 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen<br />

Entwicklung in: Gegen eine rückwärtsgewandte Wirtschaftspolitik –<br />

Jahresgutachten 2013/14, Rn. 653: rd. 6 Mrd. € bei Begrenzung auf<br />

13.805 €; BT-Drs. 17/13044, S. 3: Mehrbelastungen i.H.v. 3,3 Mrd. €.<br />

24 So auch Sandweg, DStR 2015, 459, 461.<br />

25 Im Folgenden wird vereinfachend vom Kinderfreibetrag gesprochen,<br />

wenngleich §§ 31, 32 Abs. 6 EStG zwischen mehreren Freibeträgen<br />

differenziert, die zusammen das Kindesexistenzminimum ausmachen.<br />

26 Dazu Jachmann in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, Einkommensteuergesetz:<br />

Kommentar (Loseblatt), § 31 EStG Rn. A 1.<br />

27 BVerfG, Beschl. v. 10.11.1998 - 2 BvR 1057/91, 1226/91, 980/91 -<br />

BVerfGE 99, 216, 233.<br />

171


Die Monatszeitschrift<br />

bildung werden z. B. nach § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 Buchst. a<br />

EStG bis zur Vollendung des 25. Lebensjahrs im Rahmen des<br />

Familienleistungsausgleichs berücksichtigt; für den Fall, dass<br />

sie bereits eine erstmalige Berufsausbildung oder ein Erststudium<br />

abgeschlossen haben, gilt dies allerdings nur, sofern<br />

sie keiner 28 eigenen Erwerbstätigkeit nachgehen (§ 32 Abs. 4<br />

Satz 2 EStG). Verfassungsrechtlich (Art. 6 Abs. 2 GG) geboten<br />

ist die steuerliche Freistellung des Kindesbedarfs in Höhe<br />

des (sächlichen) Existenzminimums einschließlich eines aufwandsunabhängigen<br />

