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Herausgeber:<br />
Prof. Dr. Monika Jachmann-Michel Holger Radke Prof. Dr. Thomas Voelzke Prof. Dr. Stephan Weth RA Prof. Dr. Christian Winterhoff<br />
M 4 APRIL<br />
2016<br />
Die Monatszeitschrift<br />
Topthema:<br />
Das „Gaffer-Phänomen“<br />
im Straßen verkehr<br />
Dipl.-Verww. Ernst Hunsicker und<br />
Ref. iur. Sebastian Belz, LL.M.<br />
In dieser Ausgabe:<br />
Kollektive Durchsetzung<br />
kartelldeliktsrechtlicher<br />
Ansprüche – Deutschland<br />
unter Zugzwang<br />
RiLG Dr. Hanno Gorius<br />
Die Rechtsprechung zur<br />
Unwirksamkeit von<br />
Eheverträgen<br />
RA und FA für Familienrecht,<br />
Notar Dr. K.-Peter Horndasch<br />
Arbeitsrechtliche Sonderwege<br />
im bezahlten<br />
Fußball? (Teil 2)<br />
VRiBAG a.D. Klaus Bepler<br />
Steuer(un)gerechtigkeit<br />
für Familien?<br />
RiBFH Prof. Dr. Monika Jachmann-Michel<br />
Die<br />
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Expertengremium:<br />
Wolfgang Ball | RA Prof. Dr. Guido Britz | Prof. Dr. Harald Dörig | Dr. Heinz-Jürgen Kalb | Prof. Dr. mult. Michael Martinek | Dr. Wolfram Viefhues<br />
INHALT<br />
JM 4 APRIL<br />
2016<br />
AUFSÄTZE UND ANMERKUNGEN<br />
Zivil- und Wirtschaftsrecht<br />
Kollektive Durchsetzung kartelldeliktsrechtlicher<br />
Ansprüche –<br />
Deutschland unter Zugzwang<br />
RiLG Dr. Hanno Gorius S. 134<br />
Die Rechtsprechung zur Unwirksamkeit<br />
von Eheverträgen<br />
RA und FA für Familienrecht,<br />
Notar Dr. K.-Peter Horndasch S. 139<br />
Hintergrundmusik in Zahnarztpraxen<br />
BGH, Urt. v. 18.06.2015 - I ZR 14/14<br />
Prof. Dr. Hannes Ludyga S. 146<br />
Schadensersatz wegen Nichtgewährung<br />
eines KiTa-Platzes<br />
OLG Dresden, Urt. v. 26.08.2015 - 1 U 319/15<br />
RA und FA für IT-Recht Wolfgang Kuntz S. 148<br />
Arbeitsrecht<br />
Arbeitsrechtliche Sonderwege im<br />
bezahlten Fußball? (Teil 2)<br />
VRiBAG a.D. Klaus Bepler S. 151<br />
Reichweite der Bindung des Berufungsgerichts<br />
nach Zurückverweisung<br />
LArbG Hamm, Urt. v. 22.01.2015 - 17 Sa 1617/14<br />
RA Dr. Wulf Gravenhorst S. 154<br />
Sozialrecht<br />
Leistungsausschluss im SGB II für EU-Bürger<br />
– Sozialhilfeanspruch bei Aufenthaltsdauer<br />
von über sechs Monaten<br />
BSG, Urt. v. 03.12.2015 - B 4 AS 44/15 R<br />
RiSG Johannes Greiser S. 156<br />
XIII
Die Monatszeitschrift<br />
INHALT<br />
Topthema:<br />
AUFSÄTZE UND ANMERKUNGEN<br />
Verwaltungsrecht<br />
Das „Gaffer-Phänomen“ im Straßenverkehr<br />
Dipl.-Verww. Ernst Hunsicker und<br />
Ref. iur. Sebastian Belz, LL.M. S. 160<br />
Subjektiver Rechtsschutz, Einwendungspräklusion<br />
und Bestandskraft – klare<br />
Worte vom EuGH?<br />
EuGH, Urt. v. 15.10.2015 - C-137/14<br />
RiVG Dr. Thomas Jacob S. 166<br />
Steuerrecht<br />
BÜCHERSCHAU<br />
Steuer(un)gerechtigkeit für Familien?<br />
RiBFH Prof. Dr. Monika Jachmann-Michel S. 168<br />
Michael Stolleis, Margarethe und der Mönch –<br />
Rechtsgeschichte in Geschichten<br />
Univ.-Prof. Dr. Dr. Dr. mult. Michael Martinek,<br />
M.C.J. (New-York Univ.), Hon.-Prof. (Johannesburg) S. 175<br />
Hesselmann/Tillmann/Mueller-Thuns, Handbuch<br />
GmbH & Co. KG<br />
Univ.-Prof. Dr. Dr. Dr. mult. Michael Martinek,<br />
M.C.J. (New-York Univ.), Hon.-Prof. (Johannesburg) S. 175<br />
XIV
EDITORIAL<br />
JM 4 APRIL<br />
2016<br />
Das Gaffen bei Unglücksfällen – nur eine lässliche Sünde?<br />
In unserem Topbeitrag leuchten die Autoren Ernst Hunsicker<br />
und Christoph Belz die Untiefen des Gaffer-Phänomens<br />
im Straßenverkehr nach geltendem Recht aus. Die<br />
Untersuchung behandelt Aspekte des Straf- und Ordnungswidrigkeitenrechts,<br />
des Schutzes des Persönlichkeitsrechts<br />
sowie des Gefahrenabwehrrechts. Die Bestandsaufnahme<br />
weist aus, dass die Rechtsordnung bereits einen ganzen<br />
Strauß von Reaktionsmöglichkeiten bereithält. Gleichwohl<br />
erscheinen Bestrebungen – zuletzt aus Niedersachsen – de<br />
lege ferenda Rettungseinsätze und Opfer besser zu schützen,<br />
als durchaus nachvollziehbar. Die Autoren weisen<br />
allerdings darauf hin, dass die eigentliche Problematik bereits<br />
nach geltendem Recht in der mangelnden faktischen<br />
Durchsetzung der rechtlichen Möglichkeiten liegt, weil der<br />
Fokus der am Einsatz beteiligten Kräfte zwangsläufig auf<br />
Hilfsmaßnahmen in der Notsituation, nicht jedoch auf die<br />
Verfolgung von Normverstößen und Beweissicherungsmaßnahmen<br />
gerichtet ist. Insofern stellt sich die Erprobung<br />
und Verwendung eines Sichtschutzes in Gestalt von „Anti-<br />
Gaffer-Planen“ als ausbaufähige Präventionsmaßnahme<br />
dar. Noch dringlicher dürfte allerdings die Aufklärung über<br />
die möglicherweise fatalen Folgen des Gaffens sein – hierzu<br />
leistet die jM mit ihrem aktuellen Topthema einen Beitrag.<br />
Prof. Dr. Thomas Voelzke<br />
Vorsitzender Richter am Bundessozialgericht<br />
Bei einem Gaffer handelt es sich nach dem Deutschen<br />
Wörterbuch der Gebrüder Jacob und Wilhelm Grimm um<br />
einen „neugierigen, müszigen zuschauer“. Würde sich<br />
das uns allen bekannte Phänomen des Gaffens bei Notfällen<br />
tatsächlich auf die kurze Befriedigung der jedem<br />
Menschen innewohnenden Sensationslust beschränken,<br />
so wäre diese Verhaltensweise vielleicht ärgerlich, jedoch<br />
keiner näheren juristischen Betrachtung wert. Leider verhält<br />
es sich anders, denn das Gaffen umschreibt über den<br />
ursprünglichen Wortsinn hinaus inzwischen einen komplexen<br />
Vorgang, der nicht nur das Betrachten eines Notfalls<br />
selbst, sondern gege benenfalls auch die Behinderung<br />
von Rettungskräften und Verkehr sowie das Filmen mittels<br />
Handy und das anschließende Veröffentlichen der Notsituation<br />
im Netz umfasst.<br />
Zu den rechtspolitischen Dauerbrennern rechnen Fragestellungen,<br />
die das Verhältnis von Steuerrecht einerseits<br />
und dem verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie<br />
andererseits in den Blick nehmen. Monika Jachmann-<br />
Michel stellt hierbei in ihrem Beitrag „Steuer(un)gerechtigkeit<br />
für Familien“ das Ehegattensplitting und den steuerlichen<br />
Familienlastenausgleich auf den Prüfstand. Sie<br />
legt hinsichtlich des Ehegattensplittings nachvollziehbar<br />
dar, dass es gerade die freie Gestaltung des Zusammenlebens<br />
der Ehegatten vor staatlicher Einflussnahme schützt.<br />
Sämtliche Reformüberlegungen müssen diesen in der politischen<br />
Diskussion häufig vernachlässigten Gesichtspunkt<br />
in den Blick nehmen. Hinsichtlich des Familienlastenausgleichs<br />
unterzieht Monika Jachmann-Michel das Nebeneinander<br />
von Kindergeld und steuerlichen Kinderfreibeträgen<br />
einer kritischen Untersuchung. Sie plädiert für eine systemgerechte<br />
Rückführung des Kindergeldes in das Sozialrecht.<br />
Anmerkungen zu aktuellen und wichtigen Entscheidungen<br />
aus allen Rechtsgebieten bilden bekanntlich das „Rückgrat“<br />
der jM! Auch in dieser Ausgabe präsentieren wir<br />
Highlights der Spruchtätigkeit deutscher und europäischer<br />
Gerichte. Ich bin davon überzeugt, dass Fragen der Gema-<br />
Pflichtigkeit der Hintergrundmusik in Zahnarztpraxen<br />
(Hannes Ludyga), des Schadensersatzes wegen Nichtgewährung<br />
eines KiTa-Platzes (Wolfgang Kuntz), der Bindung<br />
des Berufungsgerichts nach Zurückverweisung (Wulf Gravenhorst),<br />
der Sozialhilfe für EU-Bürger bei verfestigtem<br />
Aufenthalt (Johannes Greiser) und des Verbandsklagerechts<br />
zu Umweltverträglichkeitsprüfungen (Thomas Jacob)<br />
auf Ihr geschätztes Interesse stoßen werden.<br />
Viel Spaß und Nutzen bei der Lektüre<br />
Thomas Voelzke<br />
133
Die Monatszeitschrift<br />
AUFSÄTZE UND ANMERKUNGEN<br />
Zivil- und Wirtschaftsrecht<br />
Kollektive Durchsetzung kartelldeliktsrechtlicher Ansprüche –<br />
Deutschland unter Zugzwang<br />
RiLG Dr. Hanno Gorius<br />
A. Problemstellung<br />
Kommt es zwischen konkurrierenden Marktteilnehmern<br />
zu kartellrechtswidrigen Absprachen, scheitert eine Restitution<br />
geschädigter Endverbraucher i.d.R. an der mangelnden<br />
Klagemotivation des Einzelnen. In Anbetracht<br />
der geringen Schäden, die auf der letzten Vertriebsstufe<br />
zu verzeichnen sind, dienen Massenschadensereignisse<br />
im Bereich des Kartelldeliktsrechts daher allzu oft als<br />
Illustration des von Mancur Olson formulierten Paradoxons<br />
1 der „rationalen Passivität“, 2 da ein Zusammenschluss<br />
geschädigter Individuen zum Zwecke der gebündelten<br />
Geltendmachung der Einzelforderungen nicht<br />
stattfindet.<br />
Vor dem Hintergrund dieser Problematik werden im kontinentaleuropäischen<br />
Kartelldeliktsrecht in der letzten Zeit<br />
vermehrt Forderungen nach einer Novation des kollektiven<br />
Rechtsschutzes laut, da dem bestehenden System mangelnde<br />
Effektivität, eine unzureichende Abschreckungswirkung<br />
gegenüber potenziellen Kartellanten sowie die Abwesenheit<br />
einer veritablen Restitutionschance geschädigter<br />
Individuen vorgeworfen wird.<br />
Während die EU und zuletzt auch der französische Gesetzgeber<br />
auf diese Entwicklung reagierten und ihre Bemühungen<br />
in Form nationaler sowie europäischer Reformanstrengungen<br />
in ein regelungspolitisches Fundament gegossen<br />
haben, vermochte die Bundesregierung 3 ihre Vorbehalte<br />
gegenüber der Einführung eines Sammelklagenmechanismus<br />
nach US-amerikanischen Vorbild bislang nicht zu überwinden.<br />
Den infolge eines Wettbewerbsverstoßes geschädigten<br />
Individuen in der Bundesrepublik Deutschland ist es daher<br />
bislang nicht möglich, Schadensersatz im Wege eines<br />
gemeinsamen Vorgehens wirksam zu erstreiten. Will der<br />
deutsche Gerichtsstandort angesichts eines zu erwartenden<br />
legislatorischen „Race to the Bottom“ indes nicht<br />
ins Hintertreffen geraten und zugleich den Anforderungen<br />
des europäischen Gesetzgebers in Form der Zielsetzung<br />
der restitutio ad integrum – der Totalrestitution<br />
der Opfer eines Kartellrechtsverstoßes 4 – zu genügen,<br />
erscheint eine Reform des deutschen Kartelldeliktsrechts<br />
unumgänglich.<br />
B. Private Kartelldeliktsrechtsdurchsetzung<br />
in der Französischen Republik<br />
Zur Illustration einer möglichen Umgestaltung des Systems<br />
der Kartelldeliktsrechtsdurchsetzung lohnt zunächst ein<br />
Blick zu unserem Nachbarn und wichtigsten Außenhandelspartner,<br />
der Französischen Republik.<br />
Die Verfolgung und Ahndung kartellrechtlicher Ver stöße<br />
in Frankreich oblag bislang ausschließlich staatlichen Akteuren,<br />
deren Verfolgungseffektivität in der vergan genen<br />
Dekade nicht gesteigert werden konnte. Trotz eines jedenfalls<br />
durchschnittlichen Zuwachses der verhängten<br />
Strafzahlungen hat sich die Aufdeckungswahrscheinlichkeit<br />
halbiert. Zur hinreichenden Abschreckung potenzieller<br />
Kartellanten vermögen damit auch nicht jene Regelungen<br />
beizutragen, die eine strafrechtliche Pönalisierung der an<br />
einem Wettbewerbsverstoß beteiligten Individuen in Form<br />
der Freiheitsstrafe vorsehen. Überdies sieht das französische<br />
Kronzeugenprogramm eine Bevorteilung hinsichtlich<br />
der zivilrechtlichen Verantwortlichkeit nicht vor, was den<br />
Geständniseifer potenzieller Kronzeugen, insbesondere vor<br />
dem Hintergrund der Einführung einer wettbewerbsrechtlichen<br />
Sammelklage, signifikant vermindert.<br />
Vermittels des Projet de loi relatif à la consommation 5<br />
wurde in Frankreich jedoch nunmehr eine Sammelklage<br />
kodifiziert, die im Bereich des Kartelldeliktsrechts ein effek-<br />
1 Olson, The Logic of Collective Action, 1965, S. 55, 62: Hiernach nimmt<br />
die Motivation eines Individuums, einen eigenen Beitrag zum Wohle<br />
einer Gruppe zu leisten, mit steigender Gruppengröße stetig ab, da es<br />
davon ausgehen muss, dass sein eigener Beitrag die Gesamtsituation/<br />
das Gemeinwohl nicht merklich beeinflusst.<br />
2 Fritscher, Le Figaro, 19.02.2008, S. 14.<br />
3 Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 17/185, S. 22213; siehe auch<br />
Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, Pressemitteilung<br />
vom 28.03.2012, abrufbar unter http://www.bmwi.de/DE/Presse/pressemitteilungen,did=483552.html/<br />
(zuletzt abgerufen am<br />
07.02.2016).<br />
4 Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2014/104/EU des Europäischen Parlaments<br />
und des Rates vom 26.11.2014 über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen<br />
nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen<br />
gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten<br />
und der EU, ABl. EU, L 349 vom 05.12.2014, S. 1 ff.<br />
5 Loi relative à la consommation N° 2014-344 du 17 mars 2014, JO n°<br />
65 du 18 mars 2014.<br />
134
JM 4 APRIL<br />
2016<br />
tives, konzertiertes Vorgehen ermöglicht. Der Anwendungsbereich<br />
der neu geschaffenen „Action de groupe“ 6 ist in<br />
prozessualer Hinsicht auf die Prozessführungsbefugnis von<br />
Verbraucherverbänden beschränkt. In materiell-rechtlicher<br />
Hinsicht erstreckt sich der Anwendungsbereich auf deliktische<br />
Ansprüche infolge der Verletzung des französischen<br />
sowie des europäischen Wettbewerbsrechts.<br />
Das Klageverfahren untergliedert sich in zwei konsekutive<br />
Phasen. In einer ersten Phase entscheidet das angerufene<br />
Gericht über die Haftung des beklagten Unternehmens<br />
dem Grunde nach und informiert sodann, nach Eintritt der<br />
Rechtskraft des sog. „Jugement au fond“, in einem zweiten<br />
Schritt die potenziell betroffenen Verbraucher auf Kosten<br />
des Beklagten. Den geschädigten Individuen ist sodann<br />
die Möglichkeit des Klagebeitritts im Sinne eines Opt-In-<br />
Mechanismus eröffnet.<br />
Der Anwendungsbereich der französischen Sammelklage im<br />
Bereich des Kartelldeliktsrechts erlaubt sowohl die Liquidation<br />
direkter als auch indirekter Schäden. Sie darf allein auf<br />
Grundlage einer bestands- bzw. rechtskräftigen Entscheidung<br />
einer französischen respektive europäischen Wettbewerbsbehörde<br />
oder eines Gerichts erhoben werden und ist daher<br />
auf das Modell der Folge bzw. Konsekutivklage 7 beschränkt,<br />
was nicht nur auf Vorbehalte gegenüber dem vermeintlichen<br />
Missbrauchspotenzial, sondern auch auf die Besorgnis der<br />
Beweisnot potenzieller Privatkläger zurückzuführen ist. Die<br />
„Action de groupe“ vereinfacht somit die Kompensation der<br />
Opfer eines von der nationalen Kartellbehörde aufgedeckten<br />
Wettbewerbsverstoßes im Fall sog. Massenschäden. Die Zielsetzung<br />
einer gesteigerten Abschreckungswirkung, die stets<br />
aus einem Zusammenwirken einer hohen Aufdeckungswahrscheinlichkeit<br />
und der Höhe der zu gewärtigenden Pönale<br />
erwächst, wird hingegen verfehlt.<br />
Die in der unlängst verabschiedeten Richtlinie 8 enthaltene<br />
Formulierung, wonach sog. „Stand-Alone-Klagen“ 9 nicht<br />
explizit ausgeschlossen sind, nimmt den französischen Gesetzgeber<br />
überdies erneut in die Pflicht, befördert die Richtlinie<br />
doch maßgeblich die Möglichkeit proaktiver Klagen im<br />
Kartelldeliktsrecht. Die umfangreichen Bestimmungen zur<br />
Beseitigung der Beweisnot des oder der geschädigten Verbraucher<br />
und die dezidierte Regelung zum Schutze der europäischen<br />
und mitgliedstaatlichen Kronzeugenprogramme<br />
delegitimieren die bisherigen Vorbehalte in Gänze und<br />
verlangen daher zwingend eine erneute Gesetzesreform.<br />
C. Class Action und Collective Redress – über die<br />
Anstrengungen der EU-Kommission zur Schaffung<br />
einer Sammelklage im Kartelldeliktsrecht<br />
Seit annähernd einer Dekade verfolgt die EU nunmehr die<br />
Zielsetzung der Einführung einer Sammelklage zum Wohle<br />
der Verbraucher. 10 Die in die kontinentaleuropäische Dogmatik<br />
diffundierten Vorbehalte gegenüber der Einführung<br />
eines Sammelklagemechanismus nach US-amerikanischem<br />
Vorbild verhindern indes die verbindliche Einführung einer<br />
europäischen Kollektivklage. Im Hinblick auf die sensible<br />
Problematik der konkreten prozessrechtlichen Ausgestaltung<br />
der kollektiven Durchsetzung von Verbraucherinteressen<br />
relativiert die Europäische Kommission ihren gegenüber<br />
den Rechtstraditionen des Großteils der Mitgliedstaaten<br />
radikalen Ansatz mit dem Mittel der Unverbindlichkeit. In<br />
concreto wird die Zielsetzung der Einführung einer Verbrauchersammelklage<br />
sui generis lediglich in der Form<br />
einer Kommissionsempfehlung 11 verfolgt, während der europäische<br />
Gesetzgeber die zivilprozessuale sowie materiellrechtliche<br />
Reform der privaten Kartellrechtsdurchsetzung<br />
im Übrigen vermittels einer Richtlinie ausgestaltet.<br />
Obgleich die Einführung einer Opt-In-Gruppenklage im Fall<br />
der Verletzung nationalen oder europäischen Wettbewerbsrechts<br />
noch im Rahmen des Weißbuchs die Stellung einer<br />
zentralen Forderung einnahm, 12 greift der Regelungsinhalt<br />
der verbindlich umzusetzenden Richtlinie die Thematik der<br />
Kollektivklage im Kartelldeliktsrecht nicht auf. Der europäische<br />
Gesetzgeber beschränkt sich vielmehr auf eine<br />
allgemein gefasste Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur<br />
Effektivierung des Rechtsschutzes und den Hinweis darauf,<br />
dass auf bereits bestehende Kollektivmechanismen bzw.<br />
Stellvertreterklagen zurückgegriffen werden kann. Die – unverbindliche<br />
– Kommissionsempfehlung optiert hingegen –<br />
entsprechend der französischen Regelung – für einen Opt-<br />
6 Art. L. 423-1 ff. Code de la consommation.<br />
7 Sog. Follow-On-Action.<br />
8 Richtlinie 2014/104/EU des Europäischen Parlaments und des Rates<br />
vom 26.11.2014 über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen<br />
nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche<br />
Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der EU,<br />
ABl. EU, L 349 vom 05.12.2014, S. 1 ff.<br />
9 Unter diesen Begriff fasst die US-amerikanische Kartelldeliktsrechtsdogmatik<br />
proaktive Privatklagen, die sich nicht auf eine vorangegangene<br />
Entscheidung einer Kartellbehörde stützt.<br />
10 Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament<br />
und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, Verbraucherpolitische<br />
Strategie der EU, Stärkung der Verbraucher – Verbesserung<br />
des Verbraucherwohls – wirksamer Verbraucherschutz,<br />
KOM(2007) 99 endgültig vom 13.03.2007, abrufbar unter http://<br />
eur-lex.europa.eu/resource.html?uri=cellar:902cdb5f-2676-48f5-<br />
a587-c9919e757b44.0002.03/DOC_2& format=PDF/ (zuletzt abgerufen<br />
am 07.02.2016).<br />
11 Empfehlung der Kommission vom 11.06.2013, 2013/396/EU, ABl. EU,<br />
L 201 vom 26.07.2013, S. 60 ff.<br />
12 Weißbuch Schadensersatzklagen wegen Verletzung des EG-Wettbewerbsrechts,<br />
KOM(2008) 165 endgültig vom 02.04.2008, S. 5, abrufbar unter<br />
http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2008:0165:<br />
FIN:DE:PDF/ (zuletzt abgerufen am 07.02.2016).<br />
135
Die Monatszeitschrift<br />
In-Mechanismus sowie das Modell der Folgeklage, ohne die<br />
Beförderung proaktiv initiierter Klagen explizit zu verbieten.<br />
Die anempfohlene Vorgreiflichkeit der Zulässigkeitsprüfung,<br />
die sich an der jüngeren Rechtsprechung des US-Supreme<br />
Court orientiert, 13 das Verbot des Strafschadensersatzes<br />
sowie die Wahl des Opt-In-Modells lassen sich unschwer als<br />
Tribut an die Vorbehalte gegenüber der US-amerikanischen<br />
Class Action sowie an den Gedanken des Respekts der<br />
Rechtstraditionen der EU-Mitgliedstaaten interpretieren.<br />
An der europäischen sowie französischen Präferenz für die<br />
kollektive Folgeklage ist aus komparatistischer Sicht hierbei<br />
besonders bemerkens- und erwähnenswert, dass die USamerikanischen<br />
Kritiker der Sammelklage diese Form des<br />
kollektiven Vorgehens für besonders „verwerflich“ halten<br />
und dieser Haltung auch semantisch Ausdruck verleihen,<br />
indem sie die Folgeklage als sog. „Piggybacking“ und die<br />
Folgekläger als sog. „Free Rider“ bezeichnen. 14<br />
D. Kollektive Kartelldeliktsrechtsdurchsetzung<br />
in der Bundesrepublik Deutschland<br />
I. Deutsche Kartelldeliktsrechtsdurchsetzung<br />
de lege lata<br />
Ein der US-amerikanischen Class Action 15 oder der französischen<br />
Action de groupe 16 vergleichbarer Kollektivklagemechanismus<br />
findet im deutschen Recht keine Entsprechung.<br />
Die in der deutschen lex lata statuierten Regelungen zur<br />
Bündelung von Individualforderungen reichen an die Simplizität<br />