Erziehungs- und Betreuungsbedarfs<br />

der Kinder 29 - de lege lata abgedeckt durch den Kinderfreibetrag.<br />

Soweit das Kindergeld die verfassungsrechtlich gebotene<br />

steuerliche Entlastung durch den Kinderfreibetrag<br />

übersteigt, stellt es eine Sozialsubvention dar. Methodisch<br />

ist der Kinderfreibetrag dasselbe wie der Grundfreibetrag<br />

für die eigene Existenzsicherung. Art. 6 Abs. 2 GG weist den<br />

Eltern die Primärverantwortung für ihre Kinder und damit<br />

das Recht zu, ihr Erwerbseinkommen vorrangig vor der Mitfinanzierung<br />

der staatlichen Aufgabenerfüllung über Steuern<br />

für ihre Kinder zu verwenden.<br />

Die Bezifferung dieses Kindesexistenzminimums obliegt<br />

dem Steuergesetzgeber. Der Kinderfreibetrag muss abdecken,<br />

was der Staat als hinreichende Kindersorge monetär<br />

vorgibt. Das ist derzeit das sog. steuerliche Kindesexistenzminimum,<br />

einschließlich Betreuungs-, Erziehungs- und<br />

Ausbildungsfreibetrag. Unabhängig davon, wie es beziffert<br />

wird, gilt derselbe Betrag für alle Kinder. Wird aber derselbe<br />

Betrag von der Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer<br />

abgezogen, wirkt sich dies progressionsabhängig aus.<br />

Die Annahme, Steuerpflichtige mit hohem zu versteuernden<br />

Einkommen würden dadurch begünstigt, ist unlogisch. Sie<br />

verkennt die Struktur des progressiven Tarifs. 30 Ein proportionaler<br />

Steuersatz wäre transparenter und würde derartige<br />

Missverständnisse vermeiden.<br />

Anders als der Kinderfreibetrag ist das mit ihm derzeit verknüpfte<br />

Kindergeld eine soziale Förderung von Familien.<br />

Es begünstigt die, die wenig oder keine Steuern zahlen.<br />

Sein Standort im EStG ist freilich verfehlt. Der Nachteil des<br />

geltenden Systems ist seine Intransparenz. Die monatliche<br />

Auszahlung des Kindergeldes und dessen Verrechnung im<br />

Rahmen der Einkommensteuerveranlagung verschleiern<br />

die steuerliche Bedeutung des Kinderfreibetrags und die<br />

durch ihn verwirklichte Besteuerung der Eltern nach deren<br />

wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit.<br />

Wenn der Kinderfreibetrag/das Kindergeld das reale Kindesexistenzminimum<br />

nicht abdecken, wären sie anzuheben.<br />

Eine darüber hinausgehende Familienförderung wäre<br />

Aufgabe des Sozialstaates.<br />

Eine andere Frage ist, warum nicht die gesetzliche Unterhaltspflicht<br />

die Höhe des Kinderfreibetrags bestimmt. Die<br />

zivilrechtliche Unterhaltspflicht ist abhängig von der Höhe<br />

des Einkommens des Unterhaltspflichtigen, die Kinder teilen<br />

den Lebensstandard der Eltern. Anknüpfend hieran wäre<br />

die Höhe des Kinderfreibetrags einkommensabhängig –<br />

ein verfassungsrechtlich mögliches, politisch aber wohl<br />

nicht erwünschtes Ergebnis.<br />

Bei Geringverdienern können mangels einer Belastung mit<br />

Einkommensteuer auch keine Kinderfreibeträge abgezogen<br />

werden. Bei ihnen hat das Kindergeld vollständig die Wirkung<br />

einer sozialen Subvention. 31<br />

Wollte man über weiterreichende Reformalternativen zur<br />

geltenden Einkommensbesteuerung von Familien nachdenken,<br />

so wäre jedenfalls allen Ansätzen eine Absage zu erteilen,<br />

die den Familienleistungsausgleich in Form der Kinderfreibeträge<br />

– auch nur teilweise – durch kindesbezogene<br />

staatliche Leistungen ersetzen wollen. Während des BVerfG<br />

in der Vergangenheit reine Kindergeldlösungen noch als<br />

verfassungsgemäß ansah, 32 ist nach neuerer zutreffender<br />

Rechtsprechung 33 die kindesbedingte Minderung der steuerlichen<br />

Leistungsfähigkeit der Eltern im Steuerrecht realitätsgerecht<br />

abzubilden.<br />

Möglich wäre ein (Familien-)Realsplitting, 34 das die zwischen<br />

den Ehegatten existierende Erwerbs- und Verbrauchsgemeinschaft<br />

weiterhin im Rahmen einer hälftigen Aufteilung<br />

des Einkommens auf die Ehepartner – und damit<br />

analog zum Ehegattensplitting – berücksichtigt. Zusätzlich<br />

werden die bestehenden Unterhaltsverpflichtungen der Eltern<br />

gegenüber ihren Kindern vom gemeinsamen Einkommen<br />

der Ehegatten abgezogen und bei den Kindern als<br />

fiktives Einkommen steuerlich berücksichtigt; die steuerliche<br />

Bemessungsgrundlage der Kinder wird entsprechend der<br />

Kürzung bei den Eltern erhöht. Dadurch bildet das Familien-<br />

Realsplitting den Transfer steuerlicher Leistungsfähigkeit<br />

durch zwangsläufige Unterhaltsaufwendungen realitätsgerecht<br />

ab. 35 Soweit die abziehbaren Unterhaltsaufwendungen<br />

über das für die Bestreitung des existenziellen Bedarfs der<br />

28 Teilzeitbeschäftigungen (bis 20 Stunden pro Woche), Ausbildungsdienstverhältnisse<br />

und geringfügige Beschäftigungen i.S.v. §§ 8, 8a<br />

SGB IV sind unschädlich - § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG.<br />

29 BVerfG, Beschl. v. 10.11.1998 - 2 BvR 1057/91, 1226/91, 980/91 -<br />

BVerfGE 99, 216, 231 f.; BVerfG, Beschl. v. 10.11.1998 - 2 BvL 42/93 -<br />

BVerfGE 99, 246, 259 f.<br />

30 Hierzu instruktiv Englisch, DStJG 37 (2014), 159, 167.<br />

31 Vgl. Leibohm, Bedarfsorientierung als Prinzip des öffentlichen Finanzrechts,<br />

2011, S. 204.<br />

32 BVerfG, Beschl. v. 23.11.1976 - 1 BvR 150/75 - BVerfGE 43, 108, 121 f.<br />

33 BVerfG, Beschl. v. 29.05.1990 - 1 BvL 20/84, 26/84, 4/86 - BVerfGE 82,<br />

60, 85 ff.<br />

34 Vgl. dazu nur Lang in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 9 Rn.<br />

103 f.; das BVerfG hat dem Gesetzgeber die Einführung eines Familien-<br />

Realsplittings ausdrücklich freigestellt, s. BVerfG, Urt. v. 03.11.1982 - 1<br />

BvR 620/78, 1335/78, 1104/79, 363/80 - BVerfGE 61, 319, 355.<br />

35 Hey in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 8 Rn. 103.<br />

172


JM 4 APRIL<br />

2016<br />

unterhaltsberechtigten Familienangehörigen Notwendige<br />

hinausgingen, würde es sich dabei allerdings nicht um eine<br />

Konkretisierung des Prinzips der Besteuerung nach der individuellen<br />

wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, sondern um eine<br />

steuerliche Maßnahme zur Familienförderung handeln. 36 Die<br />

Kinder hätten die Unterhaltsleistungen der Eltern als eigene<br />

Einkünfte mit eigenem Grundfreibetrag zu versteuern – dies<br />

wäre im geltenden EStG insoweit nicht systemkonform, als<br />

es sich nicht um Erwerbseinkommen handelt. Um das (Familien-)Realsplitting<br />

praktikabel auszugestalten, wären die<br />

Unterhaltsverpflichtungen realitätsgerecht zu pauschalieren.<br />

Mit der Einführung eines (Familien-)Realsplittings ginge im<br />

Ergebnis ein erheblicher Verwaltungsmehraufwand einher;<br />

insbesondere würden neben den Eltern stets auch die Kinder<br />

veranlagt. Allerdings böte die Technik des Realsplittings u. U.<br />

die Möglichkeit, das (Familien-)Realsplitting auf ein Mehrgenerationenrealsplitting<br />

auszubauen.<br />

Zu weitaus geringfügigeren Änderungen des geltenden Familienleistungsausgleichs<br />

würde die Verlängerung der sog.<br />

Nullzone (Grundfreibetrag) um einen sog. Kindergrundfreibetrag<br />

führen. 37 Wie der Grundfreibetrag der Eltern<br />

bliebe der Kindergrundfreibetrag unversteuert. Das über<br />

die kumulierten Grundfreibeträge hinausgehende Einkommen<br />

würde beginnend mit dem Eingangssteuersatz (derzeit<br />

14 %) versteuert.<br />

Anders als ein (Familien-)Realsplitting wäre ein unbegrenztes<br />

Familien(divisoren)splitting, d. h. die Übertragung des<br />

Splittingvorteils und damit die Verteilung des Familieneinkommens<br />

gleichmäßig auf alle Familienmitglieder vor dem<br />

Hintergrund des geltenden Einkommensteuersystems, das<br />

die Einkommenserzielung besteuert, gleichheitsrechtlich<br />

problematisch; Eltern dürften nicht über die tatsächlich kindesbedingt<br />

geminderte Leistungsfähigkeit hinaus entlastet<br />

werden. Auch stellt die Familie, anders als die Ehe, keine<br />

ein Splitting rechtfertigende Erwerbsgemeinschaft dar, 38<br />

sondern lediglich eine auf Auflösung gerichtete Unterhaltsgemeinschaft<br />

bzw. Verbrauchsgemeinschaft. Diese betrifft<br />

im System der Ertragsteuern die Einkommensverwendung<br />

und rechtfertigt so nicht die Zurechnung von Einkommen<br />

zu einer Person, die dieses Erwerbseinkommen nicht erzielt<br />

hat. Einkommensverwendung ist unter der Kategorie der<br />

potenziellen Leistungsfähigkeitsminderung zu erfassen. 39<br />

Wollte man gleichwohl ein Familien(divisoren)splitting einführen,<br />

bedürfte es eines partiellen Systemwechsels. Das<br />

Familien(divisoren)splitting soll dabei dadurch gerechtfertigt<br />

werden, dass alle Familienmitglieder am Einkommen<br />

der Erwerbstätigen via gemeinsamem Verbrauch partizipieren.<br />

Systemtragend soll dem Verbrauch des von den Eltern<br />

Erwirtschafteten für die Familie der Vorrang zukommen vor<br />

der Verwendung für die Finanzierung der Allgemeinheit via<br />

Steuer, und dies nicht nur im Bereich des Existenzminimums,<br />

sondern jenseits dessen in dem Umfang, in dem der Progressionsnachteil<br />

der Eltern gegenüber einer gleichmäßigen<br />

Verteilung des Einkommens auf alle Familienmitglieder der<br />

Finanzierung allgemeinstaatlicher sozialer Belange dient. 40<br />

Soll dieser Ansatz „Familie vor Progression“ aber eine neue<br />

Systementscheidung tragen, muss er als eine leistungsfähigkeitsgerechte<br />

Besteuerung und nicht nur als eine familienmotivierte<br />

Steuersubvention angesehen werden können.<br />

Ausgangspunkt hierfür ist die durch den progressiven Tarif<br />

zum Ausdruck kommende Systementscheidung des Gesetzgebers,<br />

wonach ein höheres Einkommen und eine dadurch<br />

bedingte höhere Steuerpflicht einen Indikator für eine erhöhte<br />

soziale Verantwortung darstellen. 41 In diesem Rahmen<br />

postuliert ein Familen(divisoren)splitting eine insoweit<br />

reduzierte soziale Verantwortung der erwerbstätigen Eltern,<br />

als in der Verbrauchsgemeinschaft auch nicht erwerbstätige<br />

Familienmitglieder leben. Diese vorrangige Einkommensverwendung<br />

für die Familie wäre im Grundsatz durch das Subsidiaritätsprinzip<br />

i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG zu rechtfertigen.<br />

Der materiell rechtfertigende Grund für eine vollständige<br />

Progressionsentlastung aller Mitglieder einer familiären<br />

Verbrauchsgemeinschaft läge in ihrer Qualität als Verantwortungsgemeinschaft,<br />

42 vorgezeichnet durch Art. 6 GG,<br />

ausgeformt durch das Zivil- bzw. Familienrecht. 43<br />

36 Englisch, DStJG 37 (2014), S. 159, 198.<br />

37 FDP in: Beschl. des 60. ord. Bundesparteitags der FDP v. 15.-<br />

17.05.2009, S. 5 f.<br />

38 Siehe BVerfG, Urt. v. 03.11.1982 - 1 BvR 620/78, 1335/78, 1104/79,<br />

363/80 - BVerfGE 61, 319, 348. Anders als für die Ehe gibt es für die<br />

Familie keine eine solche Erwerbsgemeinschaft prägende eindeutige<br />

zivilrechtliche Grundlage. Vielmehr ist die Eltern-Kind-Beziehung zivilrechtlich<br />