und Effektivität der US-amerikanischen oder französischen<br />
Ausgestaltung, insbesondere jene der „Action<br />
de groupe simplifiée“, 17 nicht heran. Dies betrifft sowohl<br />
die Zivilprozessordnung, 18 das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz,<br />
das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb<br />
19 sowie das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen,<br />
20 denen insgesamt der Anspruch zu eigen ist, eine<br />
effektive Restitution einer Pluralität geschädigter Individuen<br />
zu ermöglichen.<br />
Die Effektivität der Kartellrechtsdurchsetzung ruht in der<br />
Bundesrepublik Deutschland daher nahezu ausschließlich<br />
auf den Schultern der nationalen Kartellbehörden. Der faktische<br />
Primat des Public Enforcement bedingt jedoch sowohl<br />
eine mangelnde Verfolgungseffektivität als auch eine<br />
mangelnde Kompensation der Opfer eines Kartellrechtsverstoßes.<br />
Obgleich sie im Unterschied zu den entsprechenden<br />
Regelungen im US-amerikanischen Kartellrecht des Bundes<br />
eine Anspruchsberechtigung auf sämtlichen Marktstufen<br />
vorsieht, vermag die private Kartelldeliktsrechtsdurchsetzung<br />
dieses Defizit bisher nicht zu kompensieren.<br />
Schienen die aufsehenerregenden Verfahren in den Fällen<br />
Transportbeton, 21 Zement 22 und Selbstdurchschreibepapier<br />
23 die Ansicht der Bundesregierung, welche Deutschland<br />
seit den Änderungen durch die 7. GWB-Novelle als<br />
Vorreiter der privaten Kartellrechtsdurchsetzung in Europa<br />
ansieht, noch zu untermauern, 24 ist die Geltendmachung<br />
sog. Kartellzivilklagen in der Bundesrepublik Deutschland<br />
zuletzt rückläufig. Während auf den Zeitraum 2009/2010<br />
noch die Zahl von 556 Kartellzivilklagen entfiel, 25 wurden<br />
im Zeitraum 2011/2012 lediglich 311 26 und im Zeitraum<br />
2013/2014 insgesamt 322 27 Klagen erhoben. Dies entspricht<br />
einem Rückgang von durchschnittlich 43 %, womit<br />
sich die Privatklagetätigkeit innerhalb von vier Jahren nahezu<br />
halbierte. In Anbetracht der gewichtigen Rolle, die der<br />
privaten Kartellrechtsdurchsetzung in der Durchsetzung,<br />
Fortentwicklung und Rechtsfortbildung 28 des deutschen<br />
Kartellrechts seitens des Bundeskartellamtes zuerkannt<br />
wird, ist dies nicht zuletzt deshalb bedenklich, als die<br />
oberste deutsche Kartellbehörde nach eigener Aussage auf<br />
die Ergänzungsfunktion der privaten Kartellrechtsdurchsetzung<br />
dringend angewiesen ist. 29<br />
In der deutschen privatklägerischen Praxis sind überdies<br />
proaktiv initiierte Klagen vorherrschend, die vor allem die<br />
Bereiche der Liefer- und Geschäftsverweigerung sowie die<br />
Wirksamkeit von Verträgen und ihrer Beendigung betref-<br />
13 Wal-Mart Stores, Inc. v. Dukes, 131 S.Ct. 2541, 2551, 2011: „Sometimes<br />
it may be necessary for the court to probe behind the pleadings<br />
before coming to rest on the certification question […] certification<br />
is proper only if the trial court is satisfied after a rigorous analysis,<br />
that the prerequisites of Rule 23(a) have been satisfied. Frequently<br />
that ‚rigorous analysis‘ will entail some overlap with the merits of the<br />
plaintiff’s underlying claim. That cannot be helped.“.<br />
14 Coffee, 86 Colum. L. Rev. 669, 681.<br />
15 Rule 23 Federal Rules of Civil Procedure.<br />
16 Art. L. 423-1 ff. Code de la consommation.<br />
17 Art. L. 423-10 Code de la consommation.<br />
18 §§ 59 ff., 79, 147 ZPO.<br />
19 § 8 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Nr. 4, § 10 UWG.<br />
20 § 33 GWB.<br />
21 KG Berlin, Urt. v. 01.10.2009 - 2 U 10/03 Kart - „Berliner Transportbeton“.<br />
22 Das Verfahren ist zurzeit noch anhängig vor dem LG Düsseldorf - 34 O<br />
(Kart) 147/05; zur Zulässigkeit der Klage BGH, Beschl. v. 07.04.2009 -<br />
KZR 42/08 (OLG Düsseldorf) - „Zementkartell“.<br />
23 BGH, Urt. v. 28.06.2011 - KZR 75/10 - „ORWI“.<br />
24 Antwort vom 19.03.2012 zur Kleinen Anfrage bezüglich der Durchsetzung<br />
kollektiver Verbraucherinteressen, BT-Drs. 17/9022, S. 5 f.<br />
25 Tätigkeitsbericht des Bundeskartellamts 2009/2010, BT-Drs. 17/6640,<br />
S. 49.<br />
26 Tätigkeitsbericht des Bundeskartellamts 2011/2012, BT-Drs.<br />
17/13675, S. 42.<br />
27 Tätigkeitsbericht des Bundeskartellamts 2013/2014, BT-Drs. 18/5210,<br />
S. 34.<br />
28 Tätigkeitsbericht des Bundeskartellamts 2013/2014, BT-Drs. 18/5210,<br />
S. 34.<br />
29 Bundeskartellamt, Stellungnahme 8. GWB-Novelle, S. 27.<br />
136
JM 4 APRIL<br />
2016<br />
fen. 30 Solcherlei Ansprüche können einzig von Mitbewerbern<br />
oder direkten Abnehmern eines Kartells geltend gemacht<br />
werden. Das vornehmlich für Verbraucher relevante<br />
Instrument der Follow-On-Klage gem. § 33 Abs. 3, 4 GWB,<br />
das sich besonders zur Verfolgung sog. Hardcore-Kartelle<br />
eignet, ist nach Aussage des Bundeskartellamtes in seiner<br />
Bedeutung jedoch im Vordringen begriffen. 31 Der geringe<br />
Anteil von Konsekutivklagen ist besonders bedauerlich, da<br />
die judikatorische Fortentwicklung des deutschen Kartelldeliktsrechts<br />
im Hinblick auf die Theorie der Schadensweitergabe<br />
32 bereits de lege lata in Kohärenz zum Inhalt der<br />
unlängst verabschiedeten Richtlinie steht 33 und den Nachweis<br />
eines Schadens in der letzten Vertriebsstufe damit erheblich<br />
erleichtert.<br />
Gleichwohl beschränkt sich die privatklägerische Aktivität<br />
bis dato auf das Tätigwerden direkter Abnehmer. Bei<br />
diesen handelt es sich jedoch meist um Unternehmen, die<br />
aufgrund ökonomischer Interdependenzen ebenso wenig<br />
wie im US-amerikanischen Rechtsraum als sog. „Efficient<br />
Enforcer“ 34 anzusehen sind. Zudem ist der aus Gründen der<br />
Risikodiversifizierung unternommene Versuch der konzertierten<br />
Geltendmachung des den direkten Abnehmern entstandenen<br />
Schadens in Form des sog. Abtretungsmodells<br />
vorerst gescheitert. 35<br />
Die kollektive Geltendmachung einer Vielzahl von Individualforderungen<br />
indirekter Abnehmer scheitert bislang an<br />
unüberwindlichen juristisch-administrativen Hindernissen<br />
sowie der materiell-rechtlichen Ausgestaltung des Gesetzes<br />
gegen Wettbewerbsbeschränkungen. Der in § 34a GWB<br />
enthaltene Gewinnabschöpfungsanspruch dient nicht der<br />
Kompensation der infolge einer Schadensweitergabe de<br />
facto geschädigten Endverbraucher und bietet aufgrund<br />
der Erlösauskehr an den Bundeshaushalt keinerlei Klageanreiz<br />
der klagebefugten Verbraucherverbände. Zur Geltendmachung<br />
von Schadenersatzansprüchen im Rahmen des<br />
§ 33 GWB sind diese hingegen gar nicht erst berechtigt.<br />
Aus Sicht potenzieller Kartellanten ist hiernach sowohl im<br />
Fall der massenhaften Schädigung direkter Abnehmer als<br />
auch im Fall der Abwälzung sog. Kleinst- bzw. Streuschäden<br />
auf die in der letzten Marktstufe angesiedelten Endverbraucher<br />
eine Inanspruchnahme vor einem deutschen<br />
Gericht de lege lata praktisch nicht zu besorgen.<br />
II. Quo vadis deutsche Kartelldeliktsrechtsdurchsetzung?<br />
1. § 34a GWB de lege ferenda<br />
Um zu verhindern, dass die Gewinne infolge sog. Streuschäden,<br />
welche i.d.R. wegen der geringen Schadenshöhe<br />
nicht geltend gemacht werden, beim Schädiger oder<br />
dem Fiskus verbleiben und um zugleich dem Grundsatz<br />
„minima non curat praetor“ entgegenzuwirken, ist zunächst<br />
eine Umgestaltung des § 34a GWB erforderlich.<br />
Diese sollte sich an den Leitgedanken der Totalrestitution<br />
sowie der Schaffung eines spürbaren Klageanreizes der<br />
Verbraucherverbände orientieren, der über die Regelung<br />
des § 10 Abs. 4 Satz 2 UWG hinausgeht. Aus diesem Grunde<br />
ist eine Entschädigung der identifizierbaren, direkten<br />
Abnehmer durch eine Implementierung einer Auskehr der<br />
abgeschöpften Vorteile an den klagenden Verbraucherverband<br />
vorzusehen. Dieser ist nach Abzug der von dem<br />
Verbraucherverband zur Geltendmachung des Anspruchs<br />
erforderlichen Aufwendungen, von denen die für eine Prozesskostenfinanzierung<br />
zu erbringenden Zahlungen analog<br />
des Erlasses des Bundesministeriums der Justiz zu § 10<br />
Abs. 4 Satz 2 UWG 36 umfasst sind, sodann entsprechend<br />
der Regelung des § 32 Abs. 2 lit. a GWB zurückzuerstatten<br />
und mithin an die geschädigten direkten Abnehmer<br />
auszukehren. Ein solches Vorgehen entspricht weitestgehend<br />
dem Regelungsgedanken der französischen „Action<br />
de groupe simplifiée“. Der neu geschaffene Anspruch ist<br />
vor allem im Fall sog. zwingender Ausgaben, welche auf<br />
Energieversorgungs- oder Telekommunikationsverträgen<br />
basieren, zu einer Entschädigung der betroffenen Kunden<br />
geeignet. Eine entsprechende Rückerstattung wäre fortan<br />
dem Ermessen des Bundeskartellamtes entzogen.<br />
2. § 33 GWB de lege ferenda<br />
Zum Zwecke einer signifikanten Steigerung der Abschreckungswirkung<br />
der Kartellrechtsdurchsetzung insgesamt<br />
ist den Verbraucherverbänden de lege ferenda zudem<br />
das Recht zur Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen<br />
gem. § 33 GWB zuzubilligen. Die konkrete<br />
Ausgestaltung sollte sich hierbei an den Regelungen zur<br />
„Action de groupe“ orientieren, die sich infolge der Einfachheit<br />
des dortigen Opt-In-Modells am ehesten dazu<br />
30 Tätigkeitsbericht des Bundeskartellamts 2009/2010, BT-Drs. 17/6640,<br />
S. 49.<br />
31 Tätigkeitsbericht des Bundeskartellamts 2009/2010, BT-Drs. 17/6640,<br />
S. 49; Tätigkeitsbericht des Bundeskartellamts 2013/2014, BT-Drs.<br />
18/5210, S. 34.<br />
32 Sog. Passing-On-Theory.<br />
33 BGH, Urt. v. 28.06.2011 - KZR 75/10 - „ORWI“.<br />
34 Mit diesem Terminus werden im US-amerikanischen Kartellrecht des<br />
Bundes solche Marktteilnehmer bezeichnet, die sich zur privatklägerischen<br />
Durchsetzung des Kartellrechts besonders eignen; ATI, Inc. v.<br />
Ruder & Finn, Inc., 1976-1 Trade Cases P 60778 (S.D. N.Y. 1976); Outboard<br />
Marine Corp. v. Pezetel, 474 F. Supp. 168, 180 (D.C. Del. 1979).<br />
35 LG Düsseldorf, Urt. v. 17.12.2013 - 37 O 200/09 (Kart) U; OLG Düsseldorf,<br />
Urt. v. 18.02.2015 - VI-U (Kart) 3/14.<br />
36 Erlass des Bundesministeriums der Justiz (Ref. III B5) vom 01.12.2006 -<br />
III B5 – 7034/13 – 31 367/2006.<br />
137
Die Monatszeitschrift<br />
eignet, den verminderten Klageanreiz der geschädigten<br />
Verbraucher zu überwinden. Dies bedeutete zugleich eine<br />
Entscheidung gegen das Opt-Out-Modell. 37 Letzteres ist<br />
nicht bereits deshalb abzulehnen, weil es einen unverhältnismäßigen<br />
Eingriff in die Freiheit des Einzelnen bedeuten<br />
würde, nicht zum bloßen Objekt eines Rechtsstreits<br />
degradiert zu werden. Im Rahmen einer Abwägung mit<br />
dem Gebot des effektiven Rechtsschutzes 38 ist Letzterem<br />
ein Übergewicht einzuräumen. Die Verwerfung des Opt-<br />
Out-Modells, welches im Vergleich zur Opt-In-Klage zwar<br />
eine erhöhte Abschreckungswirkung zeitigt, beruht, entsprechend<br />
der Entscheidung des französischen Gesetzgebers,<br />
vielmehr auf der Folgeproblematik der sog. „Cypress<br />
Remedies“, jener Schadensersatzsummen, die von keinem<br />
der tatsächlich geschädigten Individuen reklamiert<br />
werden. Ein solcher Überschuss evozierte einen unauflöslichen<br />
Widerstreit mit dem Kompensationsgedanken<br />
und dem Bereicherungsverbot des deutschen Schadensersatzrechts,<br />
der nur vermittels einer umfassenden Reform<br />
beseitigt werden könnte. Zur Auflösung des Konflikts<br />
wäre die Einführung einer Strafschadensersatzregelung<br />
erforderlich, die dem deutschen, ebenso wie dem französischen<br />
Deliktsrecht wesensfremd ist. Zudem widerspricht<br />
das Opt-Out-Modell der Kostenverteilung gem. § 91 ZPO.<br />
Soweit ein geschädigtes Individuum die Möglichkeit des<br />
Austritts verstreichen ließe, müsste es im Fall des Unterliegens<br />
der klägerischen Gruppe gemäß der zivilprozessualen<br />
lex lata für die Kosten des Rechtsstreits einstehen,<br />
obwohl es nie, auch nicht konkludent, der Klage beigetreten<br />
ist. Da den klagebefugten Verbraucherverbänden de<br />
lege ferenda zudem – zusätzlich zu der Möglichkeit der<br />
Schadensersatzklage – die Option der Vorteilsabschöpfung<br />
zu eröffnen ist, ist der zukünftige, globale Abschreckungseffekt<br />
als ausreichend groß zu erachten, um der<br />
Opt-In-Gruppenklage zur Vermeidung übermäßiger Friktionen<br />
mit der deutschen lex lata den Vorzug zu geben.<br />
Das Klageverfahren wäre des Weiteren, ähnlich wie jenes<br />
der „Action de groupe“, in zwei Phasen zu unterteilen.<br />
In einer ersten Phase wären zunächst, entsprechend dem<br />
„Jugement au fond“ im französischen Recht, die Voraussetzungen<br />
eines Schadensersatzanspruchs gem. § 33<br />
GWB zu prüfen. Dem klagenden Verbraucherschutzverband<br />
wäre es anheimzustellen, einen geeigneten Musterfall<br />
auszuwählen. Er profitierte sodann von den geplanten<br />
europarechtlichen Vorgaben zur Beweiserleichterung<br />
sowie zur Offenlegung der in der Sphäre des beklagten<br />
Unternehmens befindlichen Beweismittel und der Option<br />
der Zusammenfassung der beweiserheblichen Dokumente<br />
durch gesonderte Sachverständige. 39 Die Rolle dieser<br />
Sachverständigen könnte bereits zum jetzigen Zeitpunkt<br />
durch jene Vertreter der Anwaltschaft ausgefüllt werden,<br />
die vornehmlich mit Kronzeugenanträgen befasst sind.<br />
Denn die in dem zukünftigen Klageverfahren erforderlichen<br />
Ermittlungsarbeiten sind jenen der „Bonusregelung“ des<br />
Bundeskartellamtes respektive des Leniency-Programms der<br />
Generaldirektion Wettbewerb angenähert, einschließlich<br />
der gezielten Durchsicht unternehmensinterner Datensätze.<br />
Auf diese Weise ließe sich eine angemessene Beteiligung<br />
der Anwaltschaft im System der Opt-In-Klage gewährleisten.<br />
Stünde die Verantwortlichkeit des beklagten Unternehmens<br />
fest und könnte die zugrunde liegende gerichtliche<br />
Entscheidung mit Rechtsmitteln nicht mehr angegriffen<br />
werden, wäre diese, analog den Regelungen zum Gesetz<br />
über Musterverfahren in kapitalmarktrechtlichen Streitigkeiten<br />
40 sowie des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen,<br />
41 in einem speziellen Klageregister auf Kosten des<br />
beklagten Unternehmens öffentlich bekannt zu machen.<br />
In der zweiten Phase des Verfahrens sollte den geschädigten<br />
Verbrauchern die Möglichkeit einer vereinfachten<br />
Anmeldung des jeweiligen Individualanspruchs entsprechend<br />
der Regelung des § 10 KapMuG bzw. der „Action<br />
de groupe“ eröffnet werden, die die Wirkung eines Klagebeitritts<br />
entfaltete. Durch eine Bündelung bereits im Ausgangsprozess<br />
könnte so eine Kaskade von Folgeklagen,<br />
wie sie im Verfahren der vereinfachten Teilnahme gem.<br />
§ 10 KapMuG n.F. droht, vermieden werden und die mit<br />
der Schaffung einer Kollektivklage intendierte Steigerung<br />
der Prozessökonomie gewährleistet werden. Zugleich<br />
wären die geschädigten Verbraucher weitestgehend von<br />
dem Prozesskostenrisiko des Gesamtprozesses entbunden<br />
und müssten nur für ein Scheitern ihres Individualanspruches<br />
einstehen, was zugleich mit den kostenrechtlichen<br />
Grundsätzen der Zivilprozessordnung im Einklang stünde.<br />
Zum Schutze des beklagten Unternehmens könnte dieses<br />
jedem der angemeldeten Individualansprüche entgegentreten,<br />
wobei es einem erhöhten Substantiierungsstandard<br />
zu unterwerfen wäre, um ein pauschales Bestreiten<br />
auszuschließen. Das angerufene Gericht entschiede<br />
37 Das Opt-Out-Modell bezeichnet die Möglichkeit des Austritts aus<br />
einer zunächst abstrakt bestimmten Gruppe potenziell geschädigter<br />
Individuen.<br />
38 Siehe Art. 19 Abs. 4 GG, Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK sowie EGMR, Urt.<br />
v. 04.12.1995 - Rs. 21/1995/527/613 - „Bellet c/France“.<br />
39 Richtlinie, 2014/104/EU, Art. 9 Abs. 1, Art. 12 Abs. 5, Art. 17 Abs. 1,<br />
Abs. 2, Art. 5 Abs. 1 Satz 1; Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen<br />
Parlaments und des Rates über bestimmte Vorschriften<br />
für Schadensersatzklagen nach einzelstaatlichem Recht wegen Zuwiderhandlungen<br />
gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der<br />
Mitgliedstaaten und der EU vom 11.06.2013, COM(2013) 404 final,<br />
Erwägungsgründe, Rn. 17, abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/<br />
LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2013:0404:FIN:DE:PDF/ (zuletzt<br />
abgerufen am 07.02.2016).<br />
40 § 3 Abs. 2 Satz 1 KapMuG.<br />
41 § 62 Satz 1 GWB.<br />
138
JM 4 APRIL<br />
2016<br />
sodann zunächst durch unanfechtbaren Beschluss über<br />
die Zulässigkeit der Individualanträge. Hierbei wäre insbesondere<br />
die Gleichartigkeit der Ansprüche im Vergleich<br />
zu dem von dem Verbraucherverband ausgewählten Musterfall<br />
zu prüfen. Zur weiteren Steigerung der Prozessökonomie<br />
urteilte das Gericht schließlich in einer einzigen<br />
Entscheidung über die Begründetheit sämtlicher Einzelforderungen.<br />
Um die Berechnung der Individualschäden<br />
entscheidend zu simplifizieren, könnten die berechtigten<br />
Anspruchssteller im Wege der Schadensschätzung<br />
in Schadensgruppen eingeteilt werden. Zur Vermeidung<br />
einer überlangen Verfahrensdauer sowie juristisch-administrativer<br />
Hindernisse wird zudem eine Entscheidung im<br />
schriftlichen Verfahren vorgeschlagen. Damit die geschädigten<br />
Verbraucher ihrer Ansprüche nicht verlustig gehen,<br />
wäre schließlich eine Regelung zur Verjährungshemmung<br />
für die Dauer des Kollektivverfahrens vorzusehen.<br />
E. Fazit<br />
Bereits zum jetzigen Zeitpunkt verfügt die deutsche Kartelldeliktsrechtsdogmatik<br />
über sämtliche Voraussetzungen<br />
der Geltendmachung sowohl direkter als auch indirekter<br />
Schäden, die Unternehmen aber auch Verbrauchern im Fall<br />
wettbewerbswidriger Absprachen entstehen können. Vermittels<br />
der vorgeschlagenen Änderungen des Gesetzes gegen<br />
Wettbewerbsbeschränkungen ließe sich in der Zukunft<br />
zudem eine Steigerung der Durchsetzungseffektivität erzielen.<br />
Gelänge es der Bundesrepublik Deutschland, auf diese<br />
Weise eine konkurrenzfähige Regelung vorzulegen, ginge<br />
dies nicht nur mit einer Steigerung der Attraktivität des<br />
eigenen Gerichtsstandortes einher. Auch wünschenswerte<br />
„Nachahmereffekte“ in jenen Mitgliedstaaten der EU, die<br />
sich die deutschen Regelungen bei der – auch materiellrechtlichen<br />
– Umsetzung der Richtlinie 2014/104/EU zu<br />
eigen machen, scheinen nicht ausgeschlossen.<br />
Die Rechtsprechung zur Unwirksamkeit von Eheverträgen<br />
RA und FA für Familienrecht, Notar Dr. K.-Peter Horndasch<br />
Die Vertragsgestaltung im Familienrecht ist nicht nur<br />
für den Notar von Bedeutung; sie ist auch für den beratenden<br />
Rechtsanwalt entscheidend, da er es ist, der bei<br />
notarieller Beurkundung einer unter seiner Mitwirkung<br />
gefundenen Vereinbarung zwischen Eheleuten für die<br />
Richtigkeit, Vollständigkeit, Unzweideutigkeit und die<br />
Angemessenheit der Formulierungen haftet. Der Notar<br />
haftet nur dann, wenn keine anderweitige Ersatzmöglichkeit<br />
gegeben ist, § 19 Abs. 1 Satz 2 BNotO, sog. Subsidiaritätsprinzip.<br />
Wer zu unwirksamen, weil sittenwidrigen Vertragsgestaltungen<br />
im Familienrecht beiträgt, wird für die Folgen zu<br />
haften haben. Umso wichtiger ist es für den beratenden<br />
Rechtsanwalt, nicht nur die Regeln zur Vertragsgestaltung<br />
zu kennen, sondern darüber hinaus zu wissen, wo die Grenzen<br />
der Gestaltungsmöglichkeiten eines Ehevertrages oder<br />
einer Scheidungsfolgenvereinbarung liegen.<br />
A. Die Vertragsgestaltung im Familienrecht<br />
Gegenstand einer Vertragsgestaltung im Familienrecht sind<br />
insbesondere<br />
• Eheverträge,<br />
• Getrenntlebens- und Scheidungsfolgenvereinbarungen,<br />
• sonstige Vorsorgeverträge.<br />
I. Ehevertrag<br />
Nach § 1408 Abs. 1 BGB können Ehegatten ihre güterrechtlichen<br />
Verhältnisse durch Vertrag (Ehevertrag) regeln.<br />
Es ist aber allgemein anerkannt, dass auch andere Vereinbarungen<br />
zwischen Eheleuten getroffen werden können<br />
(Grundsatz der Privatautonomie). Ein rein „güterrechtliches“<br />
Verständnis des Ehevertrages wäre unzutreffend.<br />
Nicht jede Regelung vermögensrechtlicher Verhältnisse im<br />
Rahmen einer Ehe muss „güterrechtlich“ sein und bedarf<br />
demgemäß der Form eines Ehevertrages, wie bspw. der<br />