primär durch Sorgerecht und Unterhaltspflicht der Eltern<br />

definiert (§§ 1626 ff., 1601 ff. BGB).<br />

39 D.h. sub specie objektives/subjektives Nettoprinzip.<br />

40 Vgl. auch Merkt, DStR 2009, 2221, 2222, 2226 und Seiler, Gutachten<br />

F für den 66. Deutschen Juristentag, 2006, S. F 45; Seiler, Grundzüge<br />

eines öffentlichen Familienrechts, 2008, S. 99.<br />

41 Jachmann, Nachhaltige Einwicklung und Steuern, 2003, S. 61 f.<br />

42 Vgl. dazu BVerfG, Beschl. v. 18.04.1989 - 2 BvR 1169/84 - BVerfGE 80,<br />

81, 92; BVerfG, Urt. v. 03.11.1982 - 1 BvR 620/78, 1335/78, 1104/79,<br />

363/80 - BVerfGE 61, 319, 364 f.; BVerfG, Beschl. v. 10.11.1998 -<br />

2 BvR 1057/91, 1226/91, 980/91 - BVerfGE 99, S. 216, 231. Seiler,<br />

Gutachten F für den 66. Deutschen Juristentag, 2006, S. F 37 (Familie<br />

als Verantwortungsgemeinschaft); Seiler, Verfassungs- und systemgerechte<br />

Besteuerung von Ehe und Familie, in: Ehegattensplitting und<br />

Familienpolitik, 2007, S. 7, 25; Seiler, Grundzüge eines öffentlichen<br />

Familienrechts, 2008, S. 15 f.; Seiler, FR 2010, 113, 117; Merkt, DStR<br />

2009, 2221, 2224.<br />

43 Die Familienmitglieder schulden sich als familiäre Verantwortungsgemeinschaft<br />

untereinander altersunabhängig gegenseitig Beistand<br />

und Rücksicht bzw. Unterhalt (§§ 1618a, 1601 ff., 1589 BGB). Zudem<br />

üben die Eltern das Sorgerecht über ihre minderjährigen Kinder aus<br />

(§§ 1626 ff. BGB) und bestimmen so über die Geschicke der Familie<br />

(familiäre Verantwortungswahrnehmung).<br />

173


Die Monatszeitschrift<br />

Freilich bleibt trotz einer möglichen Rechtfertigung des<br />

Familien(divisoren)splittings aus der freien Gestaltung des<br />

Familienzusammenlebens der schale Beigeschmack, dass<br />

die gleichmäßige Verantwortungsübernahme in der Familie<br />

jedenfalls teilweise Fiktion ist. 44 Bestimmen doch v. a. die<br />

Eltern als Verdiener über die Einkommensverwendung; für<br />

die reale Verantwortungsübernahme der Kinder bleibt wenig<br />

Raum. Bei einem Systemwechsel zum Familien(divisoren)<br />

splitting 45 wäre weiter zu bedenken, dass es in Reinform<br />

den Splittingeffekt für gut verdienende Familien mit jedem<br />

weiteren Kind verstärkt. 46 So kann es bei Familien mit höheren<br />

Einkommen schnell zu einer Überkompensation bestehender<br />

Unterhaltsansprüche und zu einer Verzerrung der<br />

wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Betroffenen führen.<br />

Denn die kindesbedingte Leistungsfähigkeitsminderung ist<br />

mit der Berücksichtigung der Unterhaltsverpflichtungen<br />

jedenfalls abgedeckt. Die Besserstellung von Familien mit<br />

höheren Einkommen ist auch nicht durch das Fördergebot<br />

des Art. 6 Abs. 1 GG gedeckt; dies rechtfertigt nur eine<br />

Besserstellung von Familien gegenüber Nicht-Familien. Zu<br />

bedenken ist andererseits, dass der Effekt eines Familiensplittings<br />

durch privatrechtliche Gestaltungen zwischen Familienangehörigen<br />

herbeigeführt werden kann, indem ein<br />

Teil der Einkünfte auf die Kinder übertragen wird (z.B. die<br />

Übertragung von Vermietungs objekt von den Eltern auf die<br />

Kinder); dies mag die genannte Ungleichbehandlung unter<br />

Umständen rechtfertigen.<br />

Jedenfalls wäre aus fiskalischen Gründen eine Begrenzung<br />

des Splittingvorteils 47 und daneben eine ergänzende allgemeine<br />

Familienförderung notwendig, was der Steuervereinfachung<br />

nicht dienen würde. Umsetzungsschwierigkeiten<br />

würden ggf. auch die Begrenzung des in das Familiensplitting<br />

einzubeziehenden Personenkreises sowie die Berechnung<br />

ergänzender Freibeträge für Betreuungs- und<br />

Erziehungsaufwand bereiten, wollte man solche für nötig<br />

erachten. 48<br />

Zu kritisieren ist das Nebeneinander von Kindergeld und<br />

steuerlichen Kinderfreibeträgen, durch die die Besteuerung<br />

der Eltern gerade nach ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit<br />