Kauf einer Immobilie durch Ehegatten – teilweise – aus<br />
Ersparnissen eines Beteiligten und entsprechende Vereinbarung<br />
über die Folgen. Vor allem aber ist der Regelungsinhalt<br />
eines Ehevertrages nicht auf Vereinbarungen zum<br />
Güterrecht beschränkt.<br />
Der Begriff ist in einem weiteren Sinne zu verstehen als<br />
Vereinbarungen im Hinblick auf eine bestehende oder zukünftige<br />
Ehe, die allgemeine Ehewirkungen, das Güterrecht<br />
und/oder die Folgen einer etwaigen Scheidung.<br />
Der Abschluss eines Ehevertrages setzt aber keine bestehende<br />
Ehe voraus, ebenso wenig ein Verlöbnis 1 der zukünf-<br />
1 So aber Brambring, Ehevertrag und Vermögenszuordnung unter Ehegatten,<br />
in seiner Definition, Rn. 6.<br />
139
Die Monatszeitschrift<br />
tigen Eheleute. Der vor der Ehe geschlossene Ehevertrag<br />
wird wirksam mit der Eheschließung.<br />
Gegenstand eines Ehevertrages können z.B. Regelungen<br />
sein über<br />
• Güterrecht,<br />
• Versorgungsausgleich,<br />
• Unterhalt,<br />
• elterliche Sorge,<br />
• eheliche Wohnung,<br />
• Haushaltssachen,<br />
• Steuerrecht,<br />
• Eintragung in das Güterrechtsregister,<br />
• allgemeine Ehewirkungen.<br />
Regelungen über allgemeine Ehewirkungen sind im Zusammenhang<br />
mit einem Ehevertrag z.B. solche über<br />
• eheliches Zusammenleben, § 1353 BGB,<br />
• Ehe- und Familienname, § 1355 BGB,<br />
• Haushaltsführung und Erwerbstätigkeit, § 1356 BGB,<br />
• Rechtsgeschäfte des täglichen Lebens, § 1357 Abs. 1<br />
BGB,<br />
• Familienunterhalt, § 1360 BGB,<br />
• Vermögensbildung und Altersvorsorge,<br />
• Regelung der Eigentumsvermutung, § 1362 BGB.<br />
Die Abgrenzung von Eheverträgen zu anderen Verträgen erfolgt<br />
dadurch, dass man sich die Frage stellt, ob das Rechtsgeschäft<br />
das Bestehen einer Ehe notwendig voraussetzt oder<br />
ob es genauso gut zwischen Dritten vorgenommen werden<br />
könnte. Kaufen Ehegatten z.B. Grundbesitz in Gesellschaft<br />
bürgerlichen Rechts, unterliegt ein BGB-Gesellschaftsvertrag<br />
nicht der Formvorschrift für Eheverträge gem. § 1410 BGB.<br />
Auch Zuwendungen unter Ehegatten beeinflussen den Güterstand<br />
nicht und unterliegen deshalb nicht der Form des<br />
§ 1410 BGB. 2<br />
II. Trennungs-/Scheidungsfolgenvereinbarungen<br />
Eheverträge werden von Scheidungsfolgenvereinbarungen<br />
dadurch abgegrenzt, dass ein Vertrag dann ein Ehevertrag<br />
ist, wenn er die Eingehung einer Ehe notwendig voraussetzt<br />
und nicht auf eine bevorstehende oder eingeleitete<br />
Scheidung bezogen ist. Eheverträge werden in einer intakten<br />
Ehe geschlossen. Dabei wird aber auch der Fall eines<br />
möglichen Scheiterns der Ehe bedacht.<br />
Die Scheidungsfolgenvereinbarung wird zum Zweck der<br />
einvernehmlichen Abwicklung der gescheiterten Ehe geschlossen.<br />
Die Trennungsvereinbarung hat demgegenüber einen eigenen<br />
Regelungsbereich, da die Scheidung zu dieser Zeit noch nicht<br />
beabsichtigt zu sein braucht. In einer Krisensituation zwischen<br />
„intakter“ und „gescheiterter“ Ehe wird eine einvernehmliche<br />
Regelung der Trennungssituation vorgenommen.<br />
Getrenntlebensvereinbarungen werden aber häufig mit einer<br />
Scheidungsfolgenvereinbarung verknüpft, um für den Fall<br />
einer doch unvermeidlichen Scheidung nicht erneut streiten<br />
oder verhandeln zu müssen.<br />
In Getrenntlebens- und Scheidungsfolgenvereinbarungen<br />
sind insbesondere Vereinbarungen enthalten über<br />
• den Güterstand,<br />
• den Versorgungsausgleich,<br />
• den Unterhalt während des Getrenntlebens,<br />
• den nachehelichen Unterhalt,<br />
• Krankenversicherung,<br />
• die elterliche Sorge und Umgang mit dem Kind/den Kindern,<br />
• Auseinandersetzung über eheliches Vermögen,<br />
• Haushaltssachen,<br />
• eheliche Wohnung,<br />
• Verbindlichkeiten.<br />
Vorsorgevereinbarungen außerhalb eines Ehevertrages<br />
sind insbesondere hinsichtlich Ausgleichsansprüchen wegen<br />
erbrachter Zuwendungen und Arbeits- und Dienstleistungen<br />
denkbar.<br />
III. Formerfordernisse<br />
1. Ehevertrag<br />
Der Ehevertrag muss bei gleichzeitiger Anwesenheit beider<br />
Teile zur Niederschrift eines Notars geschlossen werden<br />
(§ 1410 BGB).<br />
§ 1410 BGB hat die Funktion des Schutzes vor Übereilung<br />
der Vertragsschließenden, soll diese warnen und den unzweideutigen<br />
Beweis der getroffenen Vereinbarung sichern<br />
(Beweisfunktion), sowie durch Einschaltung des Notars die<br />
Gültigkeit der Vereinbarung gewährleisten (Gültigkeitsgewähr).<br />
3<br />
Gleichzeitige Anwesenheit bedeutet aber nicht, dass beide<br />
Vertragspartner persönlich bei der notariellen Beurkundung<br />
anwesend sein müssen. Eine Vertretung ist möglich.<br />
Es gibt keine Pflicht zum persönlichen Handeln. § 1410<br />
BGB verbietet lediglich die Sukzessivbeurkundung, also<br />
den Abschluss durch Angebot und Annahme.<br />
Ein Ehevertrag kann gem. § 2276 Abs. 2 BGB auch mit<br />
einem Erbvertrag verbunden werden. Für den Erbvertrag<br />
2 Thiele in: Staudinger, BGB, § 1408 Rn. 23.<br />
3 Kanzleiter in: MünchKomm BGB, § 1410 Rn. 1 f.; Sarres, Notarielle<br />
Urkunden im Familienrecht, S. 5 ff.; Bredthauer in: Scholz/Kleffmann/<br />
Motzer, Praxishandbuch Familienrecht, T 15.<br />
140
JM 4 APRIL<br />
2016<br />
zwischen Ehegatten oder zukünftigen Ehegatten, der mit<br />
einem Ehevertrag in derselben Urkunde verbunden wird,<br />
genügt die für den Ehevertrag vorgeschriebene Form.<br />
2. Trennungs-/Scheidungsfolgenvereinbarung<br />
Im Gegensatz zum Ehevertrag ordnet das Gesetz für Trennungs-<br />
und Scheidungsfolgenvereinbarung keine generelle<br />
Beurkundungspflicht an.<br />
Es gibt jedoch Ausnahmen:<br />
• Vereinbarungen über den Unterhalt (§ 1585c Abs. 1<br />
Satz 2 BGB),<br />
• Vereinbarungen über den Versorgungsausgleich (§ 7<br />
VersAusglG),<br />
• Vereinbarungen über Zugewinnausgleichsregelung im<br />
Hinblick auf ein Scheidungsverfahren (§ 1378 Abs. 3<br />
Satz 2 BGB) sowie<br />
• Vereinbarungen über die Veräußerung von Grundstücken<br />
und Grundstücksteilen im Zusammenhang mit der Ehescheidung<br />
(§ 311b BGB).<br />
Die vorbezeichneten Ausnahmen werden in der Praxis dadurch<br />
zur Regel erhoben, dass die Vereinbarungen eines<br />
der vorbezeichneten Ausnahmegegenstände zu der Beurkundungspflicht<br />
aller übrigen Vereinbarungen 4 in diesem<br />
Vertrage führt, und zwar unter Berufung auf die Rechtsprechung<br />
zu § 125 BGB. 5<br />
Hinweis: Die Beurkundungspflicht entfällt auch nicht dadurch,<br />
dass die Parteien die Regelungstatbestände auf<br />
zwei verschiedene Verträge aufteilen und diesen Umstand<br />
dem Notar zur Vermeidung weiterer Notargebühren verschweigen.<br />
In einem derartigen Fall sind beide Verträge<br />
nichtig. 6<br />
Ein Verstoß gegen Formvorschriften hat gem. § 125<br />
Satz 1 BGB die Nichtigkeit zur Folge. Eine Heilung, wie<br />
etwa nach § 311b Satz 2 BGB, ist im Familienrecht nicht<br />
vorgesehen.<br />
B. Die Grenzen der Vertragsgestaltung<br />
Vereinbarungen über den Ausschluss bestimmter gesetzlicher<br />
Regelungen im Rahmen der Ehe, der Trennung und<br />
Scheidung sind grds. zulässig, unterliegen jedoch namentlich<br />
seit der Entscheidung des BVerfG vom 06.02.2001 7<br />
engen Grenzen.<br />
I. Schutz vor unangemessener Benachteiligung<br />
In dieser Entscheidung und noch einmal deutlich in dem<br />
Beschluss des BVerfG vom 29.03.2001 8 ist deutlich erklärt<br />
worden, dass in Eheverträgen der Schutz vor unangemessener<br />
Benachteiligung beachtet werden muss. Ein Ehevertrag<br />
darf die Unterlegenheitsposition einer Partei nicht durch<br />
ihre einseitige vertragliche Belastung und die unangemessene<br />
Berücksichtigung der Interessen der anderen Partei<br />
ausdrücken. Das BVerfG hat deutlich festgelegt:<br />
Ein Verzicht auf gesetzliche Ansprüche bedeutet insbesondere<br />
für den Ehegatten eine Benachteiligung, der sich unter<br />
Aufgabe einer Berufstätigkeit der Betreuung des Kindes und<br />
der Arbeit im Hause widmen soll. Je mehr im Ehevertrag gesetzliche<br />
Rechte abbedungen werden, desto mehr kann sich<br />
der Effekt einseitiger Benachteiligung verstärken. 9<br />
Das BVerfG verlangt für die Frage der Korrekturbedürftigkeit<br />
eines Ehevertrages eine „Gesamtschau“ der persönlichen,<br />
wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der Parteien<br />
im Zeitpunkt des Vertragsschlusses und im Zeitpunkt<br />
der Scheidung. 10<br />
Zu den Risikofaktoren bei Eheverträgen 11 kann die folgende<br />
Checkliste als Hilfestellung dienen:<br />
Risikofaktoren ja:<br />
• Vertragsschluss in einer Zwangssituation (Terminsnot,<br />
Schwangerschaft, wirtschaftliche Abhängigkeit, Drohung,<br />
Täuschung).<br />
• Für einen Vertragsteil werden sämtliche Rechte abbedungen.<br />
• Gemäß der Gesamtschau der Verhältnisse wurde ein wesentliches<br />
Teilrecht abbedungen.<br />
• Die notarielle Belehrung (§ 17 BeurkG) war unterblieben<br />
oder mangelhaft, sodass der oder die Beteiligten die<br />
Tragweite des Geschäfts nicht verstanden haben (oder<br />
haben wollen).<br />
Risikofaktoren nein:<br />
• Nur ein unwesentliches Teilrecht abbedungen.<br />
• Vertrag von jungen Leuten mit stabiler Einkommenssituation<br />
geschlossen.<br />
• Beim Globalverzicht wurden ausreichende, gleichwertige<br />
Kompensationsleistungen vereinbart (Lebensversicherungen,<br />
Grundstücksübereignung, Geldanlage).<br />
4 Roßmann in: Roßmann/Viefhues, Taktik im Unterhaltsrecht, Rn. 1358;<br />
Brudermüller in: Palandt, BGB, § 1585c Rn. 4.<br />
5 BGH, Urt. v. 29.05.2002 - XII ZR 263/00.<br />
6 Bredthauer in: Scholz/Kleffmann/Motzer, Praxishandbuch Familienrecht,<br />
T 19.<br />
7 BVerfG, Urt. v. 06.02.2001 - 1 BvR 12/92.<br />
8 BVerfG, Beschl. v. 29.03.2001 - 1 BvR 1766/92.<br />
9 So BVerfG, Beschl. v. 29.03.2001 - 1 BvR 1766/92; OLG München, Urt. v.<br />
01.10.2002 - 4 UF 7/02 mit Anmerkung Bergschneider, FamRZ 2003, 38.<br />
10 BVerfG, Beschl. v. 29.03.2001 - 1 BvR 1766/92; zur richterlichen Kontrolle<br />
von Unterhaltsverzichten vgl. Goebel, FamRZ 2003, 1513.<br />
11 Vgl. zur „Inhaltskontrolle von Eheverträgen“ BGH, Urt. v. 31.10.2012 -<br />
XII ZR 129/10; BGH, Urt. v. 21.11.2012 - XII ZR 48/11; Münch, FamRZ<br />
2005, 570; Münch, FamRZ 2013, 160.<br />
141
Die Monatszeitschrift<br />
• Ehepartner wollen beide freiberuflich tätig sein und haben<br />
daher aus Risikogründen Teilhaberrechte abbedungen.<br />
• Ehepartner haben keinen Kinderwunsch, feste und zukunftssichere<br />
Einkünfte und schließen sämtliche Teilhaberechte<br />
aus.<br />
• Beide Ehepartner haben unbelastete Immobilien, bereits<br />
ausreichende Rentenanwartschaften und verfügen über<br />
Ausbildungen in krisensicheren Berufen (Idealfall).<br />
• Junge Ehepartner haben bei Vertragsschluss sichere Einkommensquellen,<br />
akademische Ausbildungen, Berufserfahrung,<br />
dauerhafte Chancen auf dem Arbeitsmarkt, kein<br />
eigenes unbewegliches Vermögen, Absicherung durch<br />
Elternvermögen und einen Globalverzicht vereinbart.<br />
Hinweis 1: Ein gerichtlicher Antrag auf Feststellung der<br />
Nichtigkeit eines Ehevertrages ist mangels Feststellungsinteresses<br />
unzulässig, solange kein Scheidungsantrag gestellt<br />
und auch sonst offen ist, ob es zur Scheidung der Parteien<br />
kommt. 12<br />
Hinweis 2: Die Nichtigkeit eines Ehevertrages kann gem.<br />
§ 139 BGB nicht aus einer Bestimmung hergeleitet werden,<br />
die bei der Vertragsdurchführung nicht zur Anwendung<br />
kommen konnte. 13<br />
II. Vertragsfreiheit und Inhaltskontrolle<br />
1. Der Schutzzweck der gesetzlichen Regelungen<br />
In seinem Urteil vom 11.02.2004 14 hat der BGH das<br />
Spannungsverhältnis zwischen der grundsätzlichen Disponibilität<br />
der Scheidungsfolgen einerseits und dem<br />
nicht akzeptablen Unterlaufen des Schutzzweckes der<br />
gesetzlichen Regelungen durch vertragliche Vereinbarungen<br />
andererseits aufgezeigt. Eine unzumutbare Lastenverteilung<br />
sei umso eher gegeben, je mehr die vertragliche<br />
Abbedingung der gesetzlichen Regelungen in den<br />
Kernbereich des Scheidungsfolgenrechts eingreift, sog.<br />
Kernbereichslehre.<br />
Zu diesem Kernbereich gehören in erster Linie der Betreuungsunterhalt,<br />
danach weitere Unterhaltstatbestände<br />
sowie Regelungen zum Versorgungsausgleich.<br />
Demgegenüber erweist sich, so der BGH, der Zugewinnausgleich<br />
ehevertraglicher Disposition am weitesten zugänglich.<br />
Die eheliche Lebensgemeinschaft sei nicht notwendig<br />
auch eine Vermögensgemeinschaft. Das Eheverständnis<br />
erfordere keine bestimmte Zuordnung des Vermögenserwerbs<br />
in der Ehe. 15<br />
Der BGH konkretisiert damit den Grundsatz, dass eine<br />
Gesamtschau der getroffenen Vereinbarungen, der Gründe<br />
ihres Zustandekommens sowie der beabsichtigten und<br />
verwirklichten Gestaltung des ehelichen Lebens notwendig<br />
ist. 16<br />
Die Rechtsprechung des BGH ist insgesamt wie folgt strukturiert:<br />
• objektive Seite (Wertigkeit des Rechts),<br />
• subjektive Seite (Zweck, Beweggründe),<br />
• Gesamtbetrachtung und Konsequenz.<br />
Für die objektive Seite ist die Wertigkeit des Rechts maßgebend,<br />
auf das verzichtet oder das sonst geschmälert wird.<br />
Eine Beanstandung ist danach umso eher anzunehmen, je<br />
mehr die Vereinbarung in den Kernbereich des Scheidungsfolgenrechts<br />
eingreift.<br />
Neben den objektiven Folgen der Vereinbarung sind die von<br />
den Vertragsschließenden verfolgten subjektiven Zwecke<br />
und Beweggründe zu berücksichtigten. Zur Prüfung gehört<br />
auch die Frage, ob die benachteiligte Vertragspartei wegen<br />
subjektiver Unterlegenheit eine erheblich schwächere<br />
Verhandlungsposition hatte, 17 z.B. aufgrund einer Zwangslage.<br />
18 Eine Schwangerschaft reicht für sich allein genommen<br />
aber nicht aus, eine Nichtigkeit festzustellen, und zwar<br />
auch dann nicht, wenn der Pflichtige die Eheschließung<br />
vom Vertragsschluss abhängig macht. Indiziert wird aber<br />
eine Disparität bei Vertragsabschluss. Dies führt zwingend<br />
zu einer verstärkten richterlichen Inhaltskontrolle. 19<br />
2. Die Prüfung der Wirksamkeit von Verträgen<br />
Bei der Prüfung der Wirksamkeit von Eheverträgen sind<br />
zwei Prüfungskomplexe voneinander zu unterscheiden:<br />
• die Prüfung der Wirksamkeit des Vertrages bei Vertragsschluss<br />
(Wirksamkeitskontrolle) und<br />
• die Prüfung der Wirksamkeit des Vertrages bei Scheidung<br />
(Ausübungskontrolle).<br />
12 OLG Frankfurt, Beschl. v. 10.12.2004 - 2 WF 404/04.<br />
13 Vgl. OLG Thüringen, Beschl. v. 29.01.2010 - 1 UF 150/09.<br />
14 BGH, Urt. v. 11.02.2004 - XII ZR 265/02; vgl. dazu auch BGH, Beschl. v.<br />
06.10.2004 - XII ZB 110/99; BGH, Beschl. v. 06.10.2004 - XII ZB 57/03;<br />
BGH, Urt. v. 12.01.2005 - XII ZR 238/03; BGH, Urt. v. 25.05.2005 - XII<br />
ZR 296/01; BGH, Beschl. v. 17.05.2006 - XII ZB 250/03; BGH, Urt. v.<br />
05.07.2006 - XII ZR 25/04; BGH, Urt. v. 28.03.2007 - XII ZR 130/04; BGH,<br />
Urt. v. 09.07.2008 - XII ZR 6/07; BGH, Urt. v. 05.11.2008 - XII ZR 157/06;<br />
BGH, Beschl. v. 18.03.2009 - XII ZB 94/06; BGH, Urt. v. 04.08.2010 - XII<br />
ZR 7/09; BGH, Urt. v. 02.03.2011 - XII ZR 44/09; BGH, Urt. v. 04.07.2012 -<br />
XII ZR 80/10; BGH, Urt. v. 31.10.2012 - XII ZR 129/10 m. Anm. Bergschneider,<br />
FamRZ 2013, 195, 201; BGH, Urt. v. 21.11.2012 - XII ZR<br />
48/11 m. Anm. Bergschneider, FamRZ 2013, 269, 273; BGH, Beschl. v.<br />
29.01.2014 - XII ZB 519/13; dazu Münch, FamRZ 2014, 805.<br />
15 BGH, Urt. v. 11.02.2004 - XII ZR 265/02.<br />
16 So BGH, Urt. v. 11.02.2004 - XII ZR 265/02; vgl. dazu ausführlich Bergschneider,<br />
FamRZ 2004, 1557.<br />
17 BGH, Beschl. v. 17.05.2006 - XII ZB 250/03.<br />
18 BGH, Urt. v. 25.05.2005 - XII ZR 221/02.<br />
19 BGH, Urt. v. 17.10.2007 - XII ZR 96/05.<br />
142
JM 4 APRIL<br />
2016<br />
Zunächst ist die Prüfung zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses<br />
vorzunehmen. Ergibt sich danach eine unzumutbare<br />
Lastenverteilung zum damaligen Zeitpunkt (die bei Scheidung<br />
nicht oder nicht mehr vorhanden sein muss), so ist der<br />
Vertrag sittenwidrig. Damit treten dann die gesetzlichen<br />
Scheidungsfolgen an deren Stelle. 20<br />
Beispiel: Haben die Parteien den Betreuungsunterhalt im<br />
Ehevertrag ausgeschlossen oder unzumutbar begrenzt, so<br />
ist der Vertrag auch dann sittenwidrig, wenn das gemeinsame<br />
Kind der Parteien zum Zeitpunkt der Scheidung bereits<br />
erwachsen ist. 21<br />
Unbedenklich ist aber ein Ausschluss von Risiken eines Partners,<br />
die dieser bereits vor der Ehe hatte. Dies betrifft vorhandene<br />
Erkrankungen ebenso wie eine Ausbildung, für die<br />
keine Beschäftigungschance besteht, oder ein Alter, ab dem<br />
eine Erwerbstätigkeit nicht mehr verlangt werden kann. 22<br />
Anderes gilt – im Gegensatz hierzu – für Risiken, die der<br />
andere mit zu verantworten hat, typischerweise im Falle<br />
der Schwangerschaft. 23<br />
Allerdings hat der BGH in seinen neueren Entscheidungen<br />
die Sittenwidrigkeit von Eheverträgen bei Vertragsschluss<br />
weiter in den Hintergrund gedrängt 24 und erklärt, dass<br />
neben einer objektiven „Schieflage“ zu Lasten eines Beteiligten<br />
die – subjektive – Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit<br />
treten muss, sich gegen diese „Schieflage“ zur Wehr<br />
zu setzen. 25<br />
Ist ein Ehevertrag danach zunächst nicht als sittenwidrig<br />
einzustufen, hat doch bei Scheidung eine Prüfung des Ehevertrages<br />
in der Weise zu erfolgen, dass zu fragen ist, ob ein<br />
Ehegatte die ihm durch Vertrag eingeräumte Rechtsmacht<br />
dadurch missbraucht, dass er sich auf den Ausschluss oder<br />
die Einschränkung der gesetzlichen Scheidungsfolge beruft<br />
(Ausübungskontrolle). 26<br />
Beispiele:<br />
• Haben Eheleute Unterhalt wegen Krankheit und Alters<br />
ausgeschlossen, weil sie gemeinsam von beiderseitigem<br />
Einkommen und Berufstätigkeit ausgegangen<br />
sind, und gehen aus der Ehe Kinder hervor, weswegen<br />
die Ehefrau ihre Berufstätigkeit aufgibt (und später<br />
noch erwerbsunfähig krank wird), ist eine Berufung auf<br />
den Ausschluss des Unterhalts gem. § 1572 BGB nicht<br />
möglich.<br />
• Dasselbe gilt, wenn die Ehegatten sich wegen einer gut<br />
dotierten Stelle des Ehemannes ins Ausland begeben,<br />
wo die Ehefrau keine oder nur eine geringfügig dotierte<br />
Stelle findet.<br />
Maßstab der Prüfung ist § 242 BGB (Ausübungskontrolle).<br />
27 Dies bedeutet gleichzeitig, dass eine Anpassung an<br />
die Gegebenheiten des Einzelfalles 28 erfolgt, eine Anpassung<br />
durch Ausgleich der ehebedingt erlittenen Nachteile,<br />
und zwar ab dem Zeitpunkt der Planänderung. 29<br />
Solche Nachteile werden allerdings lediglich auf den konkreten<br />
Bereich und nicht quasi flächendeckend auf die gesamte<br />
vertragliche Vereinbarung bezogen ausgeglichen.<br />
Die Scheidungsfolgen sind insoweit streng voneinander zu<br />
trennen. 30<br />
Ist bspw. der Versorgungsausgleich komplett ausgeschlossen<br />
worden, dann wird der benachteiligte Ehegatte ausschließlich<br />
hierauf bezogen eine Ausgleichung geltend<br />
machen können. Er wird selbst damit nicht durchdringen<br />
können, wenn er während der Ehezeit als Freiberufler lediglich<br />
Vermögensvorsorge für den Fall des Alters getroffen hat.<br />
Für die Gestaltung von Eheverträgen ist die folgende<br />
Checkliste 31 zu empfehlen:<br />
• Präambel: Beweggründe und Motive sollten aufgenommen<br />
werden, die den Abschluss des Ehevertrages veranlassen,<br />
namentlich den belasteten Ehegatten dazu bewegen,<br />
auf die ihm im Falle der Scheidung zustehenden<br />
Rechte zu verzichten. Die Einkommens- und Vermögensverhältnisse<br />
sollten erwähnt werden; ggf. bestehende<br />
Lebensrisiken (z.B. Erkrankungen) sind zu erwähnen.<br />
• Betreuungsunterhalt, § 1570 BGB: Dieser betrifft den<br />
Kernbereich des Scheidungsfolgenrechts. Eingriffe sind<br />
nur in Ausnahmefällen möglich.<br />
• Unterhalt wegen Alters und Krankheit: Auch diese Ansprüche<br />
gehören zum Kernbereich der Scheidungsfolgen,<br />
sind in der Regel jedoch disponibel.<br />
• Versorgungsausgleich: Auch der Versorgungsausgleich<br />
gehört zum Kernbereich. Sein Ausschluss ist möglich,<br />
wenn im Gegenzug andere – äquivalente – Vorteile<br />
zugebilligt werden (gleichwertige Altersversorgung). Er<br />
ist aber durch §§ 6-8 VersAusglG erleichtert worden.<br />
20 Vgl. dazu ausführlich Reinecke, ZFE 2009, 168.<br />
21 Vgl. OLG Celle, Urt. v. 24.06.2004 - 19 UF 59/04 mit Anm. Bergschneider,<br />
FamRZ 2004, 1494; aufgehoben durch Urteil des BGH v.<br />
28.03.2007 - XII ZR 130/04 mit Anm. Bergschneider, FamRZ 2007,<br />
1312.<br />
22 So Soyka, FK 2004, 75.<br />
23 Allerdings nicht, wenn ein Dritter dafür verantwortlich ist, vgl. Soyka,<br />
FK 2004, 75.<br />
24 Z.B. BGH, Urt. v. 31.10.2012 - XII ZR 129/10.<br />
25 BGH, Urt. v. 31.10.2012 - XII ZR 129/10; dazu Münch, FamRB 2013,<br />
160.<br />
26 Vgl. OLG Karlsruhe, Urt. v. 15.07.2004 - 16 UF 238/03.<br />
27 Vgl. BGH, Urt. v. 11.02.2004 - XII ZR 265/02.<br />
28 So Viefhues, Fehlerquellen im familiengerichtlichen Mandat, Rn. 1493.<br />
29 BGH, Urt. v. 10.09.2014 - IV ZR 298/13.<br />
30 Münch, Ehebezogene Rechtsgeschäfte, Rn. 774.<br />
31 Ähnlich Soyka, FK 2004, 86.<br />
143
Die Monatszeitschrift<br />
• Unterhalt wegen Erwerbslosigkeit, Aufstockungs-, Billigkeits-,<br />
Ausbildungsunterhalt sowie Vereinbarung der<br />
Gütertrennung: Diese Ausschlüsse rechtfertigen in der<br />
Regel die Annahme einer Sittenwidrigkeit nicht.<br />
• Altersvorsorgeunterhalt: Der Anspruch ist gegenüber<br />
dem Elementarunterhalt subsidiär, sodass ein Ausschluss<br />
zulässig sein dürfte.<br />
• Krankenvorsorgeunterhalt: Der BGH stellt diesen Unterhalt<br />
mit dem Altersvorsorgeunterhalt gleich. Bedenken<br />
ergeben sich jedoch daraus, dass dieser Teil des Unterhalts<br />
ein wichtiger Bestandteil des gegenwärtigen Unterhaltsbedarfs<br />
sein kann, zumal in Fällen, in denen damit zu rechnen<br />
ist, dass ärztliche Betreuung notwendig sein wird. 32<br />
• Zugewinnausgleich: Weitgehende Vertragsfreiheit; Sittenwidrigkeit<br />
nur in extremen Ausnahmefällen namentlich<br />
im persönlichen Bereich von Druck und Drohungen. 33<br />
• Weitere Hinweise: Ausführlich ist zum Ablauf der Verhandlungen<br />
und zum Umfang der Belehrungen Stellung<br />
zu nehmen, um dem Eindruck subjektiver Imparität entgegenzuwirken.<br />
Zudem ist darauf hinzuweisen, dass die<br />
Vereinbarungen bei Scheitern der Ehe der Ausübungskontrolle<br />
unterliegen und möglicherweise keinen Bestand<br />
haben, wenn die ehelichen Lebensverhältnisse<br />
von der Lebensplanung abweichen, also ehebedingte<br />
Nachteile entstanden sind.<br />
3. Sonderfall Trennungsvereinbarung<br />
Mit der Trennung werden die häusliche Gemeinschaft und<br />
die eheliche, familiäre Gemeinsamkeit aufgelöst. Zumindest<br />
in der ersten Zeit der Trennung ist jedoch ungewiss,<br />
ob es bei der Trennung bleibt und sie in eine Scheidung der<br />
Eheleute mündet oder ob die eheliche Lebensgemeinschaft<br />
wieder aufgenommen wird.<br />
Die Regelungen betreffend Trennungsunterhalt tragen daher<br />
der Möglichkeit einer Versöhnung Rechnung, die nicht<br />
erschwert werden darf. Der wirtschaftlich schwächere Ehepartner<br />
soll vor Verschlechterung seiner wirtschaftlichen<br />
und persönlichen Situation geschützt werden. 34<br />
Dies hindert nicht daran, eine Trennungsvereinbarung innerhalb<br />
der Grenzen der Vertragsgestaltung zu schließen.<br />
Eine Versagung bzw. Herabsetzung von Unterhaltsansprüchen<br />
jedoch ist folgerichtig nur ganz ausnahmsweise gem.<br />
§ 1361 Abs. 3 i.V.m. § 1579 Nr. 2 bis 8 BGB möglich.<br />
Ein unzulässiger Verzicht bzw. Teilverzicht von Trennungsunterhalt<br />
ist deshalb zu vermeiden. § 1614 BGB ist beim<br />
Trennungsunterhalt über §§ 1361 Abs. 4 Satz 4, Abs. 3,<br />
1360a Abs. 3 BGB anwendbar, sodass auf Trennungsunterhalt<br />
für die Zukunft nicht verzichtet werden kann. 35<br />
Es ist daher darauf zu achten, dass es im Rahmen von<br />
Unterhaltsvergleichen nicht zum unzulässigen Teilverzicht<br />
kommt. Während eine Unterschreitung des Trennungsunterhalts<br />
von 20 % noch für zulässig gehalten wird, 36 hält<br />
das OLG Hamm eine Unterschreitung von 1/3 für nicht<br />
mehr zulässig. 37<br />
Die Beurteilung setzt allerdings voraus, dass zunächst die<br />
Höhe des angemessenen Unterhaltsanspruchs im erforderlichen<br />
Umfang festgestellt worden ist. 38<br />
Wenn auch ein Verzicht auf die Zahlung von Trennungsunterhalt<br />
nicht möglich ist, können sich die Parteien im Rahmen<br />
unterschiedlicher Auffassungen über die Höhe eines<br />
zu zahlenden Trennungsunterhalts selbstverständlich verständigen.<br />
Steht jedoch die Höhe des zu zahlenden Trennungsunterhalts<br />
fest, darf eine Einigung nach ständiger<br />
Rechtsprechung die Zahlung von 4/5 des Betrages nicht<br />
unterschreiten. 39<br />
Ein vollständiger Verzicht für die Zukunft scheitert an<br />
§§ 1361 Abs. 4 Satz 3, 1360a Abs. 3, 1614 Abs. 1 BGB. 40<br />
Selbst gegen Abfindung ist ein Verzicht nicht möglich. 41<br />
Soll Trennungsunterhalt nicht geltend gemacht werden,<br />
weil der Unterhaltsschuldner gemeinsame Verbindlichkeiten<br />
allein abträgt, liegt hierin nach Auffassung des BGH<br />
nicht unbedingt ein unwirksamer Verzicht. 42<br />
Hinweis: Möglich ist auch die vertragliche Vereinbarung einer<br />
Konkretisierung des Zeitpunktes der Erwerbsobliegenheit<br />
des Berechtigten i.S.v. § 1361 Abs. 2 BGB. Eine solche<br />
Vereinbarung kann mit einer zeitlichen Befristung und mit<br />
der Verpflichtung des Ehegatten zum Nachweis von Erwerbsbemühungen<br />
kombiniert werden. 43<br />
Insgesamt sind folgende Verzichtsvereinbarungen unzulässig:<br />
• Verzicht auf Trennungsunterhalt auch bei – aktuell – fehlender<br />
Bedürftigkeit.<br />
• Verzicht auf Trennungsunterhalt wegen eigener Einkünfte<br />
des Berechtigten, aber höheren Einkünften des anderen<br />
Ehegatten.<br />
32 BGH, Urt. v. 07.12.1988 - IVb ZR 23/88.<br />
33 Vgl. das Beispiel von Bergschneider, FamRZ 2010, 1857, 1858.<br />
34 BGH, Urt. v. 25.02.1981 - IVb ZR 544/80; BGH, Urt. v. 15.11.1989 - IVb<br />
ZR 3/89; OLG Köln, Urt. v. 23.02.1996 - 26 UF 179/95.<br />
35 BGH, Urt. v. 27.06.1984 - IVb ZR 21/83.<br />
36 OLG Düsseldorf, Beschl. v. 19.06.2000 - 5 WF 114/00.<br />
37 OLG Hamm, Urt. v. 01.12.1999 - 12 UF 38/99 - OLGR Hamm 2000, 70;<br />
OLG Hamm, Beschl. v. 15.03.2006 - 11 WF 47/06.<br />
38 BGH, Beschl. v. 30.09.2015 - XII ZB 1/15.<br />
39 OLG Bremen, Beschl. v. 01.12.2008 - 4 WF 142/08.<br />
40 Roßmann/Viefhues, Rn. 370; Bergschneider/Hamm, F.III.5.3.<br />
41 Johannsen/Henrich/Graba, § 1614 Rn. 2.<br />
42 BGH, Urt. v. 11.05.2005 - XII ZR 289/02.<br />
43 Göppinger/Börger/Kilger/Pfeil, S. 265.<br />
144
JM 4 APRIL<br />
2016<br />
• Verzicht auf Trennungsunterhalt, weil der Berechtigte<br />
durch den anderen Ehegatten im Innenverhältnis von<br />
der Erfüllung einer Verbindlichkeit (z.B. Darlehen für die<br />
Ehewohnung) freigestellt wird.<br />
• Abfindung des Unterhaltsanspruchs für die Zukunft;<br />
§ 1614 Abs. 1 BGB gilt auch für den Fall eines entgeltlichen<br />
Verzichts. Vereinbaren die Beteiligten, dass zur<br />
Abgeltung aller Unterhaltsansprüche sowohl für die<br />
Trennungszeit als auch nach Scheidung der Ehe eine einmalige<br />
Abfindungssumme gezahlt wird, bleibt derjenige<br />
Teil der Vereinbarung unwirksam, der den Trennungsunterhalt<br />
betrifft. Das Recht zur Geltendmachung von<br />
Trennungsunterhaltsansprüchen ist auch dann gegeben,<br />
wenn die Abfindungssumme bereits bezahlt ist. 44<br />
Hinweis: Der Rückzahlungsanspruch hinsichtlich bereits<br />
gezahlter Beträge sollte in diesen Fällen vertraglich festgehalten<br />
und evtl. abgesichert werden. 45<br />
• Verzicht auf Trennungsunterhalt „für die Gegenwart“,<br />
also für einen kürzeren Zeitraum, z. B. eine evtl. nur kurze<br />
Zeit bis zur Rechtskraft der Scheidung.<br />
• Erschwerung der Möglichkeit, eine Erhöhung des Unterhalts<br />
nach §§ 238, 239 FamFG zu verlangen.<br />
• Ausschluss der gerichtlichen Geltendmachung von Unterhalt.<br />
46<br />
• nicht unwesentliche Stundung des Trennungsunterhaltsanspruchs.<br />
47<br />
• Verpflichtung, Trennungsunterhalt nicht geltend zu machen<br />
(pactum de non petendo). 48<br />
III. Erwägungen in der Rechtsprechung zur Wirksamkeitskontrolle<br />
Im Laufe der Entwicklung seit dem Urteil des BGH zur<br />
Kernbereichslehre im Jahre 2004 betont der BGH tendenziell<br />
mehr und mehr die Anpassung des Ehevertrages an<br />
die gegenwärtigen Verhältnisse und damit den Ausgleich<br />
entstandener ehebedingter Nachteile. 49<br />
Schließlich hat der BGH auch in seinen neuesten Entscheidungen<br />
die Vertragsfreiheit betont und seinen Standpunkt<br />
verdeutlicht, dass namentlich der Zugewinnausgleich einer<br />
ehevertraglichen Disposition am weitesten zugänglich und<br />
ein Ausschluss des gesetzlichen Güterstandes regelmäßig<br />
nicht sittenwidrig, also im Wege der Bestandskontrolle<br />
nicht zu beanstanden sei. 50<br />
Es gilt mehr denn je, dass die Ehegatten mit dem Ausschluss<br />
des Güterstandes der Zugewinngemeinschaft lediglich<br />
von einer im Gesetz eröffneten Gestaltungsmöglichkeit<br />
Gebrauch machen.<br />
Die Ehevertragsfreiheit hat weiterhin Bestand, wenn auch<br />
mit Einschränkungen, die sich aber ausschließlich auf den<br />
Kernbereich der Scheidungsfolgen beziehen. 51<br />
Die Vertragsfreiheit ist schon deshalb erforderlich, weil das<br />
Scheidungsfolgenrecht keinen zu lebenden Ehetypus vorschreibt.<br />
So, wie Eheleute frei darin sind, ihre Ehe inhaltlich<br />
zu gestalten, sind sie auch frei darin, die Folgen des Scheiterns<br />
ihrer Ehe zu regeln.<br />
Die Grenze der Freiheit zur Regelung der Folgen eines<br />
Scheiterns der Ehe kann nur in der Verletzung des zwingenden<br />
Schutzzwecks der gesetzlichen Regelung 52 liegen.<br />
Dieser Schutzzweck ist nach Auffassung des BGH unterlaufen,<br />
wenn eine<br />
• evident einseitige Lastenverteilung nicht<br />
• durch eine individuelle Gestaltung der Ehe gerechtfertigt<br />
sein kann und<br />
• die Lastenverteilung für einen Ehegatten unzumutbar<br />
ist. 53<br />
Unzumutbar ist eine Lastenverteilung nach Auffassung des<br />
BGH vor allem dann, wenn die Vereinbarung unter unfairen<br />
Bedingungen zustande gekommen ist.<br />
Der BGH erklärt, dass eine Beanstandung sich insbesondere<br />
aus Umständen außerhalb der Vertragsurkunde ergeben<br />
kann, die eine subjektive Imparität insbesondere infolge der<br />
Ausnutzung einer Zwangslage, einer sozialen oder wirtschaftlichen<br />
Abhängigkeit oder einer intellektuellen Unterlegenheit<br />
beweisen. 54 Insofern relativiert der BGH die Rangabstufung<br />
im Rahmen der Kernbereichslehre des Scheidungsfolgenrechts<br />
unter Heranziehung subjektiver Maßstäbe. 55<br />
Insgesamt bedeutet dies, dass es nunmehr auch verstärkt<br />
auf die subjektive Seite ankommt. Im ersten Leitsatz des<br />
Urteils des BGH vom 31.10.2012 56 heißt es:<br />
44 Kilger/Pfeil in: Göppinger/Börger, 5. Teil Rn. 136.<br />
45 Schwackenberg, FPR 2001, 107.<br />
46 OLG Karlsruhe, Urt. v. 13.03.1980 - 16 UF 215/79.<br />
47 BGH, Urt. v. 05.11.2008 - XII ZR 157/06 mit Anm. Bergschneider, Fam-<br />
RZ 2009, 198, 203.<br />
48 BGH, Beschl. v. 29.01.2014 - XII ZB 303/13 mit Anm. Bergschneider,<br />
FamRZ 2014, 727.<br />
49 BGH, Urt. v. 31.10.2012 - XII ZR 129/10; BGH, Urt. 02.02.2011 - XII ZR<br />
11/09; KG, Urt. v. 14.03.2012 - 3 UF 96/07.<br />
50 BGH, Urt. v. 21.11.2012 - XII ZR 48/11.<br />
51 So ausdrücklich schon BGH, Urt. v. 11.02.2004 - XII ZR 265/02.<br />
52 BGH, Urt. v. 11.02.2004 - XII ZR 265/02.<br />
53 BGH, Beschl. v. 17.07.2013 - XII ZB 143/12; Münch, Ehebezogene<br />
Rechtsgeschäfte, Rn. 870.<br />
54 Zu weiteren Beispielen hierzu vgl. Bergschneider, Richterliche Inhaltskontrolle<br />
von Eheverträgen und Scheidungsvereinbarungen, S. 79 ff.<br />
55 „Rangabstufung ... für den Berechtigten in seiner jeweiligen Lage“,<br />
BGH, Urt. v. 21.11.2012 - XII ZR 48/11.<br />
56 BGH, Urt. v. 31.10.2012 - XII ZR 129/10; so auch OLG Düsseldorf,<br />
Beschl. v. 21.02.2013 - I-3 Wx 193/12, 3 Wx 193/12; OLG Brandenburg,<br />
Beschl. v. 07.03.2013 - 10 UF 387/11; OLG Hamm, Beschl. v.<br />
20.12.2012 - II-11 UF 180/12, 11 UF 180/12.<br />
145
Die Monatszeitschrift<br />
„Ein Ehevertrag kann sich in einer Gesamtwürdigung nur<br />
dann als sittenwidrig und daher als insgesamt nichtig erweisen,<br />
wenn konkrete Feststellungen zu einer unterlegenen<br />
Verhandlungsposition des benachteiligten Ehegatten<br />
getroffen worden sind. Allein aus der Unausgewogenheit<br />
des Vertragsinhaltes ergibt sich die Sittenwidrigkeit des gesamten<br />
Ehevertrages regelmäßig noch nicht.“<br />
Kommt aber zur Unausgewogenheit hinzu, dass zum Zeitpunkt<br />
der Beurkundung bspw. eine Krankheitssituation vorgelegen<br />
hat, die zu einem großen persönlichen Druck der<br />
belasteten Partei führte, ist die Sittenwidrigkeit zu bejahen. 57<br />
Eine bevorstehende Operation indiziert eine solche Drucksituation<br />
jedoch nicht. 58<br />
Die Feststellungen zur unterlegenen Verhandlungsposition,<br />
zu einer Situation bei Beurkundung des Ehevertrages, die<br />
durch intellektuelle Unterlegenheit, Abhängigkeit oder eine<br />
Notsituation ohne zumutbaren Ausweg zu Lasten eines<br />
Ehegatten 59 geprägt war, korrespondieren mit der Belehrung<br />
durch den beurkundenden Notar.<br />
Zwar ist nach der Rechtsprechung des BGH nicht schon<br />
deshalb eine subjektive Imparität zu verneinen, weil der<br />
Notar ordnungsgemäß belehrt hat. 60 Der Verfahrensablauf<br />
kann jedoch dazu führen, dass eine subjektive Imparität zu<br />
verneinen ist.<br />
Dies ist dann der Fall, wenn sich der betroffene Ehegatte<br />
etwa lange und mit Vorbesprechungen bei dem Notar über<br />
die Regelungen Gedanken machen und sie für sich abwägen<br />
konnte. Ergibt sich Entsprechendes aus den Hinweisen<br />
zu den Belehrungen des Notars in der Urkunde, wird man<br />
regelmäßig nach der Rechtsprechung des BGH eine subjektive<br />
Imparität und deshalb eine Sittenwidrigkeit des Vertrages<br />
verneinen müssen. 61<br />
Neben umfangreichen Belehrungen können auch lange<br />
andauernde Verhandlungen dazu führen, eine subjektive<br />
Imparität zu verneinen.<br />
So hat der BGH 62 das Vorliegen einer subjektiven Imparität<br />
trotz erheblicher entsprechender objektiver Anhaltspunkte<br />
im Vertrag verneint, weil die Beteiligten monatelang unter<br />
Einschaltung beratender Rechtsanwälte mit Entwurf und Gegenentwurf<br />
über den Inhalt der Urkunde verhandelt hatten. 63<br />
Umgekehrt kann die fehlende Übersendung eines Vertragsentwurfs<br />
64 etwa wegen Überrumpelung 65 für subjektive<br />
Imparität sprechen. Dies wird in der Praxis aber eher die<br />
Ausnahme sein.<br />
IV. Fazit<br />
Eheverträge werden nach der Entwicklung der Rechtsprechung<br />
in Richtung größerer Vertragsfreiheit zukünftig<br />
weniger leicht angreifbar sein, auch wenn der Grundsatz<br />
gleichmäßigen Profitierens am Ergebnis einer Ehe nicht<br />
eingehalten wird. Das Prinzip der Halbteilung ist nicht<br />
Maßstab der Inhaltskontrolle einer Vereinbarung. 66<br />
In der Praxis wird es selten möglich sein, überzeugend<br />
eine für die Annahme der Unwirksamkeit eines Ehevertrages<br />
notwendige „subjektive Imparität“ darzulegen.<br />
Es wird deshalb in vielen Fällen darauf ankommen, im<br />
Wege der Ausübungskontrolle bei Trennung und Scheidung<br />
einer Ehe die ehebedingten Nachteile des betroffenen<br />
Ehegatten so konkret und exakt wie möglich<br />
darzulegen, um die „Schieflage“ zumindest insoweit zu<br />
korrigieren.<br />
57 So bei Alkoholkrankheit, vgl. OLG Koblenz, Urt. v. 25.10.2005 - 11 UF<br />
424/04 mit zustimmender Anmerkung Bergschneider.<br />
58 OLG Brandenburg, Beschl. v. 28.07.2002 - 9 WF 25/02.<br />
59 BGH, Urt. v. 31.10.2012 - XII ZR 129/10.<br />
60 BGH, Urt. v. 09.07.2008 - XII ZR 6/07.<br />
61 BGH, Urt. v. 09.07.2008 - XII ZR 6/07 m. Anm. Bergschneider; BGH,<br />
Urt. v. 31.10.2012 - XII ZR 129/10.<br />
62 BGH, Beschl. v. 29.01.2014 - XII ZB 303/13; Münch, Ehebezogene<br />
Rechtsgeschäfte, Rn. 768 ff.<br />
63 Vgl. dazu Bergschneider, FamRZ 2014, 727.<br />
64 OLG Dresden, Beschl. v. 27.03.2006 - 23 UF 0107/06, 23 UF 107/06.<br />
65 OLG Hamm, Beschl. v. 20.12.2012 - II-11 UF 180/12, 11 UF 180/12.<br />
66 BGH, Urt. v. 05.11.2008 - XII ZR 157/06.<br />
Hintergrundmusik in Zahnarztpraxen<br />
BGH, Urt. v. 18.06.2015 - I ZR 14/14<br />
Prof. Dr. Hannes Ludyga<br />
A. Problemstellung<br />
Der für das Urheberrecht zuständige 1. Zivilsenat des BGH<br />
entschied mit Urteil vom 18.06.2015 die für die Praxis bedeutende<br />
Frage, ob die Wiedergabe von Hintergrundmusik<br />
im Wartezimmer einer Zahnarztpraxis öffentlich i.S.v. § 15<br />
Abs. 3 UrhG ist. Die derzeitige Fassung von § 15 Abs. 3 UrhG<br />
beruht auf der Umsetzung der RL 2001/29/EG zur Informationsgesellschaft.<br />
1 Die Wiedergabe ist nach der Definition<br />
gem. § 15 Abs. 3 Satz 1 UrhG öffentlich, wenn sie für eine<br />
Mehrzahl von Mitgliedern der Öffentlichkeit bestimmt ist.<br />
1 Dreier/Schulze, UrhG, 5. Aufl. 2015, § 15 Rn. 37.<br />
146
JM 4 APRIL<br />
2016<br />
Zur Öffentlichkeit gehört jeder, der nicht mit demjenigen,<br />
der das Werk verwertet, oder mit den anderen Personen,<br />
denen das Werk in unkörperlicher Form wahrnehmbar oder<br />
zugänglich gemacht wird, durch persönliche Beziehungen<br />
verbunden ist. Liegt eine öffentliche Wiedergabe durch die<br />
Hintergrundmusik in Wartezimmern von Zahnarztpraxen<br />
vor, greift diese in das Verwertungsrecht des Urhebers gem.<br />
§ 22 UrhG ein und es besteht nach § 78 Abs. 2 Nr. 3 UrhG<br />
ein Anspruch des ausübenden Künstlers auf eine angemessene<br />
Vergütung.<br />
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung<br />
Die Klägerin ist die Gesellschaft für musikalische Aufführungs-<br />
und mechanische Vervielfältigungsrechte<br />
(GEMA), Beklagter ist ein Zahnarzt, der eine Zahnarztpraxis<br />
betreibt. 2 Kläger und Beklagter schlossen im<br />
August 2003 einen urheberrechtlichen Lizenzvertrag,<br />
aus dem die Klägerin den Beklagten auf Zahlung in Anspruch<br />
nimmt. In diesem Vertrag räumte die Klägerin<br />
dem Beklagten das Recht zur „Nutzung an Werken ihres<br />
Repertoires sowie des Repertoires der VG Wort und der<br />
GVL zur Wiedergabe von Hörfunksendungen in seiner<br />
Praxis gegen Zahlung einer Vergütung“ ein. 3 Unter Berufung<br />
auf das EuGH-Urteil vom 15.03.2012 (C-135/10),<br />
wonach Hintergrundmusik in Zahnarztpraxen „keine<br />
öffentliche Wiedergabe“ darstellt, kündigte der Beklagte<br />
im Dezember 2012 den Lizenzvertrag mit der Klägerin<br />
fristlos. 4<br />
den „Erwerbszeck des Nutzers“, das „Erreichen eines<br />
neuen Publikums“ und dessen „Aufnahmefähigkeit“.<br />
Hinsichtlich der Hintergrundmusik in Wartezimmern von<br />
Zahnarztpraxen ist für den BGH das Kriterium der Adressatenanzahl<br />
entscheidend, das gegen die öffentliche<br />
Wiedergabe spricht. Eine „unbestimmte Zahl potenzieller<br />
Adressaten“ liegt nach dem EuGH vor, wenn die „Wiedergabe<br />
für Personen allgemein erfolgt“ und „nicht auf<br />
bestimmte Personen beschränkt ist“. Das Kriterium „recht<br />
viele Personen“ verlangte keine „allzu kleine oder gar unbedeutende<br />
Mehrzahl betroffener Personen“. 9 Erfüllt sind<br />
diese Merkmale sicher bei der Rundfunkübertragung, die<br />
sich an einen größeren Personenkreis in einem Hotel oder<br />
einer Gastwirtschaft richtet. Auf eine Rundfunkübertragung<br />
in dem Wartezimmer einer Arztpraxis trifft dies –<br />
legt man die Kriterien des EuGH an – nicht zu, da Zahnarztpatienten<br />
„eine bestimmte Gesamtheit potenzieller<br />
Leistungsempfänger“ bilden und die „Zahl der Patienten,<br />
für die ein Zahnarzt denselben Tonträger hörbar“ macht,<br />
„unerheblich oder unbedeutend“ ist. So sind in der Regel<br />
„aufeinander folgende Patienten“ „nicht Hörer derselben<br />
Tonträger“. 10<br />
D. Auswirkungen für die Praxis<br />
Das BGH-Urteil vom 18.06.2015 zeigt erneut die enorme<br />
Bedeutung des EuGH für die Rechtsprechung deutscher Gerichte<br />
auf dem Gebiet des Urheberrechts. Es setzt die Vorgaben<br />
des EuGH präzise um und trägt zur „Harmonisierung<br />
des europäischen Urheberrechts“ bei. 11<br />
C. Kontext der Entscheidung<br />
Der BGH entschied zu Recht, dass der Beklagte zur Kündigung<br />
des Lizenzvertrags mit der Klägerin gem. § 313<br />
Abs. 3 Satz 2 berechtigt war, da „dessen Geschäftsgrundlage<br />
mit dem Urteil des EuGH vom 15.03.2012 entfallen<br />
und dem Beklagten eine Fortsetzung des Vertrags bis zum<br />
Ende der Laufzeit nicht zumutbar war“. 5 Es ist anerkannt,<br />
dass eine „Änderung einer gefestigten höchstrichterlichen<br />
Rechtsprechung“ „eine Anpassung eines Vertrages<br />
rechtfertigen kann“. 6 Zum Zeitpunkt des Abschlusses des<br />