verschleiert wird. Im Interesse der Transparenz von<br />

Besteuerung und Sozialtransfers sollten am Bedarf der<br />

Familie orientierte staatliche Transferleistungen aus dem<br />

Steuerrecht entfernt und ins Sozialrecht integriert, v.a. aber<br />

im Steuerrecht nicht ausgedehnt werden. Kinder sollten bei<br />

der Einkommensteuer allein durch einen realitätsgerechten<br />

Kinderfreibetrag berücksichtigt werden. Das Kindergeld<br />

sollte davon getrennt im Sozialrecht geregelt werden. Der<br />

Höhe nach wäre es sachgerecht, Kinderfreibetrag und Kindergeld<br />

gleich hoch anzusetzen. Dabei sollte es nur eine Art<br />

der Sozialförderung von Kindern geben, d.h. das Kindergeld<br />

sollte alle Bestandteile des Kindesexistenzminimums umfassen.<br />

Als Reformalternativen für eine leistungsfähigkeitsgerechte<br />

Familienbesteuerung wäre das (Familien-)Realsplitting<br />

möglich, wogegen freilich der damit einhergehende<br />

administrative Mehraufwand spricht. Die Verlängerung der<br />

sog. Nullzone (Grundfreibetrag) um einen sog. Kindergrundfreibetrag<br />

erscheint dagegen durchaus erwägenswert. Mit<br />

der Einführung eines Familien(divisoren)splittings vollzöge<br />

der Gesetzgeber einen fragwürdigen Systemwechsel.<br />

Was die Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsleben<br />

betrifft, wäre ein Abzug erwerbsbedingter Kinderbetreuungskosten<br />

– Kosten einer Fremdbetreuung während der<br />

Arbeitszeit – in tatsächlicher Höhe als Betriebsausgaben/<br />

Werbungskosten zu empfehlen.<br />

Stets gilt es zu bedenken: Wird das Steuerrecht als Mittel<br />

der Familienpolitik eingesetzt, läuft dies seiner originären<br />

Zielsetzung zuwider, nämlich in möglichst transparenter<br />

Weise für die gleichmäßig nach einem einfachen System<br />

Besteuerten den Finanzbedarf des Staates zu decken.<br />

D. De lege ferenda<br />

Das Ehegattensplitting sollte beibehalten werden. Die<br />

Einbeziehung eingetragener Lebenspartnerschaften in das<br />

Splittingverfahren ist systemkonform. Eine Ausdehnung<br />

auf alle tatsächlichen Verantwortungsgemeinschaften ist<br />

dagegen schon aus Gründen der Rechtssicherheit nicht zu<br />

empfehlen. Eine Ausdehnung auf Eltern-Kind-Beziehungen<br />

widerspricht Struktur und Zielsetzung des Splittings,<br />

da es sich nicht um Erwerbsgemeinschaften handelt. Aus<br />

demselben Grund scheidet auch eine Einbeziehung Alleinerziehender<br />

aus. Deren Berücksichtigung durch den<br />

Entlastungsbetrag für Alleinerziehende (§ 24b EStG) erscheint<br />

adäquat.<br />

44 Vgl. Bareis, DStR 2010, 565, 573.<br />

45 Vgl. Jachmann, Familienbesteuerung kompakt, 2010, S. 17; Jachmann,<br />

FR 2010, 123, 124.<br />

46 Krit. Sacksofsky in: Ehegattensplitting und Familienpolitik, 2007,<br />

S. 348 f.; dafür aber Seiler in: Ehegattensplitting und Familienpolitik<br />

2007, S. 7, 23 ff., 29 f.; ebenso Merkt, DStR 2009, 2221, 2224 ff. Eine<br />

Erstreckung des Splittingvorteils auf Alleinerziehende mit Kindern ist<br />

nach der Rechtsprechung des BVerfG (BVerfG, Urt. v. 03.11.1982 -<br />

1 BvR 620/78, 1335/78, 1104/79, 363/80 - BVerfGE 61, 319, 348;<br />

verdeutlicht durch BVerfG, Beschl. v. 10.11.1998 - 2 BvR 1057/91,<br />

1226/91, 980/91 - BVerfGE 99, 216, 230) und des BFH (BFH, Beschl.<br />

v. 17.10.2012 - III B 68/12 - BFH/NV 2013, 362, 364) jedenfalls nicht<br />

geboten.<br />

47 In diesem Sinne BT-Drs. 14/23, S. 180.<br />

48 So Merkt, DStR 2009, 2221, 2225.<br />

174


BÜCHERSCHAU<br />

JM 4 APRIL<br />

2016<br />

Michael Stolleis, Margarethe und der<br />

Mönch – Rechtsgeschichte in Geschichten<br />

C.H.Beck, 2015, 352 Seiten mit 23 Abbildungen,<br />

gebunden, 24,95 €, ISBN 978-3-406-68209-4<br />

Michael Martinek<br />

Zugegeben: Ich habe diese Rezension aus einem bibliophilen<br />

Affekt heraus übernommen, denn ich kannte dieses<br />

Buches schon, hatte es zum Geburtstag bekommen, bewundern<br />

und lieben gelernt und wollte einfach das zusätzliche<br />

unentgeltliche „Rezensionsexemplar“ meinerseits zu<br />

Weihnachten verschenken. Ich bin von dem Buch begeistert.<br />

Es ist ein Meisterwerk des rechtswissenschaftlichen,<br />

genauer: rechtskulturgeschichtlichen Feuilletons.<br />

Der hochgeehrte Meister: Michael Stolleis, bis 2006 Professor<br />

für Öffentliches Recht und Neuere Rechtsgeschichte an<br />

der Goethe Universität Frankfurt am Main, bis 2009 Direktor<br />

am dortigen Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte,<br />

Leipniz-Preisträger, vielfacher Ehrendoktor, den<br />

meisten von uns vielleicht bekannt durch seine vierbändige<br />

Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland.<br />

Das bewundernswerte Werk: In zwanzig „rechtshistorischen<br />

Miniaturen“, jede etwa zehn, fünfzehn, gelegentlich auch<br />

zwanzig Seiten lang, präsentiert, besser: erzählt und erläutert<br />

Michael Stolleis „Rechtsgeschichte in Geschichten“. Er<br />

entfaltet kleine Studien über Personen und Ereignisse der<br />

Geschichte und der Literatur vom Spätmittelalter bis in die<br />

Gegenwart, und entfaltet in jeder dieser Studien rechtliche<br />

Betrachtungen und Hintergründe. Lustige und traurige Streitfälle,<br />

eigenartige und ungewöhnliche Prozessverläufe stehen<br />

im Mittelpunkt des aus Archiven und Akten oder aus wissenschaftlichen<br />

Literaturquellen geschöpften Stoffes. Nicht<br />

nur die unterhaltsame Nacherzählung, sondern vor allem<br />

die rechtshistorische Aussagekraft, Prototypik oder Charakteristik<br />

der Geschichten und die tief gelehrte Aufbereitung<br />

bieten ein höchst eindrucksvolles, ebenso vergnügliches wie<br />

lehrreiches Leseerlebnis. Nicht jede der Studien ist völlig neu;<br />

einige hatten schon als Festschrift- oder Zeitschriftenbeiträge<br />

eine Veröffentlichung erfahren. Alle Beiträge sind jedoch<br />

in gelungener Weise zu einem auch durch Abbildungen und<br />

Anmerkungen in Fußnoten (nicht am jeweiligen Seitenende<br />

unter dem Text, sondern erst zusammengefasst am Schluss<br />

des Buches) bereicherten Gesamtwerk zusammengefasst.<br />

Bekanntlich wählt Reinhard Zimmermann mit einigen Kollegen<br />

jährlich einige Werke als „juristische Bücher des Jahres“<br />

für seine „Leseempfehlung“ aus; es geht um Bücher, „deren<br />

Lektüre sich für jeden lohnt, der seinen Blick noch vom täglichen<br />

Getriebe seiner beruflichen Tätigkeit zu lösen vermag“<br />

(NJW 2015, 3013). Das Meisterwerk von Michael Stolleis<br />

wäre mein Kandidat.<br />

Hesselmann/Tillmann/Mueller-Thuns, Handbuch<br />

GmbH & Co. KG<br />

Herausgegeben von Malte Hesselmann/Bert Tillmann/<br />

Thomas Mueller-Thuns<br />

Dr. Otto Schmidt Verlag, 21. Aufl. 2016, 1.401 Seiten,<br />

Hardcover, 149,00 €, ISBN 978-3-504-32520-6<br />

Michael Martinek<br />

Sie haben richtig gelesen: 21. Auflage! Die Erstauflage<br />

stammte von 1959 und war von Malte Hesselmann unter<br />

dem Titel „Die GmbH & Co“ als broschiertes Büchlein in Alleinautorenschaft<br />

verfasst, dann aber Schritt für Schritt bis<br />

zur 16. Auflage 1980 zur „systematischen Darstellung in<br />

betriebswirtschaftlicher, handelsrechtlicher und steuerrechtlicher<br />

Sicht“ ausgebaut worden. Das Werk wurde sodann<br />

von Bert Tillmann fortgeführt und wird seit der 19. Auflage<br />

2005 von Thomas Mueller-Thuns herausgegeben, der auch<br />

einer von inzwischen vierzehn Mitautoren ist. Kurz: ein Standardwerk,<br />

übrigens ausschließlich von Praktikern (Rechtsanwälten,<br />

Steuerberatern, Wirtschaftsprüfern und Richtern)<br />

geschrieben – und es ist nicht übertrieben zu sagen, dass<br />

diesem vielzitierten Werk, vor allem seinem „Urvater“, ein<br />

wesentlicher, ja historischer Anteil daran zuzusprechen ist,<br />

dass sich die GmbH & Co KG zu dem gemausert hat, was sie<br />

heute ist: Sie hat in der Praxis längst das Profil einer herausragend<br />

wichtigen und eigenständigen Gesellschaftsrechtsform<br />

gewonnen, mag sie in der gesellschaftsrechtlichen<br />

Lehrbuch- und Kommentarliteratur auch oft noch stiefmütterlich<br />

behandelt und wegen des dogmatischen numerus<br />

clausus der Gesellschaftsrechtsformen als bloße Variante<br />

der KG und als Beispiel einer „Grundtypenvermischung“ zur<br />

Kombination der Vorteile einer Kapitalgesellschaft mit denen<br />

einer Personengesellschaft mitbehandelt werden.<br />

Das inzwischen wahrlich ausgereifte Handbuch präsentiert<br />

zur hellen Freude der Benutzer in der alltäglichen<br />

Gestaltungs- und Beratungspraxis systematische und<br />

themenorientierte Aufbereitungen aller Wissens- und Verständnisbestände<br />

zur GmbH § Co KG und ihren vielfältigen<br />

Ausgestaltungsformen. Es versteht sich, dass dabei<br />

die steuerrechtlichen Perspektiven stets gegenwärtig sind.<br />

Der Aufbau des Werks lehnt sich weithin an den „Lebenszyklus“<br />

einer GmbH & Co KG von der Gründung bis zur<br />

Liquidation (bzw. Insolvenz) an, ermöglicht aber dank der<br />

gliederungstechnischen Übersichtlichkeit leicht einen sachverhalts-<br />

oder problemgeleiteten Quereinstieg sowie eine<br />

vertiefte Verfolgung und Klärung von Einzelfragen, wozu<br />

auch die zahlreichen kautelarischen Gestaltungsvorschläge<br />

und Formulierungshilfen beitragen. Ein fast sechzigseitiger<br />

Anhang mit sechs Muster-Verträgen und ein absolut vorbildliches<br />

fünfzigseitiges Stichwortverzeichnis schließen<br />

das Werk ab. Chapeau!<br />

175


Die Monatszeitschrift<br />

DIE AUTOREN<br />

Dr. Hanno Gorius<br />

Richter am Landgericht<br />

Sebastian Belz, LL.M.<br />

Rechtsreferendar<br />

Dr. K.-Peter Horndasch<br />

Studium der Rechtswissenschaften in Saarbrücken<br />

(Dr. iur.) und Lausanne. Referendariat<br />

in Koblenz, Brüssel und Edinburgh. Seit<br />

2014 Richter in Kaiserslautern.<br />

Rechtsanwalt und Fachanwalt für<br />

Familienrecht sowie Notar<br />

Studium der Rechtswissenschaften an der<br />

Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.<br />

Studentische Hilfskraft am Institut für<br />

Umwelt- und Planungsrecht bei Prof. em. Dr.<br />

Hans D. Jarass, LL.M. (Harvard). Erste juristische<br />

Staatsprüfung 2013. LL.M.-Studium<br />

„International Law“ an der University of the<br />

West of England Bristol. Seit 2014 Rechtsreferendar am OLG Celle.<br />

Prof. Dr. Monika Jachmann-Michel<br />

Richterin am Bundesfinanzhof<br />

Studium und Promotion (Familienrecht) in<br />

Göttingen, Rechtsanwalt seit 1978, Notar<br />

seit 1980, Fachanwalt für Familienrecht<br />

seit 1997, Mediator seit 2002; Autor einiger<br />

Bücher und diverser Aufsätze in NJW, Fam-<br />

RZ, FuR etc. Mitherausgeber FuR-Familie<br />

und Recht, Referent für Familienrecht für einige Anbieter, Mitglied des<br />

Gesetzgebungsausschusses Familienrecht des DAV.<br />

Klaus Bepler<br />

Vorsitzender Richter am Bundesarbeitsgericht<br />

a.D.<br />

Klaus Bepler war von 1980 bis 2012 Richter<br />

in der Arbeitsgerichtsbarkeit, zuletzt seit Ende<br />

2004 als Vorsitzender des Vierten (Tarif-)Senats<br />

des Bundesarbeitsgerichts. Er ist Honorarprofessor<br />

für Arbeits- und Zivilprozessrecht der<br />

Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Er ist dort in der Lehre sowie<br />

in der Fachanwaltsweiterbildung, als Mitherausgeber von Fachzeitschriften,<br />

Internetmedien und Fachbüchern und als Mitschlichter bei Caritas und Zentral-KODA<br />

tätig. Seine Publikationen behandeln u.a. Fragen des Tarifvertragsund<br />

Betriebsrentenrechts sowie des Kirchen- und des Sportarbeitsrechts.<br />

Ernst Hunsicker<br />

Diplom-Verwaltungswirt, Kriminaldirektor<br />

a.D.<br />

Studium für den höheren Polizeivollzugsdienst<br />

1981 an der Polizei-Führungsakademie<br />

Münster (jetzt: Deutsche Hochschule der<br />

Polizei). Danach Verwendung als Fachlehrer<br />

an Polizeischulen und in verschiedenen Führungsfunktionen.<br />

Von 1994 bis zu seiner<br />

Pensionierung (2004) war der Autor Leiter des Zentralen Kriminaldienstes<br />

(ZKD) bei der Polizeiinspektion Osnabrück-Stadt und zugleich stellvertretender<br />

Inspektionsleiter. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Kriminalitätsverfolgung<br />

und -verhütung, zum – auch kundenorientierten – Einsatz der<br />

Polizei sowie zum nicht nur polizeilich relevanten Recht (Schwerpunkt:<br />

Präventive Gewinnabschöpfung).<br />

Auf die Tätigkeit im Bayerischen Staatsministerium<br />

der Finanzen und Habilitation folgten<br />

eine Professur an der Universität Heidelberg<br />

sowie staats-und steuerrechtliche Lehrstühle<br />

an den Universitäten Jena und Hamburg.<br />

Seit 2005 Richterin am Bundesfinanzhof im<br />

VIII. und IX. Senat sowie Lehre an der LMU<br />

München. Derzeitiger Arbeitsschwerpunkt: Besteuerung der privaten<br />

Vermögensverwaltung.<br />

IMPRESSUM<br />

Herausgeber: Vors. Richter am BSG Prof. Dr. Thomas Voelzke, Kassel<br />

Richterin am BFH Prof.Dr. Monika Jachmann-Michel, München<br />

Vizepräsident des LG Holger Radke, Mannheim<br />

Prof. Dr. Stephan Weth, Universität des Saarlandes, Saarbrücken<br />

Rechtsanwalt Prof. Dr. Christian Winterhoff, Hamburg<br />

Expertengremium: Vors. Richter am BGH a.D. Wolfgang Ball, Lemberg<br />

Rechtsanwalt Prof. Dr. Guido Britz, Homburg<br />

Vizepräsident des LAG a.D. Dr. Heinz-Jürgen Kalb, Köln<br />

Richter am BVerwG Prof. Dr. Harald Dörig, Leipzig<br />

Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. mult. Michael Martinek, Universität des Saarlandes,<br />