Lizenzvertrages im August 2003 stellte die Übertragung<br />
von Hörfunksendungen in Wartezimmern von Arztpraxen<br />
nach der BGH-Rechtsprechung eine öffentliche Wiedergabe<br />
gem. § 15 Abs. 3 UrhG dar. 7 Diese „Rechtslage“ hat<br />
sich durch das EuGH-Urteil vom 15.03.2012 geändert. 8<br />
Der EuGH folgt einer von der deutschen Rechtsprechung<br />
„abweichenden Definition der öffentlichen Wiedergabe“<br />
unter Zugrundelegung diverser Kriterien. Er berücksichtigt<br />
bei seiner Definition das „Tätigwerden eines Nutzers“,<br />
die „unbestimmte Zahl potenzieller Adressaten“,<br />
das Merkmal „recht viele Personen als Adressaten“,<br />
2 BGH, Urt. v. 18.06.2015 - I ZR 14/14 Rn. 1.<br />
3 BGH, Urt. v. 18.06.2015 - I ZR 14/14 Rn. 2.<br />
4 BGH, Urt. v. 18.06.2015 - I ZR 14/14 Rn. 4.<br />
5 BGH, Urt. v. 18.06.2015 - I ZR 14/14 Rn. 10.<br />
6 BGH, Urt. v. 18.06.2015 - I ZR 14/14 Rn. 12; Palandt/Grüneberg, BGB,<br />
75. Aufl. 2016, § 313 Rn. 35.<br />
7 BGH, Urt. v. 18.06.2015 - I ZR 14/14 Rn. 14.<br />
8 BGH, Urt. v. 18.06.2015 - I ZR 14/14 Rn. 20.<br />
9 BGH, Urt. v. 18.06.2015 - I ZR 14/14 Rn. 43; Dreier/Schulze, UrhG,<br />
5. Aufl. 2015, § 15 Rn. 29.<br />
10 BGH, Urt. v. 18.06.2015 - I ZR 14/14 Rn. 45.<br />
11 Wandtke/Wandtke, Urheberrecht, 4. Aufl. 2014, Einleitung Rn. 53.<br />
147
Die Monatszeitschrift<br />
Schadensersatz wegen Nichtgewährung<br />
eines KiTa-Platzes<br />
OLG Dresden, Urt. v. 26.08.2015 - 1 U 319/15<br />
RA und FA für IT-Recht Wolfgang Kuntz<br />
A. Problemstellung<br />
Das LG Leipzig hatte am 02.02.2015 entschieden 1 , dass<br />
die Eltern eines Kleinkindes Anspruch auf Schadensersatz<br />
für entgangenen Verdienst, Beiträge zum Versorgungswerk<br />
sowie vorgerichtliche Anwaltskosten haben, wenn dem Kind<br />
ein Kita-Platz nicht rechtzeitig zur Verfügung gestellt wird.<br />
Die Berufungsentscheidung des OLG Dresden 2 änderte nun<br />
die Entscheidung des Landgerichts ab und wies die Klage ab.<br />
B. Die Entscheidung des Landgerichts<br />
Das Landgericht hat den Schadensersatzanspruch bejaht<br />
und die begehrten Gelder in voller Höhe zugesprochen. 3<br />
Zur Begründung führt das Landgericht aus, dass die beklagte<br />
Kommune die auch im Interesse der Eltern bestehende<br />
Amtspflicht auf Bereitstellung eines KiTa-Platzes verletzt<br />
habe. Der Anspruch auf Bereitstellung eines Krippenplatzes<br />
folge aus § 24 Abs. 2 SGB VIII. Danach hat ein Kind nach<br />
Vollendung des ersten Lebensjahres Anspruch auf Förderung<br />
in einer Tageseinrichtung oder Kindertagespflege.<br />
Die Norm, die primär einen Anspruch des Kindes definiere,<br />
sei sowohl nach der Erläuterung seitens des Gesetzgebers<br />
als auch aus verfassungsrechtlichen Gründen so auszulegen,<br />
dass sie auch die Interessen der Eltern schütze und damit<br />
dem Schutz der Interessen Dritter diene. Der Anspruch<br />
auf einen Krippenplatz folge aus der Erfüllung eines diesbezüglichen<br />
verfassungsrechtlichen Auftrages. Dadurch,<br />
dass die Kommune den Eltern den Krippenplatz trotz rechtzeitigen<br />
Antrags nicht zur Verfügung gestellt habe, habe<br />
diese ihre Amtspflicht schuldhaft vorsätzlich verletzt.<br />
Die Kommune könne sich wegen nicht ausreichend vorhandener<br />
Plätze nicht auf eine sog. objektive Unmöglichkeit<br />
berufen. Das gesetzgeberische Ziel, KiTa-Plätze zur Verfügung<br />
zu stellen, sei seit dem Jahr 2008 bekannt und die<br />
Kommunen hätten sich darauf einrichten können und Vorsorge<br />
treffen müssen. Ein Träger, der mindestens viereinhalb<br />
Jahre ungenutzt verstreichen lasse, handle zumindest<br />
fahrlässig. Der zu ersetzende Schaden umfasse auch den<br />
Verdienstausfall, der durch die notwendig werdende Verlängerung<br />
der Elternzeit entstehe.<br />
C. Die Entscheidung des Oberlandesgerichts<br />
Das Oberlandesgericht stützt seine ablehnende Entscheidung<br />
darauf, dass die Eltern nicht geschützte Dritte der<br />
Amtspflicht auf Verschaffung eines Platzes in der Kita<br />
seien. Ferner sei der Verdienstausfall bei einer Verletzung<br />
der Amtspflicht nicht vom Schutzzweck der Norm umfasst.<br />
Das Gericht begründet dies damit, dass Inhaber des Anspruchs<br />
nach § 24 Abs. 2 SGB VIII alleine das Kind sei. Der<br />
Wortlaut des § 24 Abs. 2 SGB VIII sei insoweit eindeutig<br />
und müsse als bewusste Entscheidung des Gesetzgebers<br />
gesehen werden, alleine dem Kind den Anspruch zu vermitteln.<br />
Die Eltern hätten hingegen keinen eigenen Anspruch<br />
auf Verschaffung eines Kita-Platzes für ihr Kind. Auch das<br />
Sächsische Gesetz zur Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen<br />
gebe den Eltern keinen Anspruch.<br />
Der Drittschutz ergebe sich auch nicht aus einer sonstigen<br />
Einbeziehung in den Schutzbereich der Norm. Zwar seien<br />
einige juristische Kommentatoren der Ansicht, dass die<br />
Sorgeberechtigten in den Schutzbereich einbezogen seien,<br />
da das Ziel, Erwerbstätigkeit und Kindererziehung besser<br />
vereinbaren zu können, ausdrücklich erwähnt werde und<br />
diese Einbeziehung auch aus verfassungsrechtlichen Gründen<br />
folge. Andererseits spreche aber die Auslegung unter<br />
Berücksichtigung der Gesetzesmaterialien gegen die Einbeziehung.<br />
Aus den Materialien folge, dass die Förderung<br />
des Kindeswohls im Vordergrund stehe. Wenn in der Gesetzesbegründung<br />
formuliert sei, dass erst die Schaffung eines<br />
Rechtsanspruchs den Eltern die Wahlfreiheit gebe, Beruf<br />
und Familie miteinander zu vereinbaren, folge daraus nicht,<br />
dass die Eltern deshalb geschützte Dritte des Anspruchs<br />
ihres Kindes sein sollen. Der Wortlaut der Vorschrift stelle auf<br />
die Förderung des Kindes und nicht auf die Erwerbsinteressen<br />
der Eltern ab. Da von den Fördergrundsätzen des § 22<br />
Abs. 2 SGB VIII nur die Sicherung des Kindeswohls Eingang<br />
in den Gesetzeswortlaut des § 24 Abs. 2 SGB VIII gefunden<br />
habe, folge hieraus, dass nur das Kind durch die Norm geschützt<br />
sein solle. Anderenfalls wären die weiteren Förderungsgrundsätze<br />
entweder erwähnt worden oder aber es<br />
wäre ein direkter Anspruch der Eltern statuiert worden.<br />
Der entstandene Schaden sei ferner nicht vom Schutzzweck<br />
der Norm umfasst. Mittelbare Schäden der Eltern, wie Verdienstausfall,<br />
seien hiervon nicht erfasst.<br />
D. Kritik<br />
Die Entscheidung des OLG Dresden ist hauptsächlich unter<br />
zwei Gesichtspunkten zu kritisieren.<br />
1 LG Leipzig, Urt. v. 02.02.2015 - 7 O 1455/14 (das Landgericht erließ<br />
am 02.02.2015 drei weitgehend gleichlautende Entscheidungen).<br />
2 OLG Dresden, Urt. v. 26.08.2015 - 1 U 319/15.<br />
3 Zur Entscheidung des Landgerichts eingehend Kuntz, jM 2015, 232-<br />
238.<br />
148
JM 4 APRIL<br />
2016<br />
Zum einen beruht das Urteil auf der fehlerhaften Anwendung<br />
der Auslegungsregeln einerseits und zum anderen<br />
auf der nicht korrekten Prüfung der Voraussetzungen, die<br />
in ständiger Rechtsprechung für eine Drittbezogenheit aufgestellt<br />
worden sind. 4<br />
Das BVerfG hat für die Auslegung von Gesetzen in ständiger<br />
Rechtsprechung folgende Grundsätze aufgestellt:<br />
„Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesbestimmung<br />
ist der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille<br />
des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der<br />
Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt,<br />
in den diese hineingestellt ist. Nicht entscheidend ist dagegen<br />
die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren<br />
beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder<br />
über die Bedeutung der Bestimmung. Der Entstehungsgeschichte<br />
einer Vorschrift kommt für deren Auslegung nur<br />
insofern Bedeutung zu, als sie die Richtigkeit einer nach<br />
den angegebenen Grundsätzen erhaltenen Auslegung bestätigt<br />
oder Zweifel behebt, die auf dem angegebenen Weg<br />
allein nicht ausgeräumt werden können.“ 5<br />
„… Der Erfassung des objektiven Willens des Gesetzgebers<br />
dienen die anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung<br />
aus dem Wortlaut der Norm, der Systematik, ihrem Sinn<br />
und Zweck sowie aus den Gesetzesmaterialien und der<br />
Entstehungsgeschichte, die einander nicht ausschließen,<br />
sondern sich gegenseitig ergänzen. Unter ihnen hat keine<br />
einen unbedingten Vorrang vor einer anderen (vgl. BVerfGE<br />
11, 126 [130]; 105, 135 [157]). Ausgangspunkt der Auslegung<br />
ist der Wortlaut der Vorschrift. Er gibt allerdings nicht<br />
immer hinreichende Hinweise auf den Willen des Gesetzgebers.<br />
Unter Umständen wird erst im Zusammenhang mit<br />
Sinn und Zweck des Gesetzes oder anderen Auslegungsgesichtspunkten<br />
die im Wortlaut ausgedrückte, vom Gesetzgeber<br />
verfolgte Regelungskonzeption deutlich, der sich<br />
der Richter nicht entgegenstellen darf (vgl. BVerfGE 122,<br />
248 [283] – abw. M.). Dessen Aufgabe beschränkt sich<br />
darauf, die intendierte Regelungskonzeption bezogen auf<br />
den konkreten Fall – auch unter gewandelten Bedingungen<br />
– möglichst zuverlässig zur Geltung zu bringen (vgl.<br />
BVerfGE 96, 375 [394 f.]). In keinem Fall darf richterliche<br />
Rechtsfindung das gesetzgeberische Ziel der Norm in<br />
einem wesentlichen Punkt verfehlen oder verfälschen oder<br />
an die Stelle der Regelungskonzeption des Gesetzgebers<br />
gar eine eigene treten lassen (vgl. BVerfGE 78, 20 [24]<br />
m.w.N.). Für die Beantwortung der Frage, welche Regelungskonzeption<br />
dem Gesetz zugrunde liegt, kommt daneben<br />
den Gesetzesmaterialien und der Systematik des Gesetzes<br />
eine nicht unerhebliche Indizwirkung zu. Die Eindeutigkeit<br />
der im Wege der Auslegung gewonnenen gesetzgeberischen<br />
Grundentscheidung wird nicht notwendig dadurch<br />
relativiert, dass der Wortlaut der einschlägigen Norm auch<br />
andere Deutungsmöglichkeiten eröffnet, soweit diese Deutungen<br />
offensichtlich eher fernliegen. Anderenfalls wäre es<br />
für den Gesetzgeber angesichts der Schwierigkeit, textlich<br />
Eindeutigkeit herzustellen, nahezu unmöglich, sein Regelungsanliegen<br />
gegenüber der Rechtsprechung über einen<br />
längeren Zeitraum durchzusetzen (vgl. BVerfGE 122, 248<br />
[284] – abw. M.).“ 6<br />
Das BVerfG hat damit besonders hervorgehoben, dass<br />
keine Auslegungsregel einen unbedingten Vorrang vor<br />
einer anderen hat. Demgegenüber hat die Entscheidung<br />
des OLG Dresden ausdrücklich gerade dem Wortlaut der<br />
Vorschrift nahezu die allein prägende Wirkung für die<br />
Auslegung zugeschrieben und die Systematik des Gesetzes<br />
– man denke dabei nur an § 22 Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII<br />
– sowie die Motive und Beweggründe des Gesetzgebers,<br />
wie sie in den Materialien des Gesetzes zum Ausdruck<br />
kommen, nicht gleichrangig gewürdigt. Dies verstößt<br />
gegen die Gesetzesauslegung nach den Vorgaben des<br />
BVerfG. Das Oberlandesgericht stellt nämlich in seiner<br />
Urteilsbegründung hauptsächlich darauf ab, dass alleine<br />
das Kind in § 24 Abs. 2 SGB VIII als Anspruchsberechtigter<br />
genannt sei und nur die Förderung des Kindeswohls<br />
als Fördergrundsatz erwähnt werde. Diese Auslegung<br />
widerspricht der Gesetzessystematik und verkennt die<br />
verfassungsrecht lichen Hintergründe der Vorschriften.<br />
Entgegen der Ansicht des OLG muss der Fördergrundsatz<br />
des § 22 Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII angesichts seiner Bedeutung<br />
für den grundgesetzlichen Auftrag des Schutzes von Ehe<br />
und Familie (Art. 6 GG) in § 24 Abs. 2 SGB VIII nicht noch<br />
einmal explizit erwähnt werden, wenn er in § 22 Abs. 2<br />
SGB VIII als Förderziel eines Kita-Platzes bereits – sozusagen<br />
„vor der Klammer“ – genannt ist. Mit anderen<br />
Worten: Da die Förderziele in § 22 Abs. 2 SGB VIII bereits<br />
zusammenfassend genannt sind, bedarf es einer zusätzlichen<br />
nochmaligen Erwähnung sämtlicher Ziele bei den<br />
nachfolgenden im Regelungszusammenhang stehenden<br />
Vorschriften nicht mehr. Für die Auslegung des § 24 Abs. 2<br />
SGB VIII müssen daher alle in § 22 Abs. 2 SGB VIII genannten<br />
Fördergrundsätze gleichrangig beachtet werden.<br />
Es kommt entgegen der Ansicht des Oberlandesgerichts<br />
auch nicht darauf an, ob das Grundgesetz einen Anspruch<br />
auf einen Kita-Platz unmittelbar verschafft bzw. verschaffen<br />
soll. Im Ergebnis ist es daher unschädlich, dass die<br />
Eltern eines bestimmten Kindes gem. § 24 Abs. 2 SGB VIII<br />
nicht selbst beanspruchen, in der Kita betreut zu werden. 7<br />
4 So auch Rixen, NZFam 2015, 919 f.<br />
5 BVerfG, Urt. v. 21.05.1952 - 2 BvH 2/52 - BVerfGE 1, 299 ff.<br />
6 BVerfG, Urt. v. 19.03.2013 - 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR<br />
2155/11 - BVerfGE 133, 168 ff.<br />
7 Rixen, NZFam 2015, 919.<br />
149
Die Monatszeitschrift<br />
Zum anderen verkennt das Gericht die Voraussetzungen für<br />
einen Drittschutz der Norm, wie sie vom BGH entwickelt<br />
worden sind. 8<br />
Maßgebend für einen Drittschutz ist der Schutzzweck, dem<br />
die Amtspflicht nach den sie begründenden und umreißenden<br />
Vorschriften und nach der besonderen Natur des Amtsgeschäfts<br />
dienen soll. 9 Generell ist zu konstatieren, dass<br />
eine Amtspflicht nur dann drittschützende Wirkung i.S.d.<br />
§ 839 BGB entfaltet, wenn sie gerade im Interesse einzelner<br />
Staatsbürger oder einer individualisierten Personengruppe<br />
zu erfüllen ist und nicht lediglich der Aufrechterhaltung der<br />
öffentlichen Ordnung und dem Schutz des Allgemeininteresses<br />
des Gemeinwesens dient. 10 Erforderlich ist, dass die<br />
Amtspflicht einerseits gerade das verletzte Rechtsgut und<br />
gerade (zumindest) auch dessen Inhaber schützen soll. 11<br />
Nach allgemeiner Auffassung ist eine Drittbezogenheit in<br />
dreierlei Hinsicht erforderlich: Die Amtspflicht muss überhaupt<br />
Drittwirkung haben, der Geschädigte muss dem zu<br />
schützenden Personenkreis angehören und das konkret<br />
betroffene Interesse muss durch die Amtspflicht geschützt<br />
werden. 12<br />
Dass die Amtspflicht vorliegend überhaupt Drittwirkung hat,<br />
wird auch vom OLG Dresden nicht in Abrede gestellt. Der<br />
persönliche Schutzbereich ist eröffnet, wenn der Zweck der<br />
Vorschrift zumindest auch die Wahrnehmung der Interessen<br />
des Einzelnen ist, wenn eine besondere Beziehung zwischen<br />
der verletzten Amtspflicht und dem geschädigten Dritten<br />
besteht 13 in dem Sinn, dass dessen Belange nach Zweck<br />
und rechtlicher Bestimmung des Amtsgeschäfts geschützt<br />
und gefördert werden sollen und er zu einem erkennbar<br />
abgegrenzten Personenkreis gehört, auf dessen Interessen<br />
in qualifizierter und individualisierter Weise Rücksicht zu<br />
nehmen ist 14 . Hierfür ist die unmittelbare Beteiligung am<br />
Amtsgeschäft allerdings ebenso wenig notwendige Voraussetzung<br />
wie ein Rechtsanspruch des Betroffenen auf die<br />
streitgegenständliche Amtshandlung. 15 Wenn in den Gesetzesmaterialien<br />
16 davon die Rede ist, dass durch die Regelung<br />
den Eltern ermöglicht werden soll, Beruf und Familie besser<br />
zu vereinbaren, dann wird durch die Regelung des Gesetzes<br />
zumindest auch der Zweck verfolgt, die Interessen der<br />
Eltern zu schützen und diesen im Falle der Gewährung des<br />
Kita-Platzes die berufliche Tätigkeit neben der Erziehung des<br />
Kindes zu ermöglichen. Ebenso soll – ganz grundsätzlich –<br />
den Eltern, dabei insbesondere den Frauen, die faktische<br />
Wahl ermöglicht werden, wie sie die Betreuung ihres Kindes<br />
im Einzelnen gestalten. 17 Dieses gesetzgeberische Ziel hat<br />
gesetzessystematisch auch in den Fördergrundsätzen nach<br />
§ 22 Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII Eingang gefunden. Daraus folgt,<br />
dass durch die Amtspflicht auch Rechtsgüter und Interessen<br />
der Eltern geschützt werden sollen. Dass die Eltern in den abgegrenzten<br />
individualisierten Personenkreis gehören, kann<br />
daneben auch daraus geschlossen werden, dass sie in aller<br />
Regel die Ansprüche nach den entsprechenden Vorschriften<br />
als gesetzliche Vertreter durchsetzen.<br />
Darüber hinaus kann richtiger Ansicht nach auch eine mittelbare<br />
Betroffenheit eines nicht am Amtsgeschäft Beteiligten<br />
ausreichen, wenn die Interessen des Dritten nach der<br />
besonderen Natur des Amtsgeschäfts durch dieses berührt<br />
werden. 18 Zumindest diese mittelbare Betroffenheit ist vorliegend<br />
anzunehmen, da die Nicht-Zurverfügungstellung<br />
eines Kita-Platzes nach der Natur dieses Amtsgeschäfts<br />
zwingend in die Interessen der gesetzlich vertretungsberechtigten<br />
Eltern eingreifen muss und die Nichtförderung<br />
des Kindes damit auch dem Fördergrundsatz nach § 22<br />
Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII widerspricht.<br />
Mayer hat zudem mit einem anderen Begründungsansatz<br />
nachgewiesen, dass der Drittschutz der Amtspflicht auch<br />
für die Erziehungsberechtigten gilt, die in das durch § 24<br />
Abs. 2 SGB VIII begründete öffentlich-rechtliche Schuldverhältnis<br />
einbezogen seien, da auch deren Interessen an einer<br />
Vereinbarkeit von Beruf und Familie gesetzlich geschützt<br />
seien, wie § 22 Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII belege. 19 Die vom BGH<br />
geforderte besondere Beziehung zwischen geschützter<br />
Amtspflicht und den geschädigten Erziehungsberechtigten<br />
liegt daher auch nach dieser Ansicht vor. 20<br />
E. Ausblick<br />
Das Oberlandesgericht hat die Revision zugelassen. Sie ist<br />
mittlerweile anhängig. 21 Es bleibt zu hoffen, dass der BGH<br />
in letzter Instanz im Sinne der Familien entscheiden wird.<br />
Jede andere Entscheidung würde das vom OLG Dresden als<br />
gesetzgeberisches Ziel in den Vordergrund gestellte „Kindeswohl“<br />
in der Konsequenz letztlich konterkarieren.<br />
8 Z.B. BGH, Urt. v. 08.11.2012 - III ZR 293/11.<br />
9 BGH, Urt. v. 26.01.1989 - III ZR 194/87 - BGHZ 106, 323 ff. (331).<br />
10 Zimmerling in: jurisPK-BGB, § 839 Rn. 94.<br />
11 Zimmerling in: jurisPK-BGB, § 839 Rn. 94 m.w.N.<br />
12 Zimmerling in: jurisPK-BGB, § 839 Rn. 96.<br />
13 BGH, Urt. v. 08.11.2012 - III ZR 293/11.<br />
14 Sprau in: Palandt, § 839 Rn. 44.<br />
15 So mit Recht Rixen, NZFam 2015, 919.<br />
16 BT-Drs. 16/9299 und 16/10173.<br />
17 BT-Drs. 16/9299, S. 12.<br />
18 Zimmerling in: jurisPK-BGB, § 839 Rn. 98.<br />
19 Mayer, VerwA 2013, 381 und 382 (zum kausalen Schaden im Rahmen<br />
des Amtshaftungsanspruchs).<br />
20 Mayer, VerwA 2013, 381.<br />
21 Beim BGH unter Az.: III ZR 302/15.<br />
150
JM 4 APRIL<br />
2016<br />
Arbeitsrecht<br />
Arbeitsrechtliche Sonderwege im bezahlten Fußball? (Teil 2*)<br />
VRiBAG a.D. Klaus Bepler<br />
C. Rechtsfolgen einer Nichtbeschäftigung „im Rampenlicht“<br />
Das Urteil des ArbG Mainz behandelt einen zweiten Streitgegenstand,<br />
der in den Urteilsbesprechungen, soweit ersichtlich,<br />
keine Rolle gespielt hat, obwohl auch er eine besondere<br />
Rechtsfrage des Sportarbeitsrechts aufwirft. Heinz<br />
Müller, der bis zum Aufbrechen seiner Verletzung in der<br />
ersten Halbzeit des 11. Spieltages der Spielzeit 2013/2014<br />
in zehn von elf Spielen der 1. Bundesligamannschaft eingesetzt<br />
worden war, war – offenbar nach dem Ausheilen<br />
seiner Verletzung – ab dem 17. Spieltag dem Trainings- und<br />
Spielbetrieb der 2. Mannschaft des TSV Mainz 05 zugewiesen<br />
worden. Sie spielt in der 3. Liga gegen Vereine wie den<br />
FC Viktoria Köln und die SG Sonnenhof Großaspach. Dadurch<br />
waren für ihn im Verhältnis zu einem Einsatz in der<br />
1. Bundesligamannschaft jedenfalls möglicherweise Prämien<br />
in Höhe von 261.000 € ausgefallen, die er im Klagewege<br />
geltend gemacht hat.<br />
Das Arbeitsgericht hat diesen Teil der Klage abgewiesen.<br />
Es hat dies im Wesentlichen damit begründet, der Kläger<br />
hätte selbst dann keinen Anspruch auf einen konkreten,<br />
Punkteprämien auslösenden Einstand im Spielbetrieb<br />
der 1. Mannschaft gehabt, wenn er einen allgemeinen<br />
Anspruch auf Teilnahme an deren Trainings- und Spielbetrieb<br />
habe. Für einen Anspruch des Klägers aus § 162<br />
Abs. 1 BGB habe dieser den ihm obliegenden Beweis nicht<br />
geführt, dass die legitimen, vielfältigen Gründe, an denen<br />
der Trainer seine sportliche Entscheidung ausrichten dürfe,<br />
widerlegt seien, und dass eine persönliche Animosität der<br />
entscheidende Gesichtspunkt gewesen sei.<br />