Saarbrücken<br />

Weiterer aufsichtsführender Richter am AG a. D. Dr. Wolfram Viefhues, Oberhausen<br />

Redaktion: Rechtsanwalt Daniel Schumacher, stv. Ass. iur. Sebastian Butschkau<br />

Medieninhaber und Verlag: juris GmbH, Juristisches Informationssystem<br />

für die Bundesrepublik Deutschland, Gutenbergstraße 23, 66117 Saarbrücken,<br />

Tel.: 0681 5866-0, Fax: 0681 5866-239, E-Mail: jM@juris.de<br />

Geschäftsführer: Samuel van Oostrom, Johannes Weichert, Aufsichtsratsvorsitzender:<br />

Ministerialdirektor a.D. Gerrit Stein<br />

Manuskripte: Der Verlag haftet nicht für Manuskripte, die unverlangt eingesendet<br />

werden. Mit Annahme der Veröffentlichung erwirbt der Verlag das aus -<br />

schließliche Verlagsrecht, insbesondere auch das Recht zur Herstellung elektro -<br />

nischer Versionen sowie das Recht zu deren Vervielfältigung onlineoder offline<br />

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Urheber-und Verlagsrechte: Alle veröffentlichten Beiträge sind urheberrecht -<br />

lich geschützt. Das gilt auch für die Leitsätze der Gerichtsentscheidungen, soweit<br />

sie vom Autor bearbeitet wurden. Der Rechtsschutz gilt auch gegenüber<br />

Datenbanken und ähnlichen Einrichtungen. Eine Reproduktion oder Übertragung<br />

in maschinenlesbare Sprache ist – außerhalb der engen Grenzen des<br />

Urheberrechtsgesetzes – nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags gestattet.<br />

Erscheinungsweise: 11 Ausgaben jährlich, davon ein Doppelheft (August/<br />

September), sowie als Beilage zum Anwaltsblatt<br />

Bezugspreis: Im Jahresabonnement 180,- Euro zuzüglich Versandkosten incl.<br />

Online-Zugang unter juris.de<br />

Das Jahresabonnement verlängert sich um ein Jahr, wenn es nicht sechs Wochen<br />