Diese Begründung mag tragfähig sein, wenn man davon<br />
ausgeht, der Spieler stehe in einem Arbeitsverhältnis auf<br />
unbestimmte Zeit, in dem er eine fortdauernde, in ihrem<br />
Bestand geschützte Existenzgrundlage hat. Konkrete Einwände<br />
gegen diesen Teil des Urteils könnte man auch nur<br />
dann erheben, wenn man den zugrunde liegenden Lebenssachverhalt<br />
und den Inhalt der Beweisaufnahme umfassend<br />
hätte zur Kenntnis nehmen können. Dieser zweite Teil<br />
der angesprochenen Entscheidung bietet aber zumindest<br />
dann Anlass zu einigen ergänzenden sportarbeitsrechtlichen<br />
Erwägungen, wenn man davon ausgeht, dass die<br />
Arbeitsverträge mit Lizenzspielern unter den genannten<br />
Bedingungen wirksam befristet sind.<br />
I. Der modifizierte Beschäftigungsanspruch der<br />
Lizenzfußballer<br />
Jeder Arbeitnehmer hat grds. einen Rechtsanspruch auf<br />
arbeitsvertragsgemäße tatsächliche Beschäftigung. Dieser<br />
Anspruch ist ursprünglich für den künstlerischen Bereich<br />
entwickelt worden 1 und vorrangig auf ideelle Gründe aus<br />
dem Bereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gestützt<br />
worden. 2 Er ist aber heute allgemein anerkannt und gilt sogar<br />
verstärkt, wenn auch das berufliche Fortkommen oder<br />
das Arbeitsentgelt von der tatsächlichen Beschäftigung im<br />
Arbeitsverhältnis abhängig ist.<br />
Damit ist noch wenig für die Antwort auf die Frage gewonnen,<br />
inwieweit dieser allgemeine Beschäftigungsanspruch<br />
auch einen Rechtsanspruch des einzelnen Lizenzspielers<br />
auf einen einen Prämienanspruch auslösenden Einsatz in<br />
einem konkreten Wettkampfspiel der 1. Mannschaft umfasst.<br />
Das BAG hat diese Frage nur selten behandelt und<br />
mit Hinweis auf die Besonderheiten des Berufsbildes eines<br />
Lizenzspielers verneint. 3 Die Teilnahme an Pflichtspielen<br />
stelle sich für den Lizenzspieler nur als eine rechtlich nicht<br />
geschützte Chance dar, mit der die im Wesentlichen unbegrenzte<br />
Freiheit der Vereinsverantwortlichen korrespondiere,<br />
über den Einsatz des Spielers zu entscheiden.<br />
An anderer Stelle wurde schon vor einiger Zeit ausführlich<br />
begründet, 4 dass diese Rechtsauffassung zu weitgehend<br />
ist und einseitig den Interessen der Vereine entspricht. Die<br />
für den Verein ohne Weiteres erkennbare Interessenlage<br />
des Lizenzspielers bei Vertragsschluss schließt es regelmäßig<br />
aus, dem Verein das Recht zu geben, willkürlich<br />
* Fortführung des in jM 2016, 105 ff. veröffentlichten Beitrags.<br />
1 Vgl. hierzu die umfangreichen Nachweise bei Bepler in: Bepler<br />
(Hrsg.), Sportler, Arbeit und Statuten, Herbert Fenn zum 65. Geburtstag,<br />
S. 43, 62.<br />
2 BAG, Urt. v. 10.11.1955 - 2 AZR 591/54 - AP BGB § 611 Beschäftigungspflicht<br />
Nr. 2; BAG, Urt. v. 27.02.1985 - GS 1/84 - NZA 1985, 702.<br />
3 BAG, Urt. v. 22.08.1984 - 5 AZR 539/81 - AP BGB § 616 Nr. 65; im<br />
Ergebnis ebenso BAG, Urt. v. 19.01.2000 - 5 AZR 637/98 - NZA 2000,<br />
771.<br />
4 Bepler in: Bepler (Hrsg.), Sportler, Arbeit und Statuten, Herbert Fenn<br />
zum 65. Geburtstag, S. 43, 69 ff.<br />
151
Die Monatszeitschrift<br />
über den Einsatz oder Nichteinsatz des Spielers entscheiden<br />
zu lassen. Beim Spieler ist andererseits ein von Rechts<br />
wegen zu schützendes Vertrauen darauf entstanden, dass<br />
der Verein es nicht sachwidrig verhindert, dass er die im<br />
Vertrag in Aussicht gestellten Prämien verdient, ihm nicht<br />
ohne sachlich-sportlichen Grund die Möglichkeit nimmt,<br />
in dem zentralen, für seine berufliche Persönlichkeitsentfaltung<br />
maßgeblichen Bereich seines Sports, im Spieleinsatz,<br />
tätig zu werden. Der Lizenzspieler darf darauf vertrauen,<br />
dass ihn sein Verein nicht hindert, auf diese Weise<br />
seinen Marktwert für mögliche künftige Vertragspartner<br />
zu steigern.<br />
Aus dem Wesen des Mannschaftssports Fußball und dem<br />
zu unterstellenden Bewusstsein des Arbeitnehmers, dass im<br />
Fußball jeweils nur elf Arbeitnehmer sowie die Einwechselspieler<br />
entsprechend den sportlichen Vorgaben des Trainers<br />
zum Einsatz kommen können, ergibt sich, dass ein rechtlich<br />
durchsetzbarer Anspruch nur auf Trainingsteilnahme, aber<br />
nicht auf tatsächlichen Einsatz in einem einzelnen Pflichtspiel<br />
bestehen kann. Dann muss aber unter den besonderen<br />
Umständen der Arbeitsverhältnisse von Lizenzfußballern<br />
von dem dem Grunde nach bestehenden Beschäftigungsanspruch<br />
zumindest das Recht verbleiben, dass über seinen<br />
Einsatz auf einem durch sachlich-sportliche Erwägungen<br />
geordneten Weg entschieden wird.<br />
Dies muss umso mehr gelten, wenn man die herrschende<br />
Befristungspraxis im Lizenzspielerbereich mit den<br />
außergewöhnlich hohen Einkünften, die dort zu erzielen<br />
sind, und dem besonderen Arbeitsmarkt begründet, auf<br />
dem Lizenzspieler sehr gute Chancen auf Anschlussbeschäftigungen<br />
haben. Denn die außergewöhnlich hohen<br />
Einkünfte können in aller Regel auch mithilfe zumindest<br />
gelegentlicher Einsatzprämien erzielt werden. Jedenfalls<br />
kann die Chance auf deren Erwerb nicht durch sachwidrige<br />
Gründe verhindert werden. Die Chance eines Lizenzspielers,<br />
nach Ablauf des befristeten Arbeitsvertrages ein<br />
adäquates Anschlussbeschäftigungsverhältnis als Lizenzspieler<br />
zu finden, hängt maßgeblich davon ab, inwieweit<br />
der Spieler in der Vergangenheit die Möglichkeit hatte,<br />
seine Leistungsfähigkeit nach außen hin merkbar unter<br />
Beweis zu stellen. Hierfür sind die Aussichten bei Einsätzen<br />
in der 1. Mannschaft eines Bundesligisten ungleich<br />
größer als dann, wenn ohne sachlichen Grund ausschließlich<br />
Spielteilnahmen in einer – eher mittelmäßigen –<br />
3.-Ligamannschaft ermöglicht werden.<br />
Jedenfalls unter den Rahmenbedingungen eines wirksam<br />
befristeten Lizenzspielervertrages mag sich aus einer Verletzung<br />
des Anspruchs auf eine Einsatzentscheidung aus<br />
sachlich-sportlichen Gründen möglicherweise (i.V.m. § 162<br />
Abs. 1 BGB) ein Anspruch auf Erfüllung des bedingten<br />
vertraglichen Prämienversprechens ergeben. Zumindest<br />
folgt aus dieser Vertragsverletzung ein Schadensersatzanspruch,<br />
der der Höhe nach zu schätzen (§ 287 ZPO) wäre.<br />
Er darf nicht durch überzogene Beweisanforderungen entwertet<br />
werden. Es mag sein, dass man dem Spieler hier<br />
zunächst einmal die Darlegungs- und Beweislast für das<br />
Vorliegen einer sachwidrigen Entscheidung aufzuerlegen<br />
hat. Dem dürfte aber in einem gestuften Verfahren schon<br />
dann Rechnung getragen sein, wenn der Spieler einen Geschehensablauf<br />
darlegt und beweist, der eine sachwidrige<br />
Entscheidung sehr nahelegt. Ist dies geschehen, muss der<br />
Arbeitgeber die tatsächlich existierenden Sachgründe im<br />
Einzelnen darlegen und beweisen.<br />
Im Mainzer Fall ist der Spieler nicht etwa in der 2. Mannschaft<br />
mit dem Ziel eingesetzt worden, seine vom Trainer<br />
zuvor durchgängig angenommene Leistungsfähigkeit für<br />
einen Einsatz in der 1. Bundesligamannschaft wiederzuerlangen.<br />
Ihm scheint vielmehr endgültig und unwiderruflich<br />
die Chance genommen worden sein, sich für den Erwerb<br />
von Einsatzprämien in dieser Mannschaft zu empfehlen.<br />
Sollte diese Einschätzung richtig sein, müsste nach hier<br />
vertretener Ansicht der Verein die an sportlichen Belangen<br />
orientierte Sachlichkeit der getroffenen Entscheidung darlegen<br />
und ggf. beweisen.<br />
II. Anspruch darauf, vorübergehend zu einem anderen<br />
Verein wechseln zu dürfen<br />
Aktuelle Ereignisse auf dem Transfermarkt geben Anlass,<br />
auf eine weitere mögliche Rechtsfolge im Zusammenhang<br />
mit dem modifizierten Beschäftigungsanspruch von Lizenzfußballern<br />
hinzuweisen. Auch ganz ohne sachwidrige<br />
Entscheidung über Einsatz oder Nichteinsatz eines Lizenzspielers<br />
kann diesem unter dem behandelten rechtlichen<br />
Gesichtspunkt möglicherweise ein Anspruch darauf zustehen,<br />
für einen vorübergehenden Einsatz bei einem anderen<br />
Profiverein freigegeben zu werden. Die Sportpresse spricht<br />
in solchen Fällen zwar davon, ein Spieler werde verliehen.<br />
Gemeint ist aber wohl, dass der befristete Lizenzspielervertrag<br />
mit dem bisherigen Verein auf Zeit in seinen<br />
Hauptpflichten und hinsichtlich des arbeitsvertraglichen<br />
Konkurrenzverbots suspendiert und dem Arbeitnehmer im<br />
Rahmen eines dreiseitigen Vertrages die Erlaubnis gegeben<br />
wird, mit einem anderen Verein einen auf diesen Zeitraum<br />
befristeten Lizenzspielervertrag zu schließen. An einen Anspruch<br />
des Lizenzspielers hierauf ist nach dem eben Ausgeführten<br />
jedenfalls dann zu denken, wenn der Spieler mit<br />
einem Bundesligisten einen Spielervertrag abgeschlossen<br />
hat, der einen Einsatz in der 1. Mannschaft zumindest nicht<br />
ausschließt, und – möglicherweise auch aus rein sportlichen<br />
Gründen – aus der Sicht des Vereins feststeht, dass<br />
der Spieler „unter diesem Trainer“ dort nicht mehr eingesetzt<br />
werden wird.<br />
152
JM 4 APRIL<br />
2016<br />
III. Zusammenfassung und Ausblick<br />
Veranlasst durch aktuelle Ereignisse wurde hier nur ein kleiner<br />
Ausschnitt der Fragen aus dem Bereich des berufsmäßig<br />
ausgeübten Mannschaftssports Fußball angesprochen, für<br />
die sich die Frage nach einem Sonderweg im Arbeitsrecht<br />
stellt. Die Ursachen dafür, dass sich diese Fragen stellen,<br />
sind vielfältig. Hier waren nur einige Besonderheiten anzusprechen:<br />
Ein diese Form der Berufsausübung besonders<br />
prägendes Leistungsprinzips; die außerordentlich hohe Vergütung;<br />
eine mit der Praxis des allgemeinen Arbeitsrechts<br />
im Widerspruch stehende, hier aber im ganz Wesentlichen<br />
unangefochtene arbeitsvertragliche Üblichkeit; und – am<br />
Rande – ein international vernetzter und von supranational<br />
gesetzten Regeln abhängiger Arbeitsmarkt. Manch anderes<br />
mag hinzukommen. 5<br />
Wegen der eingangs angesprochenen Befristungsproblematik<br />
ist auf die Möglichkeit hingewiesen worden, hier mit Hilfe<br />
von Tarifverträgen eine größere Flexibilität zu erreichen. 6<br />
Diese Möglichkeit würde angesichts der tarifwilligen und<br />
wohl auch tariffähigen Spielergewerkschaft Vereinigung<br />
der Vertragsfußballspieler (VdV) zumindest in Betracht kommen.<br />
Diese Spielergewerkschaft existiert seit 1987 und hat<br />
nach eigenen Angaben mehr als 1.300 Mitglieder. Bislang<br />
haben der Deutsche Fußball-Bund (DFB) und die Deutsche<br />
Fußball Liga (DFL) zwar wohl noch nicht den Schritt getan,<br />
sich als Arbeitgeberverband zu konstituieren oder eine derartige<br />
Unterorganisation auszugliedern, sodass derzeit nur<br />
Haustarifverträge mit den einzelnen Vereinen oder deren<br />
Trägerunternehmen möglich sein dürften. Die Gründung eines<br />
oder mehrerer Arbeitgeberverbände dürfte aber keine<br />
rechtlich unüberwindbaren Schwierigkeiten bereiten.<br />
Die Tariföffnungen im Befristungsrecht allein werden den<br />
Bedürfnissen im Sportarbeitsrecht vermutlich nicht genügen.<br />
Aufgrund der für Tarifverträge geltenden Angemessenheitsvermutung<br />
würden aber möglicherweise auch von<br />
Tarifvertragsparteien installierte besondere Sachgründe für<br />
eine Befristung im Profifußball einer gerichtlichen Kontrolle<br />
leichter standhalten. Dies dürfte insbesondere dann naheliegen,<br />
wenn solche Regelungen Teil eines in sich abgewogenen<br />
tariflichen Regelungspakets sind.<br />
Eine noch weitergehende rechtliche Berücksichtigung<br />
besonderer Umstände, wie es sie nur im Berufssport in<br />
Mannschaftssportarten gibt, könnte sich ergeben, wenn<br />
der Gesetzgeber die in § 101 Abs. 2 ArbGG abschließend<br />
aufgezählten Möglichkeiten für den Abschluss tarifvertraglicher<br />
Einzelschiedsvereinbarungen 7 („Bühnenkünstler,<br />
Filmschaffende oder Artisten“) entsprechend erweiterte<br />
und die Tarifvertragsparteien für den Profifußball hiervon<br />
Gebrauch machten. Eine Erweiterung „Bühnenkünstler,<br />
Filmschaffende, Artisten und Berufssportler in Mannschaftssportarten“<br />
(oder: „im Fußballsport“) hätte zwar<br />
nicht die besondere Legitimation durch die grundgesetzlich<br />
geschützte Kunstfreiheit des Art. 5 Abs. 3 GG. Eine solche<br />
Regelung würde aber für eine weitere Form höchst atypischer<br />
Berufsausübung im Hochverdienerbereich, für die in<br />
anderen Zusammenhängen immer wieder die Arbeitsverhältnisse<br />
der Bühnenkünstler vergleichend herangezogen<br />
werden, eine besondere, die Erkenntnis und Berücksichtigung<br />
spezieller Interessenlagen eröffnende Rechtsfindung<br />
durch Spezialisten ermöglichen. 8 Eine Kontrolle durch die<br />
Gerichte für Arbeitssachen wäre dadurch nicht gänzlich<br />
ausgeschlossen (§ 110 Abs. 1 ArbGG).<br />
D. Mindestlohn für Vertragsfußballer<br />
Abschließend nur ein kurzer Hinweis auf eine Rechtsfrage<br />
am anderen Ende der Skala des bezahlten Fußballs, bei den<br />
Vertragsfußballern oder „Vertragsamateuren“.<br />
Ausweislich einer Pressemitteilung des Deutschen Olympischen<br />
Sportbundes hat die Bundesministerin für Arbeit und<br />
Soziales bei einem Gespräch am 13.02.2015 „klargestellt,<br />
dass Amateur-Vertragsspieler und andere ehrenamtlich<br />
Engagierte nicht unter die Mindestlohnregelung fallen“.<br />
Bei den sog. Vertragsamateuren im Fußball handelt es sich<br />
nach der Pressemitteilung um Mitglieder in Vereinen, die<br />
eine geringe Bezahlung für ihre Spieltätigkeit erhalten, in<br />
der Regel als Minijobber. Die Ministerin führte dazu aus:<br />
„Das zeitliche und persönliche Engagement dieser Spieler<br />
zeigt eindeutig, dass nicht die finanzielle Gegenleistung,<br />
sondern die Förderung des Vereins und der Spaß am Sport<br />
im Vordergrund stehen. Für diese Vertragsspieler ist daher<br />
auch dann kein Mindestlohn zu zahlen, wenn sie mit einem<br />
Minijob ausgestattet sind“. 9<br />
5 Wegen der sich aus dem besonderen Refinanzierungsbedarf der<br />
großen Klubs ergebenden, auch arbeitsrechtlichen Problemen für<br />
das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Berufssportler vgl. Bepler in<br />
Nolte (Hrsg.), Neue Bedrohungen für die Persönlichkeitsrechte von<br />
Sportlern, S. 9.<br />
6 Heink/Hemmeter, SpuRt 2015, 192; allgemeiner hierzu schon Klose/<br />
Zimmermann, Tarifvertrag als Regelungsinstrument: Perspektive für<br />
den deutschen Sport, in Bepler (Hrsg.), Sportler, Arbeit und Statuten,<br />
Herbert Fenn zum 65. Geburtstag, 2000, S. 137.<br />
7 Für bürgerliche Streitigkeiten aus einem Arbeitsverhältnis in den<br />
bestimmten im Gesetz aufgeführten Berufsfeldern wird den Tarifvertragsparteien<br />
die Möglichkeit an die Hand gegeben, die Arbeitsgerichtsbarkeit<br />
– grds. – auszuschließen.<br />
8 Verf. dankt für eine in diese Richtung gehende mündliche Anregung<br />
Herrn stud. iur. Alexander Koch, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.<br />
9 Bei dem Gespräch ging es auch um in den Vereinen gegen geringes<br />
Entgelt tätige Übungsleiter und Platzwarte, für die wohl auch gesagt<br />
wurde, sie unterfielen dem MiLoG nicht. Hierzu soll vorliegend nicht<br />
Stellung genommen werden.<br />
153
Die Monatszeitschrift<br />
Es ist durchaus zweifelhaft, ob diese Ausführungen der<br />
Ministerin sachlich zutreffen. 10 Sie sind jedenfalls nicht<br />
rechtlich verbindlich. Sie schaffen aber zumindest zunächst<br />
für die betroffenen Vereine eine gewisse tatsächliche Beruhigung,<br />
was die Kontrolle und Durchsetzung des Gesetzes<br />
nach §§ 14 ff. MiLoG durch nachgeordnete Behörden angeht.<br />
Ein Anspruch der Vertragsspieler auf den gesetzlichen<br />
Mindestlohn wird aber durch die Aussage der Ministerin<br />
nicht ausgeschlossen.<br />
Die Ministerin hat mit ihren Ausführungen an den Begriff<br />
der Ehrenamtlichkeit nach § 22 Abs. 3 MiLoG angeknüpft,<br />
wie er im Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales<br />
niedergelegt wurde. 11 Danach ist von einer ehrenamtlichen<br />
Tätigkeit immer dann auszugehen, wenn sie nicht von der<br />
Erwartung einer adäquaten finanziellen Gegenleistung,<br />
sondern von dem Willen geprägt ist, sich für das Gemeinwohl<br />
einzusetzen. Der Ausschussbericht spricht ausdrücklich<br />
auch Amateur- und Vertragsspieler an, die nicht unter<br />
den Arbeitnehmerbegriff des Gesetzes fielen, wenn ihre ehrenamtliche<br />
sportliche Betätigung und nicht die finanzielle<br />
Gegenleistung für ihre Tätigkeit im Vordergrund stehe. Auch<br />
diese Rechtsausführungen sind nicht rechtlich verbindlich,<br />
auch wenn sie die subjektiven Vorstellungen der Abgeordneten<br />
wiedergeben, die das Gesetz letztlich verabschiedet<br />
haben. Denn das Gesetz selbst bestimmt den Begriff der<br />
ehrenamtlichen Tätigkeit nicht näher. Es gibt auch keinen<br />
Anhaltspunkt dafür, dass der für die Anwendbarkeit des<br />
MiLoG entscheidende Gegenbegriff der Tätigkeit als Arbeitnehmer<br />
durch das Gesetz im vorliegenden Zusammenhang<br />
modifiziert werden sollte.<br />
Dafür, dass Vertragsspieler, die typischerweise eine monatliche<br />
Vergütung zwischen 250 und 450 € erhalten, Arbeitnehmer<br />
im allgemeinen Sinne sind, spricht zumindest der<br />
achtseitige Mustervertrag für Vertragsspieler in unteren<br />
Spielklassen, der von den Mitgliedsverbänden des DFB im<br />
Internet zur Verfügung gestellt wird. Dort heißt es z.B.:<br />
„§ 1<br />
…<br />
3. Der Spieler verpflichtet sich, an allen Spielen und Lehrgängen,<br />
am Training – sei es allgemein vorgesehen oder<br />
sei es besonders angeordnet –, an allen Spielerbesprechungen<br />
und sonstigen, der Spiel- und Wettkampfvorbereitung<br />
dienenden Veranstaltungen teilzunehmen. Dies gilt auch,<br />
wenn ein Mitwirken als Spieler oder Ersatzspieler nicht in<br />
Betracht kommt.<br />
4. Er verpflichtet sich zudem, während seiner Tätigkeit für<br />
den Verein (Spiele, Training, Reisen) auf Wunsch des Vereins<br />
ausschließlich die zur Verfügung gestellten Vertragsprodukte<br />
des Ausrüsters zu tragen. …“<br />
In dem Vertragsformular ist u.a. weiter vorgesehen, dass der<br />
Spieler dem Verein die Verwertung seiner Persönlichkeitsrechte<br />
gestattet, soweit sein Vertragsverhältnis als Spieler<br />
betroffen ist, dass der Trainer die trainingsfreie Zeit mit Rücksicht<br />
auf den Spielplan bestimmt, dass der Vertrag, der auch<br />
die Möglichkeit von zusätzlichen Einsatzprämien vorsieht,<br />
befristet abgeschlossen wird und es unter bestimmten Bedingungen<br />
ein außerordentliches Kündigungsrecht gibt.<br />
Dass für den Vertragsspieler bei der Erfüllung eines solchen<br />
Vertrages in der Regel der Spaß am Sport und die Förderung<br />
des Gemeinwohls oder zumindest der ideellen Ziele des<br />
Vereins im Vordergrund stehen, demgegenüber die finanzielle<br />
Gegenleistung für die Sportausübung keine wesentliche<br />
Rolle spielt, kann nicht angenommen werden. 12 Realistischer<br />
ist die Annahme, dass der Spieler, wenn er nur als<br />
Minijobber tätig ist, seinen Spaß am Sport auslebt und seine<br />
hier gegebenen Fähigkeiten nutzt, um seine Einkommenssituation<br />
in einem Teilzeitarbeitsverhältnis zu verbessern.<br />
Es kann in diesem Zusammenhang nur empfohlen werden,<br />
das angebotene Vertragsformular von arbeitsverhältnistypischen<br />
Pflichten und sonstigen Vertragsklauseln zu befreien,<br />
bevor man es nutzt, will man einigermaßen plausibel<br />
eine ehrenamtliche Tätigkeit – mit dem ganz vorrangigen<br />
Ziel, die für die Ausübung einer Mannschaftssportart unerlässliche<br />
Verlässlichkeit der Teilnahme sicherzustellen –<br />
vertraglich abbilden.<br />
10 A.A. z.B. Walker, SpuRt 2015, 94 ff.<br />
11 BT-Drs. 18/2010 (neu), S. 15.<br />
12 Hierzu im Einzelnen und überzeugend Walker, SpuRt 2015, 94 ff.<br />
Reichweite der Bindung des Berufungsgerichts<br />
nach Zurückverweisung<br />
LArbG Hamm, Urt. v. 22.01.2015 - 17 Sa<br />
1617/14<br />
RA Dr. Wulf Gravenhorst<br />
A. Problemstellung<br />
Wie weit reicht die Bindungswirkung gem. § 563 Abs. 2<br />
ZPO, wenn das Revisionsgericht nach Auffassung des Berufungsgerichts<br />
die entscheidungserhebliche Kündigungserklärung<br />
trotz Fehlens einer verletzten „Rechtsnorm“ i.S.v.<br />
§ 546 ZPO selbst ausgelegt und überdies versäumt hat,<br />
seine von einem anderen Senat abweichende Rechtsauffassung<br />
dem Großen Senat vorzulegen?<br />
154
JM 4 APRIL<br />
2016<br />
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung<br />