vor Jahresende gekündigt wird.<br />

Bestellungen: Über jede Buchhandlung und beim Verlag<br />

Satz: Datagroup Int., Timisoara<br />

Druck: L.N. Schaffrath GmbH &Co.KG Druck Medien, Marktweg 42-50, 47608<br />

Geldern<br />

ISSN: 2197-5345<br />

176


NEUES VON juris<br />

JM 4 APRIL<br />

2016<br />

NEU: juris PraxisKommentar SGB IV<br />

Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung<br />

3. Auflage 2016 mit dem geänderten Meldeverfahren<br />

nach dem 5. SGB IV-ÄndG online<br />

• Beitragseinzug aller Sozialversicherungen<br />

• Meldepflichten des Arbeitsgebers und Übermittlungsverfahren<br />

• Träger der Sozialversicherung und Versicherungsbehörden<br />

Die 29 Autorinnen und Autoren sind erfahrene Praktiker,<br />

die sich als Richterinnen und Richter in der Sozialgerichtsbarkeit<br />

und als Experten bei den Sozialversicherungsträgern<br />

und den Hochschulen mit den<br />

Kernfragen des Rechtsgebiets beschäftigen.<br />

Folgende wichtige Gesetze und Verordnungen aus<br />

dem Jahr 2015 wurden berücksichtigt:<br />

• 5. Gesetz zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch<br />

(5. SGB IV-ÄndG) v. 15.04.2015 –<br />

BGBl. I 2015, 583 – „Neues Meldeverfahren“<br />

• 10. Zuständigkeitsanpassungsverordnung<br />

v. 31.08.2015 – BGBl. I 2015, 1474<br />

• Gesetz zur Bereinigung des Rechts der Lebenspartner<br />

v. 20.11.2015 – BGBl. I 2015, 2010<br />

Durch die zeitnahe und kontinuierliche Aktualisierung<br />

des Kommentars behalten Sie die Entwicklungen in<br />

Gesetzgebung, Rechtsprechung und Literatur auch<br />

künftig immer im Blick.<br />

Zahlreiche Links auf zitierte Entscheidungen, Normen<br />

und Literaturnachweise sparen Zeit bei der Recherche<br />

und garantieren Ihnen Rechtssicherheit.<br />

Weitere Informationen unter: www.juris.de/sgbiv<br />

Gesamtherausgeber: Schlegel/Voelzke<br />

Bandherausgeber: Prof. Dr. Rainer Schlegel<br />

An der Schnittstelle zwischen den Aufgaben der<br />

Sozialversicherungsträger und der praktischen Anwendung<br />

in den Betrieben sind die gemeinsamen<br />

Vorschriften des SGB IV von besonderer Bedeutung.<br />

Die Neuauflage des vielfach zitierten juris PraxisKommentars<br />

enthält das geänderte Meldeverfahren nach<br />

dem 5. SGB IV-ÄndG und berücksichtigt den aktuellen<br />

Rechtsstand bis Januar 2016.<br />

Orientiert an den Anforderungen der Praxis erläutern<br />

die Autorinnen und Autoren die für das Renten-, Kranken-,<br />

Unfall- und Pflegeversicherungs- sowie das Arbeitsförderungsrecht<br />

gleichsam geltenden Vorschriften.<br />

Im Mittelpunkt stehen folgende Themen:<br />

• Sozialversicherungspflicht, selbstständige Tätigkeit<br />

und geringfügige Beschäftigung<br />

• Arbeitsentgelt und sonstige Einkommen<br />

juris Webinare<br />

Um an unseren unverbindlichen und kostenlosen juris<br />

Webinaren teilzunehmen, benötigen Sie einen Internetanschluss,<br />

einen installierten Flash-Player und<br />

einen Computer mit Lautsprechern, Kopfhörern oder<br />

Headset. Infos zum Ablauf und zur Anmeldung unter:<br />

www.juris.de/webinare<br />

Basis I Einführung in die juris Recherche<br />

06.04.2016, 14:00 – 15:00 Uhr<br />

27.04.2016, 11:00 – 12:00 Uhr<br />

18.05.2016, 11:00 – 12:00 Uhr<br />

Basis II Personalisierungsfunktionen<br />

20.04.2016, 14:00 – 15:00 Uhr<br />

25.05.2016, 11:00 – 12:00 Uhr<br />

XV


Die Monatszeitschrift<br />

NEUES VON juris<br />

Fortgeschrittenen-Webinar<br />

14.04.2016, 14:00 – 15:00 Uhr<br />

12.05.2016, 10:00 – 11:00 Uhr<br />

Normen-Webinar<br />

21.04.2016, 10:00 – 11:00 Uhr<br />

19.05.2016, 14:00 – 15:00 Uhr<br />

Veranstaltungen<br />

Treffen Sie uns vor Ort auf den führenden deutschen<br />

Fachmessen. Aktuelle Termine finden Sie online unter:<br />

www.juris.de/veranstaltungen<br />

Informationsforum Frankfurt<br />

13.04.2016<br />

Informationsforum Kiel<br />

27.04.2016<br />

Informationsforum Schwerin<br />

11.05.2016<br />

Informationsforum Hamburg<br />

08.06.2016<br />

DAV Anwaltforum, Frankfurt (LAT Frankfurt)<br />

08.04.2016<br />

Informationsforum Köln<br />

15.06.2016<br />

Landesverbandstag NRW, Köln (LAT NRW)<br />

15.04.2016<br />

Informationsforum Berlin<br />

22.06.2016<br />

LAT Sachsen<br />

20. – 23.04.2016<br />

BDA Geschäftsführerkonferenz, Koblenz<br />

17. – 18.05.2016<br />

Informationsforen<br />

Wir veranstalten regelmäßig Informationsforen in ganz<br />

Deutschland. Vor Ort führen wir Sie in unsere Datenbank-Recherche<br />

ein und zeigen Ihnen Tipps und Tricks<br />

zur schnelleren Suche. Aktuelle Termine finden Sie auch<br />

immer online unter: www.juris.de/veranstaltungen<br />

Einbanddecke 2014/2015 für juris – Die Monatszeitschrift<br />

Ab Januar 2016 können für die monatlich erscheinende<br />

Fachzeitschrift jM auch Einbanddecken über unseren<br />

jurisAllianz-Partner Verlagsgruppe Hüthig Jehle<br />

Rehm bestellt werden. Der Preis der Einbanddecke<br />

(Ausl.-Nr.: HR193320) für die 22 Hefte der Jahrgänge<br />

2014/2015 inkl. Jahresverzeichnis beträgt 15 € inkl.<br />

MwSt.<br />

Kontaktdaten:<br />

• per Telefon: 089 / 2183 7928<br />

• per E-Mail: kundenservice@hjr-verlag.de<br />

XVI


juris PartnerModul<br />

Miet- und<br />

Wohnungseigentumsrechtentumsrecht<br />

partnered by C.F. Müller | De Gruyter | Dr. Otto Schmidt | Erich Schmidt Verlag<br />

Das Online-Modul beinhaltet führende Literatur aus vier Verlagshäusern zu den Rechtsbereichen Miete<br />

und Wohnungseigentum und liefert für jede Rechtsfrage eine Lösung.<br />

Alle Werke sind für die Online-Nutzung in der bewährten juris Qualität aufbereitet.<br />

Dank der professionellen Verlinkung mit der juris Rechtsprechung, dem<br />

juris Bundesrecht und den verlagsunabhängigen juris Literaturnachweisen<br />

recherchieren Sie effektiv und komfortabel – von A wie Abgeltungsklausel über<br />

Abrechnung, außerordentliche Kündigung, Betriebskosten, Gebrauchsgewähr,<br />

Gewährleistung, Kündigungsschutz, Mietsicherung, Mieterhöhung, Mietprozess,<br />

Schönheitsreparatur, Vertragsgestaltung bis Z wie Zwangsvollstreckung und<br />

Zwischenmiete.<br />

Inhalt<br />

Aktuelles Gewerberaummietrecht, Burbulla<br />

Handbuch für Wohnungseigentümer und Verwalter, Röll/Sauren<br />

Miete, Emmerich/Sonnenschein<br />

Mietrecht aktuell, Sternel<br />

Mietrecht, Lützenkirchen<br />

Miet-Rechts-Berater, mietrb<br />

WEG, Jennißen<br />

WEG, Spielbauer/Then<br />

Wohnungseigentum, Becker/Kümmel/Ott<br />

Wohnungswirtschaft und Mietrecht, WuM<br />

und viele weitere Titel<br />

+ Rechtsprechung, Gesetze und Literaturnachweise von juris<br />

Mehr Informationen unter: www.juris.de/weg


Schlegel Voelzke Engelmann<br />

juris PraxisKommentar SGB V<br />

Neu: 3. Auflage<br />

Jetzt neu mit SGB V-Novellen!<br />

Die Neuauflage kommentiert die wichtigen Gesetzesnovellen, die das SGB V<br />

in 2015 und 2016 prägen. Neben dem GKV-VSG und dem PräVG werden die<br />

Reformen durch das Krankenhausstrukturgesetz (KHSG) und die Verbesserungen<br />

bei der Hospiz- und Palliativversorgung (HPG) berücksichtigt. Der mit der juris<br />

Datenbank verlinkte Online-Kommentar wird ständig aktualisiert.<br />

www.juris.de/sgbv

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