Beim Unternehmen U mit mehr als 700 Mitarbeitern fungierte<br />
P als Personalleiter mit Gesamtprokura. Arbeitnehmer<br />
A erhielt eine Kündigung, entsprechend dem bei U<br />
geltenden Vier-Augen-Prinzip unterzeichnet von P mit dem<br />
Zusatz „ppa.“ sowie vom Personalsachbearbeiter PSB mit<br />
dem Zusatz „i.V.“. Eine Vollmachtsurkunde war nicht beigefügt,<br />
weshalb A die Kündigung umgehend zurückwies<br />
und Kündigungsschutzklage erhob. Das ArbG Herne hat die<br />
Klage abgewiesen, das LArbG Hamm ihr dagegen stattgegeben.<br />
1 Das BAG hat das Berufungsurteil (= BU) aufgehoben<br />
und die Sache an das LArbG Hamm zurück verwiesen. 2<br />
Das 1. BU hatte die Kündigung dahin ausgelegt, P habe als<br />
Gesamtprokurist unterzeichnet, weshalb für den Mitunterzeichner<br />
PSB eine Vollmachtsurkunde erforderlich gewesen<br />
wäre; da A das Fehlen unverzüglich gem. § 174 BGB beanstandet<br />
hatte, sei die Kündigung rechtsunwirksam.<br />
Das BAG hat diese Auslegung nicht gelten lassen, sondern<br />
hat – ohne ein Wort dazu zu verlieren, welche „Rechtsnorm“<br />
i.S.v. § 546 ZPO das 1. BU verletzt haben könnte<br />
– seine eigene Auslegung der Kündigungserklärung an die<br />
Stelle derjenigen des Landesarbeitsgerichts gesetzt: Das<br />
Kündigungsschreiben sei so zu verstehen, dass P in seiner<br />
Eigenschaft als Personalleiter über eine Einzelvertretungsbefugnis<br />
verfüge und es daher nur noch darauf ankomme,<br />
ob die Bestellung zum Personalleiter dem A in hinreichender<br />
Weise bekannt gemacht worden sei. Da das Landesarbeitsgericht<br />
von seinem Standpunkt aus diese Frage nicht<br />
untersucht hatte, kam es zur Zurückverweisung. 3<br />
Das LArbG Hamm sah sich im 2. Durchgang an das Revisionsurteil<br />
gem. § 72 Abs. 5 ArbGG, § 563 Abs. 2 ZPO gebunden,<br />
hat eine ordnungsgemäße Bekanntmachung der<br />
Bestellung des P zum Personalleiter geprüft und nach deren<br />
Feststellung die Klage auf dieser Basis nunmehr abgewiesen.<br />
Während das 1. BU die Revision ohne nähere Begründung<br />
wegen Grundsatzbedeutung gem. § 72 Abs. 2 Nr. 1<br />
ArbGG zugelassen hatte, hat das 2. BU gemeint, Zulassungsgründe<br />
lägen nicht vor. A hat darüber offenbar resigniert<br />
und eine Nichtzulassungsbeschwerde nicht eingelegt.<br />
C. Kontext der Entscheidung<br />
Das 2. BU hat sich in der Sachentscheidung gem. § 563<br />
Abs. 2 ZPO an das Revisionsurteil gebunden gesehen. Das<br />
entspricht ständiger Rechtsprechung ebenso wie der überwiegenden<br />
Meinung der Literatur auch für solche Fälle,<br />
in denen ein Verstoß des Revisionsurteils gegen Grundrechtspositionen<br />
in Frage kommt. 4 Eine Besonderheit des<br />
vorliegenden Falles besteht allerdings darin, dass das Revisionsurteil<br />
eine grundrechtsrelevante Frage gar nicht entschieden,<br />
weil nicht einmal erkannt hat, nämlich die Divergenz<br />
zu einer Entscheidung des 8. Senats vom 22.10.2012. 5<br />
Im 1. Orientierungssatz zu diesem Urteil des 8. Senats heißt<br />
es wörtlich wie folgt:<br />
„Bei einem Kündigungsschreiben handelt es sich um eine<br />
nicht typische Willenserklärung, deren Auslegung vorrangig<br />
den Tatsachengerichten obliegt. […] Dem Revisionsgericht<br />
steht die Prüfung nur dahin offen, ob die vom Berufungsgericht<br />
vorgenommene Auslegung der Willenserklärung möglich<br />
ist, nicht aber ob sie tatsächlich richtig ist.“<br />
Die Entscheidung des 2. Senats steht hierzu in offenem Widerspruch;<br />
denn der 2. Senat hat die Frage, wer mit dem<br />
Kündigungsschreiben was und mit welchem Sinngehalt<br />
erklärt hat, insgesamt selbst entschieden, ohne auch nur<br />
ein Wort darauf zu verwenden, welche „Rechtsnorm“ das<br />
1. BU bei seiner Auslegung verletzt haben könnte. Sollte<br />
der 2. Senat sich – unausgesprochen – auf den „Erfahrungssatz“<br />
haben stützen wollen, ein Personalleiter sei per<br />
se einzelvertretungsberechtigt, so fehlt für einen solchen<br />
„Erfahrungssatz“ jeglicher empirischer Befund. So gibt es<br />
viele Unternehmen, in denen der „Personalleiter“ keinerlei<br />
Einstellungs- oder Entlassungsbefugnis hat, sondern lediglich<br />
als Leiter der Personalverwaltung fungiert. Insbesondere<br />
aber gibt es den Erfahrungssatz „Personalleiter haben<br />
Einzelvollmacht“ in solchen Unternehmen nicht, die durchgängig<br />
das Vier-Augen-Prinzip befolgen, in denen also<br />
nicht einmal der Vorsitzende der Geschäftsführung bzw. der<br />
Vorstandsvorsitzende eine Einzelvollmacht zur Einstellung<br />
oder Entlassung hat.<br />
Wie der Verfasser bereits in seiner Anmerkung 6 ausgeführt<br />
hat, ist es durchaus vorstellbar und mag in Einzelfällen<br />
auch tatsächlich vorkommen, dass in einem Unternehmen<br />
mit durchgehendem Vier-Augen-Prinzip der Personalleiter<br />
Einzelvollmacht für Einstellung und Kündigung eingeräumt<br />
erhält. Das bedarf dann aber einer entsprechend eindeutigen<br />
Bekanntmachung gerade zur ausnahmsweisen Einzelvollmacht.<br />
Davon konnte im Besprechungsfall keine Rede<br />
sein.<br />
Die Auslegung der Kündigungserklärung durch den 2. Senat<br />
steht in offenem Widerspruch zum Urteil des 8. Senats.<br />
1 LArbG Hamm, Urt. v. 16.05.2013 - 17 Sa 1708/12.<br />
2 BAG, Urt. v. 25.09.2014 - 2 AZR 567/13; hierzu krit. W. Gravenhorst,<br />
jurisPR-ArbR 49/2014 Anm. 4; vgl. auch den Parallelfall LArbG Stuttgart,<br />
Urt. v. 15.11.2012 - 18 Sa 68/12 und hierzu W. Gravenhorst,<br />
jurisPR-ArbR 44/2013 Anm. 1.<br />
3 Vgl. W. Gravenhorst, jurisPR-ArbR 49/2014 Anm. 4.<br />
4 Zöller, ZPO, 30. Aufl. 2013, § 563, Rn. 3a; Düwell/Lipke, ArbGG, 3. Aufl.<br />
2012, § 75, Rn. 10.<br />
5 BAG, Urt. v. 22.10.2012 - 8 AZR 865/08 Rn. 18-20.<br />
6 W. Gravenhorst, jurisPR-ArbR 49/2014 Anm. 4.<br />
155
Die Monatszeitschrift<br />
Hätte der 2. Senat diese Divergenz erkannt, hätte er eine<br />
Vorlage an den Großen Senat in Erwägung ziehen müssen.<br />
Da dies nicht geschehen ist, hat der 2. Senat objektiv das<br />
Recht auf den gesetzlichen Richter verletzt.<br />
Selbst wenn man auch für diesen Fall eine Bindung des<br />
Berufungsgerichts an das Revisionsurteil annehmen wollte,<br />
leidet das 2. BU gleichwohl an einem entscheidenden Mangel.<br />
Das LArbG Hamm leitet nämlich aus seiner Bindung an<br />
das Revisionsurteil ab, diese Bindung schließe zugleich die<br />
Zulassung der Revision aus (Rn. 174 a.E.). Das ist verfehlt:<br />
Die Divergenz zum übersehenen Urteil des 8. Senats ist<br />
offenkundig. Auch eine Verletzung des Grundsatzes des<br />
gesetzlichen Richters durch Nichtvorlage an den Großen<br />
Senat ist evident. Damit liegen sowohl grundsätzliche Bedeutung<br />
als auch Divergenz offen zutage. Folglich ist eine<br />
Zulassung der Revision nicht nur gerechtfertigt, sondern<br />
zwingend erforderlich.<br />
Dem lässt sich auch nicht entgegenhalten, bei einer erneut<br />
zugelassenen Revision sei das Revisionsgericht seinerseits<br />
an seine eigene vorangegangene Revisionsentscheidung<br />
gebunden. Dies entspricht zwar, auch wenn keine ausdrückliche<br />
gesetzliche Regelung hierzu besteht, der überwiegenden<br />
Meinung 7 , kann aber für den vorliegenden Sonderfall<br />
keine Geltung beanspruchen, und zwar deshalb nicht, weil<br />
das 1. Revisionsurteil die grundrechtserhebliche Frage gar<br />
nicht gesehen und deshalb auch nicht entschieden hat. An<br />
etwas, was das Revisionsgericht nicht gesehen und deshalb<br />
auch nicht „entschieden“ hat, kann es schlechterdings<br />
nicht gebunden sein. Die gegenteilige Auffassung würde<br />
das Revisionsgericht dazu zwingen, sehenden Auges Unrecht<br />
zu sprechen, wogegen der Kläger dann nur mit Gehörsrüge/Verfassungsbeschwerde<br />
vorgehen könnte. Das<br />
wäre grob unsinnig und kann deshalb nicht rechtens sein.<br />
D. Auswirkungen für die Praxis<br />
Auch soweit ein Berufungsgericht sich durch ein zurückverweisendes<br />
Revisionsurteil gem. § 563 Abs. 2 ZPO an die<br />
rechtliche Beurteilung durch das Revisionsgericht gebunden<br />
erachtet, ist es dadurch keineswegs gehindert, sondern<br />
geradezu aufgerufen, die Zulassung einer (erneuten) Revision<br />
sorgfältig zu prüfen.<br />
In seinem Schlussabsatz führt das Besprechungsurteil nach<br />
Ablehnung der Zulassung der Revision aus, der Kläger<br />
„hätte die Möglichkeit gehabt, Verfassungsbeschwerde<br />
einzulegen.“ Das Gericht hat nicht erörtert, wann diese<br />
Möglichkeit bestanden haben soll. Das 1. BU hatte die Revision<br />
ausdrücklich zugelassen. Zur Erschöpfung des Rechtsweges<br />
musste A also Revision einlegen. Nach Erlass des Revisionsurteils<br />
war die Verfassungsbeschwerde noch immer<br />
nicht möglich, da das Revisionsurteil die Sache ja in die Berufungsinstanz<br />
zurückverwiesen hatte und der Rechtsweg<br />
also noch nicht erschöpft war. Nach Erlass des 2. BU kann<br />
der Kläger immer noch nicht Verfassungsbeschwerde einlegen,<br />
da er zunächst Nichtzulassungsbeschwerde erheben<br />
müsste. Die vom Besprechungsurteil gesehene Möglichkeit<br />
einer Verfassungsbeschwerde bestand daher entgegen der<br />
Ansicht des Gerichts in Wahrheit nicht.<br />
7 Schwab/Weth, ArbGG, 4. Aufl. 2014, § 75 ArbGG, Rn. 20; Baumbach/<br />
Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 74. Aufl. 2016, § 563, Rn. 10.<br />
Sozialrecht<br />
Leistungsausschluss im SGB II für EU-Bürger<br />
– Sozialhilfeanspruch bei Aufenthaltsdauer<br />
von über sechs Monaten<br />
BSG, Urt. v. 03.12.2015 - B 4 AS 44/15 R<br />
RiSG Johannes Greiser<br />
A. Problemstellung<br />
Nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sind Ausländer, deren<br />
Aufenthaltszweck sich allein aus der Arbeitsuche ergibt,<br />
vom Bezug von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende<br />
(„Hartz IV“) ausgeschlossen. Mit Beschluss vom<br />
12.12.2013 1 legte das BSG dem EuGH die Frage vor, inwieweit<br />
sich dieser Ausschluss bei EU-Bürgern mit europarechtlichen<br />
Gleichbehandlungsgeboten vereinbaren lasse.<br />
Der EuGH antwortete mit Urteil vom 15.09.2015, dass ein<br />
Ausschluss von arbeitsuchenden EU-Bürgern im vorgelegten<br />
Fall möglich sei (Rechtssache „Alimanovic“). 2 Bereits<br />
im Jahr 2014 hatte der EuGH in einem weiteren Vorlageverfahren<br />
den Ausschluss von Leistungen gebilligt, wenn der<br />
EU-Bürger nicht nach Arbeit suche (Rechtssache „Dano“). 3<br />
Im besprochenen Urteil vom 03.12.2015 (B 4 AS 44/15 R)<br />
E. Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung<br />
1 BSG, Beschl. v. 12.12.2013 - B 4 AS 9/13 R.<br />
2 EuGH, Urt. v. 15.09.2015 - C-67/14 - „Alimanovic“; siehe dazu:<br />
Raschka, ZAR 2015, 331 ff.; Wunder, SGb 2015, 620 ff.; Kingreen,<br />
NVwZ 2015, 1503 ff.; Greiser/Kador/Krause, ZfSH/SGB 2015, 569 ff.<br />
3 EuGH, Urt. v. 11.11.2015 - C-333/13 - „Dano“; siehe dazu: Schreiber,<br />
info also 2015, 3 ff.; Janda, InfAuslR 2015, 108 ff.; Greiser/Kador/<br />
Krause, ZfSH/SGB 2015, 76 ff.<br />
156
JM 4 APRIL<br />
2016<br />
hatte das BSG nunmehr die sich nach nationalem Recht<br />
stellenden Fragen zu beantworten, insbesondere, ob ein<br />
Totalausschluss mit dem Grundrecht auf Gewährleistung<br />
eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1<br />
Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG vereinbar ist. 4 Vorgelagert<br />
war die Frage, ob der Anspruchsausschluss auch dann<br />
Anwendung findet, wenn eine Freizügigkeitsberechtigung<br />
aus der Arbeitsuche nicht mehr besteht und auch aus anderen<br />
Gründen eine solche nicht gegeben ist.<br />
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung<br />
Die Kläger des Verfahrens, eine rumänische Familie mit<br />
zwei Kindern, lebten seit 2008 in Deutschland. Streitiger<br />
Zeitraum war die Zeit von Oktober 2010 bis November<br />
2011. Der Kläger zu 1) hatte in Rumänien eine Schlosserlehre<br />
absolviert, anschließend aber ganz überwiegend in<br />
ungelernten Tätigkeiten gearbeitet. Seine Ehefrau, die Klägerin<br />
zu 2), ging in Rumänien keiner Erwerbstätigkeit nach.<br />
In Deutschland hatte der Kläger zu 1) von Oktober 2008 bis<br />
Oktober 2009 ein Gewerbe für Abbruch- und Entkernungsarbeiten<br />
angemeldet, das er jedoch nicht betrieb. Bis Ende<br />
2010 verkauften die Eheleute gemeinsam eine Obdachlosenzeitung,<br />
woraus sie einen Erlös von rund je 120 € im<br />
Monat erhielten.<br />
Einen im Oktober 2010 gestellten Antrag auf Leistungen<br />
nach dem SGB II lehnte das beklagte Jobcenter ab. Die hiergegen<br />
erhobene Klage blieb ohne Erfolg. 5 Das LSG Nordrhein-Westfalen<br />
änderte das Urteil ab und verurteilte das<br />
Jobcenter, den Klägern Leistungen zu gewähren. 6 Ein Aufenthaltsrecht<br />
zur Arbeitsuche liege bei den Klägern nicht<br />
vor. Da die Bemühungen der Kläger, eine Arbeitsstelle zu<br />
erhalten, im streitigen Zeitraum nicht erfolgversprechend<br />
gewesen seien, seien diese nicht mehr zur Arbeitsuche freizügigkeitsberechtigt.<br />
Auch ein anderes Aufenthaltsrecht<br />
liege nicht vor. Die Kläger gehörten damit nicht zum ausgeschlossenen<br />
Personenkreis. Das Landessozialgericht lud<br />
den zuständigen Sozialhilfeträger bei.<br />
Die dagegen erhobene Revision des Beklagten hatte insoweit<br />
Erfolg, als den Klägern nicht Leistungen der Grundsicherung<br />
für Arbeitsuchende nach dem SGB II, sondern<br />
der Sozialhilfe nach dem SGB XII zu erbringen seien, wofür<br />
der Beigeladene zuständig sei. Die Kläger unterfielen<br />
dem Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II.<br />
Sie verfügten zwar nicht über ein Aufenthaltsrecht allein<br />
zur Arbeitsuche i.S.d. Vorschrift, da die Feststellungen des<br />
Landessozialgerichts zur Aussichtslosigkeit der Arbeitsuche<br />
nicht zu beanstanden seien. Die Vorschrift des § 7<br />
Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sei aber – über ihren Wortlaut<br />
hinaus – auf Fälle wie den besprochenen, in denen weder<br />
eine materielle Freizügigkeitsberechtigung noch ein Aufenthaltsrecht<br />
in Deutschland bestehe, anwendbar. Der<br />
Gesetzgeber habe es planwidrig unterlassen, den Leistungsausschluss<br />
auch auf diese Fälle zu erstrecken. Die<br />
genannte Personengruppe sei nach der Entstehungsgeschichte<br />
der Ausschlussregelung, ihrem systematischen<br />
Zusammenhang und der teleologischen Bedeutung der<br />
benannten Vorschrift „erst recht“ von diesen Leistungen<br />
ausgeschlossen. Den Klägern habe keine materielle Freizügigkeitsberechtigung<br />
nach dem FreizügG/EU oder ein<br />
anderes Aufenthaltsrecht zur Seite gestanden. Sie seien<br />
insbesondere nicht als Arbeitnehmer oder Selbstständige<br />
freizügigkeitsberechtigt. Weder das Verteilen der<br />
Obdachlosenzeitschrift noch das angemeldete Gewerbe<br />
würden diesen Status herbeiführen. Das Landessozialgericht<br />
habe festgestellt, dass es sich bei dem Verteilen<br />
der Zeitschrift um eine „dem Betteln gleichgestellte Tätigkeit“<br />
gehandelt habe. Das Abbruchgewerbe sei nie<br />
ausgeübt worden. Der Leistungsausschluss sei nach den<br />
bereits zitierten Entscheidungen des EuGH in den Sachen<br />
„Dano“ und „Alimanovic“ auch europarechtskonform.<br />
Die Kläger hätten aber einen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt<br />
nach dem SGB XII (Sozialhilfe) gegen den<br />
Beigeladenen. Diese Leistungen seien nicht „gesperrt“,<br />
obwohl die Kläger zu 1) und zu 2) grds. erwerbsfähig<br />
seien. Da sie nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von den<br />
Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen seien, seien<br />
sie dem System des SGB XII, also der Sozialhilfe, zugewiesen.<br />
Zwar finde sich hier in § 23 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2<br />
SGB XII ein mit § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II vergleichbarer<br />
Ausschluss von Arbeitsuchenden, der auf die Kläger<br />
ebenfalls erst recht anzuwenden sei. Dies schließe aber<br />
lediglich einen Anspruch auf Leistungen nach § 23 Abs. 1<br />
Satz 1 SGB XII, nicht aber die Gewährung im Ermessenswege<br />
nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII aus. Nach dieser<br />
Vorschrift kann Sozialhilfe geleistet werden, soweit dies<br />
im Einzelfall gerechtfertigt ist. Die Regelung räume dem<br />
Sozialhilfeträger dem Grunde und der Höhe nach Ermessen<br />
ein. Im Falle eines „verfestigten Aufenthalts“ – über<br />
sechs Monate – sei dieses Ermessen jedoch aus Gründen<br />
der Systematik des Sozialhilferechts und der verfassungsrechtlichen<br />
Vorgaben des BVerfG in dem Sinne auf Null<br />
reduziert, dass regelmäßig zumindest Hilfe zum Lebensunterhalt<br />
in gesetzlicher Höhe zu erbringen sei. So sei es<br />
auch im vorliegenden Fall.<br />
4 Siehe dazu: BVerfG, Urt. v. 09.02.2010 - 1 BvL 1/09; BVerfG, Urt. v.<br />
18.07.2012 - 1 BvL 10/10; siehe zudem etwa: Frerichs, ZESAR 2014,<br />
279 ff.<br />
5 SG Gelsenkirchen, Urt. v. 20.11.2012 - S 31 AS 47/11.<br />
6 LSG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 10.10.2013 - L 19 AS 129/13.<br />
157
Die Monatszeitschrift<br />
C. Kontext der Entscheidung<br />
Die Entscheidung steht einerseits im Kontext europarechtlicher,<br />
andererseits verfassungsrechtlicher Vorgaben bezüglich<br />
der Gewährung existenzsichernder Leistungen.<br />
Europarechtlich kann insoweit auf die Entscheidung<br />
„Dano“ 7 zurückgegriffen werden. Hier führte der EuGH<br />
aus, dass Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten eine<br />
Gleichbehandlung mit den Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats<br />
hinsichtlich des Zugangs zu Grundsicherungsleistungen<br />
nur verlangen können, wenn ihr Aufenthalt<br />
die Voraussetzungen der sog. Unionsbürgerrichtlinie (EGRL<br />
38/04) erfülle. 8 Da Frau Dano ein Aufenthaltsrecht aus der<br />
Arbeitsuche nicht herleiten könne, mache die Richtlinie das<br />
Aufenthaltsrecht im Fall der Klägerin u.a. davon abhängig,<br />
dass sie über ausreichende eigene Existenzmittel verfüge.<br />
Wenn dem nicht so sei, müsse ein Mitgliedstaat die Möglichkeit<br />
haben, Grundsicherungsleistungen zu versagen. 9<br />
Verfassungsrechtlich steht die Entscheidung im Kontext des<br />
Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen<br />
Existenzminimums. Das BVerfG hat sich bislang zweimal<br />
ausführlich zu diesem Grundrecht geäußert, und zwar im<br />
Februar 2010 zum SGB II 10 und im Juli 2012 zum Asylbewerberleistungsgesetz<br />
(AsylbLG). 11 Danach stellt dieses<br />
Grundrecht ein Menschenrecht dar, welches gleichermaßen<br />
Deutschen und ausländischen Staatsangehörigen zusteht.<br />
Es handelt sich um einen unmittelbaren verfassungsrechtlichen<br />
Leistungsanspruch. Dieser gewährleiste das gesamte<br />
Existenzminimum, also sowohl die physische Existenz<br />
des Menschen als auch ein Mindestmaß an Teilhabe am<br />
gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben (sog.<br />
soziokulturelles Existenzminimum). 12 Dieser Anspruch<br />
kann nach der Rechtsprechung des BVerfG weder aufgrund<br />
von migrationspolitischen Erwägungen – zur Minimierung<br />
von Einreiseanreizen – verringert werden noch kann pauschal<br />
nach dem Aufenthaltstitel differenziert werden. Eine<br />
Absenkung ist nur möglich, sofern der Bedarf an existenznotwendigen<br />
Leistungen von dem anderer Bedürftiger signifikant<br />
abweicht und dies folgerichtig in einem inhaltlich<br />
transparenten Verfahren anhand des tatsächlichen Bedarfs<br />
gerade dieser Gruppe belegt werden kann. Anknüpfungspunkt<br />
für ein solches signifikantes Abweichen kann eine<br />
geringe Bleibeperspektive sein. Eine solche Beschränkung<br />
ist aber jedenfalls dann nicht mehr gerechtfertigt, wenn der<br />
tatsächliche Aufenthalt die Spanne eines Kurzaufenthalts<br />
deutlich überschritten hat. 13<br />
Einige Landessozialgerichte haben diese Vorgaben nicht<br />
auf EU-Bürger übertragen. 14 Anders als ein vollziehbar<br />
ausreisepflichtiger ehemaliger Asylbewerber, dessen Rückkehr<br />
in das Herkunftsland sowohl erhebliche tatsächliche<br />
als auch rechtliche Probleme entgegenstehen könnten, sei<br />
ein Unionsbürger nicht gehindert, sich innerhalb des sog.<br />
Schengen-Raumes frei zu bewegen. Deshalb stehe einer sofortigen<br />
Rückkehr in sein Heimatland – und einem dortigen<br />
Leistungsbezug 15 – nichts entgegen. 16 Dem ist das BSG –<br />
zumindest für einen verfestigten Aufenthalt – nicht gefolgt.<br />
D. Auswirkungen für die Praxis<br />
Für die Praxis ergibt sich aus der Entscheidung eine Verschiebung<br />
in der Zuständigkeit. Spielten die Fälle in der<br />
Vergangenheit überwiegend im SGB II und richtete sich das<br />
Begehren gegen die Jobcenter, so sind nun die kommunalen<br />
Träger als Sozialhilfeträger gefragt. Dies führt zu einer<br />
Kostenverlagerung.<br />
Dabei wird ein Ermessensspielraum grds. nur in den ersten<br />
sechs Monaten des Aufenthalts vorliegen. Unter Berücksichtigung<br />
der obigen verfassungsrechtlichen Vorgaben<br />
bedarf eine Absenkung der Leistungen einer guten Begründung,<br />
ist aber durchaus möglich. Nach der hier vertretenen<br />
Ansicht wird sich dies am ehesten rechtfertigen lassen,<br />
wenn ein Aufenthaltsrecht nicht besteht. 17 Das ist in den<br />
ersten sechs Monaten vor allem dann der Fall, wenn der<br />
EU-Bürger nicht nach Arbeit sucht. Sechs Monate hat ein<br />
EU-Bürger nämlich Zeit, Arbeit zu suchen, ohne nachweisen<br />
zu müssen, dass die Arbeitsuche Aussicht auf Erfolg hat. 18<br />
Zu denken ist bei einer Kürzung etwa an die im Regelsatz<br />
enthaltenen Ansparbeträge (Innenausstattung, Haushalts-<br />
7 EuGH, Urt. v. 11.11.2014 - C-333/13 - „Dano“.<br />
8 Siehe zur Grundlage und Entwicklung dieser Rechtsprechung:<br />
EuGH, Urt. v. 12.05.1998 - C-85/96 - „Martinez Sala“; EuGH, Urt.<br />
v. 20.09.2001 - C-184/99 - „Grzelczyk“; EuGH, Urt. v. 07.09.2004 -<br />
C-456/02 - „Trojani“.<br />
9 EuGH, Urt. v. 11.11.2014 - C-333/13 - „Dano“.<br />
10 BVerfG, Urt. v. 09.02.2010 - 1 BvL 1/09.<br />
11 BVerfG, Urt. v. 18.07.2012 - 1 BvL 10/10.<br />
12 Zum Vorstehenden: BVerfG, Urt. v. 09.02.2010 - 1 BvL 1/09 - juris<br />
Rn. 62 und Rn. 64.<br />
13 Zum Vorstehenden: BVerfG, Urt. v. 18.07.2012 - 1 BvL 10/10 - juris<br />
Rn. 95, Rn. 73 und Rn. 76.<br />
14 Etwa: LSG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 28.09.2015 - L 20 AS<br />
2161/15 B ER - juris Rn. 22 f.; LSG München, Beschl. v. 01.10.2015 -<br />
L 7 AS 627/15 B ER - juris Rn. 33; LSG Rheinland-Pfalz, Beschl. v.<br />
02.11.2015 - L 6 AS 503/15 B ER.<br />
15 Dazu etwa: LSG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 04.02.2015 - L 2 AS 14/15<br />
B ER - Rn. 40; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 20.08.2015 - L 12<br />
AS 1180/15 B ER - Rn. 27.<br />
16 Zum Zitat im Übrigen: LSG Baden-Württemberg, Beschl. v. 29.06.2015 -<br />
L 1 AS 2338/15 ER-B - juris Rn. 39.<br />
17 Siehe zu dieser Differenzierung näher: Greiser in: jurisPK-SGB XII,<br />
2. Aufl. 2014, Anhang zu § 23 SGB XII Rn. 123.1 ff.<br />
18 Vgl. dazu: EuGH, Urt. v. 26.02.1991 - C-292/89 - „Antonissen“; so<br />
auch die Umsetzung in § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU.<br />
158
JM 4 APRIL<br />
2016<br />
geräte und -gegenstände). Aber auch die für Verkehr und<br />
Nachrichtenübermittlung vorgesehenen Beträge könnten<br />
ggf. gekürzt werden. Die Positionen Freizeit, Unterhaltung,<br />
Kultur, Bildung, Beherbergungs- und Gaststättendienstleistungen<br />
können ggf. sogar weitestgehend entfallen.<br />
Ob das BSG in den ersten sechs Monaten eine Ermessensausübung<br />
für möglich hält, die zu einer Leistungsablehnung<br />
(oder lediglich der Gewährung der Rückreisekosten)<br />
kommt, hat es nicht abschließend beantwortet. Werden die<br />
Aussagen des BVerfG im AsylbLG-Urteil auf die Situation<br />
von EU-Bürgern eins zu eins übertragen, so dürfte sich eine<br />
solche Ermessenausübung wohl nur schwer begründen lassen.<br />
Das Gericht führt hier zu kurzen Aufenthalten im Bundesgebiet<br />
aus, dass sich nicht einmal eine Beschränkung<br />
auf das physische Existenzminimum rechtfertigen lasse.<br />
Die einheitlich zu verstehende menschenwürdige Existenz<br />
müsse „ab Beginn des Aufenthalts in der Bundesrepublik<br />
Deutschland realisiert werden“. 19 Dabei stellt das BVerfG<br />
nicht darauf ab, dass es Asylbewerbern häufig nicht möglich<br />
ist, in ihr Heimatland zurückzukehren. Dennoch ist aber<br />
offen, ob das BSG auch diese Aussagen des BVerfG auf<br />
EU-Bürger übertragen wird und ob das BVerfG selbst seine<br />
Rechtsprechung in dieser Strenge weiterführen wird.<br />
Da ein verfestigter Aufenthalt kein rechtmäßiger Aufenthalt<br />
sein muss, liegt eine Ermessensreduktion auch dann<br />
vor, wenn der EU-Bürger kein Aufenthaltsrecht mehr hat.<br />
In einem solchen Fall ist nach einer Verlustfeststellung (des<br />
Freizügigkeitsrechts) die Ausweisung des EU-Bürgers möglich.<br />
Davon haben die Ausländerbehörden bislang nur sehr<br />
selten Gebrauch gemacht. Ob sich dies nach dem besprochenen<br />
Urteil nun ändern wird, wird die Zukunft zeigen<br />
müssen.<br />
Aufenthalt nicht die Rückkehrmöglichkeit ins Heimatland<br />
entgegengestellt hat. Das Gericht erstreckt damit für diesen<br />
Fall die Rechtsprechung des BVerfG zum Grundrecht<br />
auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums<br />
auf EU-Bürger. Auf der anderen Seite schafft das<br />
BSG in den ersten sechs Monaten einen gewissen Spielraum,<br />
zumindest was die Höhe der Leistungen angeht. Hier<br />
wäre eine Differenzierung danach, ob ein Aufenthaltsrecht<br />
besteht, wünschenswert gewesen.<br />
Auch der Weg, dieses Ergebnis über einen Anspruch auf<br />
Sozialhilfe zu „konstruieren“, stellt sich – im Rahmen des<br />
geltenden Rechts – als sachgerecht dar. Gegen diese Lösung<br />
ist vorgebracht worden, in den Gesetzgebungsmaterialien<br />
habe der Gesetzgeber zu erkennen gegeben, dass<br />
erwerbsfähige Ausländer von Leistungen nach dem SGB<br />
XII ausgeschlossen sein sollen (§ 21 SGB XII). 20 Allerdings<br />
wäre der subjektive Wille des Gesetzgebers nur nach der<br />
sog. subjektiv-historischen Auslegung (allein) entscheidend.<br />
21 In der Rechtsprechung des BSG ist aber wohl die<br />
objektiv-historische Auslegung vorherrschend, 22 die nach<br />
dem im Gesetz objektivierten Willen des Gesetzgebers<br />
fragt. 23 Zudem handelt es sich vorliegend um eine verfassungskonforme<br />
Auslegung. Diese hat grds. Vorrang vor<br />
der subjektiv-historischen. Ist eine verfassungskonforme<br />
Auslegung möglich, so ist nach der Rechtsprechung des<br />
BVerfG nicht relevant, dass eine nicht mit der Verfassung<br />
vereinbare Auslegung eher dem subjektiven Willen des<br />
Gesetzgebers entsprochen hätte. 24 Eine Auslegung, die<br />
dazu führt, dass EU-Bürger, die unter den Ausschluss des<br />
§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II fallen, in keinem Fall Leistungen<br />
erhalten, ist mit dem Grundrecht auf Gewährleistung<br />
eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht<br />
vereinbar.<br />
E. Bewertung<br />
Die Entscheidung ist ganz überwiegend zu begrüßen. Sie<br />
stellt einen dogmatisch gut begründeten und praktisch<br />
handhabbaren Ausgleich zwischen den verfassungsrechtlichen<br />
Vorgaben auf der einen und dem einfachen Recht auf<br />
der anderen Seite dar.<br />
Insbesondere ist es positiv zu bewerten, dass das BSG dem<br />
„Ob“ einer Leistungsgewährung bei einem verfestigten<br />
19 BVerfG, Urt. v. 18.07.2012 - 1 BvL 10/10 - juris Rn. 94.<br />
20 SG Berlin, Urt. v. 11.12.2015 - S 149 AS 7191/13 unter Verweis auf:<br />
BT-Drs. 15/1514, S. 57 und BT-Drs. 16/688, S. 13.<br />
21 Vgl. dazu näher: Greiser, ZfSH/SGB 2014, 598, 602.<br />
22 Vgl. dazu: BSG, Urt. v. 30.09.2009 - B 9 V 1/08 R - juris Rn. 49 m.w.N.<br />
23 Vgl. dazu näher: Walz, ZJS 2010, 482, 485.<br />
24 Vgl. dazu etwa: BVerfG, Urt. v. 09.02.1982 - 1 BvR 845/79 - juris<br />
Rn. 87; vgl. auch: Walz, ZJS 2010, 482, 487.<br />
159
Die Monatszeitschrift<br />
Verwaltungsrecht<br />
Das „Gaffer-Phänomen“ im Straßenverkehr<br />
Dipl.-Verww. Ernst Hunsicker und Ref. iur. Sebastian Belz, LL.M.<br />
A. Einleitung<br />
Als „Gaffer“ werden gemeinhin extrem schaulustige und<br />
neugierige Verkehrsteilnehmer bezeichnet, die zur Befriedigung<br />
ihrer Sensationsgier gewillt sind, den Einsatz der<br />
Polizei und von Hilfs- und Rettungsdiensten bei der Bewältigung<br />
von Verkehrsunfällen oder bei der Beseitigung von<br />
Verkehrshindernissen zu behindern und sogar weitere Unfälle<br />
zu provozieren. Im Zeitalter der Smartphones erfährt<br />
dieses Phänomen einen weiteren Aufschwung und wird<br />
mehr und mehr zu einem Problem. Neben der Beeinträchtigung<br />
der Einsatzdienste greifen die „Gaffer“ mitunter<br />
massiv in geschützte Rechtsgüter etwaiger Unfallopfer ein.<br />
Die Möglichkeiten der modernen Technik scheinen den Drang<br />
der „Spektomanen“, das Geschehen in Foto und Film festhalten<br />
und verbreiten zu wollen, noch zu fördern. Erst im März<br />
letzten Jahres hat die Dortmunder Polizei auf der A1 zwölf<br />
Autofahrer angezeigt, die die Bergung zweier Lkw gefilmt<br />
hatten. Selbst nachdem sie von den Polizisten ermahnt worden<br />
waren, haben sie ihre „Dreharbeiten“ auf der Gegenfahrbahn<br />
damals nicht unterbrochen. Ein solches Vorgehen<br />
gegen „Gaffer“ ist jedoch die Ausnahme. In der Praxis haben<br />
die Einsatzkräfte der Polizei im Regelfall dringlichere Aufgaben<br />
zu bewältigen, als die Personalien der Schaulustigen aufzunehmen<br />
und diese ggf. strafrechtlich zu verfolgen. Oftmals<br />
fehlen schlichtweg die personellen Ressourcen am Unfallort,<br />
um sich um derartige Belange kümmern zu können.<br />
Die zunehmende Verbreitung des „Gaffer-Phänomens“,<br />
befeuert durch die stetig fortschreitende Technik, wirft die<br />
drängende Frage auf, wie dieser Entwicklung rechtlich entgegenzutreten<br />
ist. Im Folgenden soll deshalb der rechtliche<br />
Rahmen untersucht werden, welcher das Problem derzeit in<br />
den verschiedenen einschlägigen Rechtsgebieten zu erfassen<br />
vermag. Darüber hinaus werden aktuelle – sowohl faktische<br />
als auch rechtliche – Versuche und Reformvorschläge<br />
zur Eindämmung des Problems unter kritischer Würdigung<br />
dargestellt.<br />
Das Phänomen des „Gaffens“ wird auf verschiedenen<br />
rechtlichen Ebenen relevant und tangiert verschiedene<br />
Rechtsgüter. Zum einen wirft es die Frage der Pönalisierung<br />
und dementsprechend der straf- und ordnungswidrigkeitsrechtlichen<br />
Verfolgbarkeit auf. Nicht zu vernachlässigen<br />
sind dabei Gesichtspunkte des Opferschutzes, insbesondere<br />
hinsichtlich etwaig betroffener Persönlichkeitsrechte. Daneben<br />
treten gefahrenabwehrrechtliche Erwägungen und<br />
das Erfordernis, Verkehrsunfälle effektiv (feuer-)polizeilich<br />
und rettungsdienstlich begleiten zu können.<br />
I. Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht<br />
1. § 323c StGB: Unterlassene Hilfeleistung<br />
Ein möglicher Anknüpfungspunkt für die strafrechtliche<br />
Verfolgung des „Gaffer“-Problems ist die unterlassene Hilfeleistung<br />
i.S.d. § 323c StGB. Danach macht sich strafbar,<br />
wer bei Unglücksfällen nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich<br />
und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere<br />
ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung<br />
anderer wichtiger Pflichten möglich ist.<br />
Dogmatisch ist die unterlassene Hilfeleistung als echtes<br />
Unterlassungsdelikt ausgestaltet, d.h., der objektive Tatbestand<br />
wird bereits durch die Nichtvornahme der normierten<br />
und gebotenen Handlung verwirklicht. 1 Strafgrund des<br />
§ 323c StGB ist die in Notfällen gebotene mitmenschliche<br />
Solidarität zur Schadensabwehr innerhalb der Gesellschaft.<br />
2 Ausgelöst wird die sog. „Jedermannspflicht zur<br />
Hilfe“ durch einen Unglücksfall, eine gemeine Gefahr oder<br />
eine die Allgemeinheit betreffende Notlage. Die vorliegende<br />
Untersuchung beschränkt sich auf die Modalität des<br />
Unglücksfalles, wenngleich die anderen Fälle ebenfalls im<br />
Rahmen der diskutierten Problematik relevant werden können,<br />
bspw. bei Naturkatastrophen. Unter einem Unglücksfall<br />
ist jedes plötzlich eintretende Ereignis zu verstehen, das<br />
erhebliche Schaden anrichtet oder zu verursachen droht. 3<br />
Hierunter fallen auch Verkehrsunfälle. 4<br />
Hilfe muss allerdings nur geleistet werden, soweit dies<br />
erforderlich und zumutbar ist. Erforderlichkeit ist dann zu<br />
bejahen, wenn ohne die Hilfeleistung die Gefahr eines weiteren<br />
Schadens und die Möglichkeit besteht, den drohen-<br />
B. Rechtlicher Rahmen<br />
1 Vgl. BGH, Urt. v. 06.05.1960 - 2 StR 65/60 - BGHSt 14, 280, 281.<br />
2 Lackner/Kühl, StGB, 28. Aufl. 2014, § 323c Rn. 1.<br />
3 BGH, Urt. v. 12.02.1952 - 1 StR 59/50 - BGHSt 2, 150, 151; BGH,<br />
Urt. v. 10.06.1952 - 2 StR 180/52 - BGHSt 3, 65, 66; BGH, Beschl. v.<br />
10.03.1954 - GSSt 4/53 - BGHSt 6, 147, 152.<br />
4 BGH, Urt. v. 14.11.1957 - 4 StR 532/57 - BGHSt 11, 135, 136 f.<br />
160
JM 4 APRIL<br />
2016<br />
den Schaden abzuwenden. 5 Tatbestandlich ist bereits daran<br />
anzuknüpfen, dass der Schaulustige durch ein „Beiseitetreten“<br />
einen ersten Rettungskorridor zu schaffen hat. Unterlässt<br />
er die gebotene Handlung, wird durch das „Nichtbeiseitetreten“<br />
der objektive Tatbestand des § 323c StGB<br />
verwirklicht. 6 Es ist nicht auf ein Stehenbleiben entgegen<br />
polizeilicher Aufforderung abzustellen, denn § 323c StGB<br />
ist nicht als Ungehorsamsdelikt ausgestaltet, vielmehr wurde<br />
die Strafbarkeit eines Verstoßes gegen eine polizeiliche<br />
Aufforderung zur Beistandsleistung explizit durch das 3.<br />
StrÄndG 1953 aus dem StGB gestrichen. 7<br />
Sofern bereits Rettungskräfte anwesend sind, kommt eine<br />
Strafbarkeit unter dem Gesichtspunkt des „Nichtbeiseitetretens“<br />
nur für den Fall in Betracht, dass weitere Einsatzkräfte<br />
vonnöten sind. Ein etwaig untätig bleibender Schaulustiger<br />
kann sich jedenfalls nicht darauf berufen, dass weitere<br />
umstehende Personen ebenfalls hilfepflichtig sind. 8 Freilich<br />
kann darüber hinaus auch die Pflicht bestehen, aktiv zur Rettung<br />
beizutragen, und bei der Nichtvornahme der gebotenen<br />
Handlung so ein weiterer Anknüpfungspunkt zur strafrechtlichen<br />
Tatbestandsverwirklichung begründet werden.<br />
Darüber hinaus ist die Hilfe in den meisten Fällen auch zumutbar.<br />
Bewertungsmaßstäbe sind u.a. die Gefahren für<br />
den Helfenden innerhalb der Notfallsituation, aber auch<br />
seine physischen und geistigen Kräfte. 9 Jedenfalls wenn<br />
an ein „Beiseitetreten“ angeknüpft wird, stellt sich dieses<br />
wohl in den seltensten Fällen als unzumutbar dar, sodass<br />
ein objektiv tatbestandsmäßiges Handeln vorliegt.<br />
Problematischer erscheint der subjektive Tatbestand. Wird<br />
im Rahmen des subjektiven Tatbestandes auf den Vorsatz<br />
bezüglich der Nichtvornahme der gebotenen Handlung –<br />
d.h. auf das „Nichtbeiseitetreten“ – abgestellt, dürfte die<br />
Beweisbarkeit noch leicht fallen. 10 Dass jemand vorsätzlich<br />
aktiv nicht geholfen hat, wird indes oftmals schwierig zu<br />
beweisen sein.<br />
2. § 114 Abs. 3 StGB: Widerstand gegen Personen,<br />
die Vollstreckungsbeamten gleichstehen<br />
Der Tatbestand des § 114 Abs. 3 StGB greift extremere Formen<br />
des Behinderns professioneller Helfer auf. Danach wird<br />
bestraft, wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder<br />
Not hilfeleistende Einsatzdienste durch Gewalt oder durch<br />
Drohung mit Gewalt behindert oder sie dabei tätlich angreift.<br />
Behindern bedeutet in diesem Kontext, dass durch ein Verhalten<br />
des Täters eine in Gang gesetzte Hilfeleistung abgebrochen<br />
oder in ihrer Wirkung abgeschwächt wird. 11 Die Tatmittel<br />
der Gewalt oder des Drohens mit Gewalt entstammen<br />
ebenso wie der tätliche Angriff der Norm des Widerstandes<br />
gegen Vollstreckungsbeamte aus § 113 StGB. Der erst durch<br />
das 44. StrÄndG vom 01.11.2011 eingeführte – und unter<br />
dogmatischen Gesichtspunkten stark kritisierte – 12 § 114<br />
Abs. 3 StGB ist, soweit ersichtlich, in der Rechtsprechung bislang<br />
nicht in Erscheinung getreten. Er dürfte jedenfalls nicht<br />
den hier diskutierten Fall des typischen, bloß passiven Schaulustigen<br />
erfassen, sondern setzt aufgrund der angeführten<br />
Tatmittel weitergehende Handlungen voraus.<br />
3. Straßenverkehrsdelikte<br />
a. § 315b StGB: Gefährlicher Eingriff in den<br />
Straßenverkehr<br />
Gem. § 315b Abs. 1 Nr. 2 StGB wird bestraft, wer die Sicherheit<br />
des Straßenverkehrs dadurch beeinträchtigt, dass<br />
er Hindernisse bereitet und dadurch Leib oder Leben eines<br />
anderen Menschen oder fremde Sachen von bedeutendem<br />
Wert gefährdet.<br />
Hinsichtlich der Strafbarkeit von Schaulustigen gilt es zu<br />
differenzieren: Das bloße Behindern als solches dürfte für<br />
sich genommen noch kein „Hindernisbereiten“ i.S.d. § 315b<br />
Abs. 1 Nr. 2 StGB darstellen. Die mitunter willkürlichen und<br />
dadurch höchst gefährlichen Abbremsmanöver von „Gaffern“<br />
können jedoch ausreichen, um § 315b StGB als konkretes<br />
Gefährdungsdelikt tatbestandsmäßig zu erfüllen.<br />
Erfasst werden können diese jedoch grds. nur in Gestalt<br />
des sog. verkehrswidrigen Inneneingriffes. Ein solcher liegt<br />
vor, wenn ein Verkehrsteilnehmer sein Fahrzeug bewusst<br />
zweckentfremdet und so den Verkehrsvorgang zu einem<br />
Verkehrseingriff pervertiert.<br />
Neben dem konstitutiven bewusst zweckwidrigen Einsatz<br />
seines Fahrzeugs in verkehrsfeindlicher Einstellung muss<br />
ferner ein mindestens bedingter Schädigungsvorsatz des<br />
Fahrers hinzutreten. 13 Auch muss die Handlung des Täters<br />
unmittelbar auf einen Verkehrsvorgang einwirken und die<br />
Sicherheit des Straßenverkehrs beeinträchtigen. Eine solche<br />
Beeinträchtigung liegt vor, wenn der Eingriff eine Steigerung<br />
der normalen Betriebsgefahr hervorgerufen hat und der Verkehr<br />
folglich in seinem ungestörten Ablauf gefährdet wur-<br />
5 BGH, Beschl. v. 02.03.1962 - 4 StR 355/61 - BGHSt 17, 166.<br />
6 Scheffler, NJW 1995, 232, 234.<br />
7 Scheffler, NJW 1995, 232, 234 m.w.N.<br />
8 BGH, Urt. v. 22.04.1952 - 1 StR 516/51 - BGHSt 2, 296, 298; BayObLG,<br />
Urt. v. 03.11.1956 - RReg. 3 St 227/56; OLG Hamm, Urt. v. 10.10.1967 -<br />
3 Ss 1150/67.<br />
9 Vgl. zu relevanten Bewertungsmaßstäben Lackner/Kühl, StGB, 28.<br />
Aufl. 2014, § 323c Rn. 7.<br />
10 Scheffler, NJW 1995, 232, 234.<br />
11 Lackner/Kühl, StGB, 28. Aufl. 2014, § 114 Rn. 4.<br />
12 Bosch in: MünchKomm StGB, 2. Aufl. 2012, § 114 Rn. 11; Fahl, ZStw<br />
2012, 311, 320; Singelnstein/Puschke, NJW 2011, 3473, 3474 f.<br />
13 BGH, Urt. v. 20.02.2003 - 4 StR 228/02 - BGHSt 48, 233, 237; BGH,<br />
Beschl. v. 22.11.2011 - 4 StR 522/11.<br />
161
Die Monatszeitschrift<br />
de. Dabei muss sich eine abstrakte Gefahrenlage zu einer<br />
konkreten Gefährdung von Leib oder Leben eines anderen<br />
Menschen oder einer fremden Sache von bedeutendem Wert<br />
verdichtet haben. Es muss im Weiteren zu einem sog. Beinahe-Unfall<br />
gekommen sein, d.h., dass das Gefährdungsobjekt<br />
so in den Wirkbereich der schadensträchtigen Tathandlung<br />
gelangt sein muss, dass der Eintritt eines Schadens nicht<br />
mehr gezielt abgewendet werden kann und sein Ausbleiben<br />
folglich nur noch von bloßen Zufälligkeiten abhängt. 14<br />
Jedenfalls ein willkürliches Abbremsen aus hoher Geschwindigkeit,<br />
um den nachfolgenden Kraftfahrzeugführer<br />
zu einer scharfen Bremsung oder Vollbremsung zu zwingen,<br />
stellt eine missbräuchliche Nutzung des Fahrzeuges<br />
dar und kann demnach einen gefährlichen Eingriff in den<br />
Straßenverkehr i.S.d. § 315b Abs. 1 Nr. 2 StGB begründen. 15<br />
Für den Regelfall der „neugierbedingten“ verlangsamten<br />
Fahrt an Unfallstellen fehlt es jedenfalls an den subjektiven<br />
Voraussetzungen, sodass § 315b StGB nur in den seltensten<br />
Fällen im Zusammenhang mit „Gaffern“ tatbestandlich<br />
erfüllt sein dürfte.<br />
b. Verkehrsverstöße i.S.d. Straßenverkehrsordnung<br />
(StVO)<br />
Für „Gaffer“ kommen darüber hinaus straßenverkehrsrechtliche<br />
Ordnungswidrigkeiten in Betracht.<br />
Für ein Einsatzfahrzeug, das blaues Blinklicht zusammen<br />
mit dem Einsatzhorn verwendet, ist sofort freie Bahn zu<br />
schaffen. Geschieht dies nicht, löst dies eine Ordnungswidrigkeit<br />
gem. §§ 38 Abs. 1 Satz 2, 49 Abs. 3 Nr. 3 StVO<br />
aus und wird mit einem Regelsatz von 20 € bei 0 Punkten<br />
(BKat-Nr. 135) geahndet. Pönalisiert wird damit der Ungehorsam<br />
der Verkehrsteilnehmer, da die Pflicht unabhängig<br />
davon gilt, ob die Ausübung der Sonderrechte ihrerseits<br />
rechtmäßig war. 16<br />
Ferner ist es bußgeldbewehrt, beim Führen eines Fahrzeuges<br />
den Hörer eines Mobil- oder Autotelefons aufzunehmen<br />
oder zu halten (vgl. §§ 23 Abs. 1a, 49 Abs. 1 Nr. 22<br />
StVO, Regelsatz 60 €, 1 Punkt – BKat-Nr. 246/246.1). § 23a<br />
Abs. 1a StVO ist im Einklang mit dem Willen des Verordnungsgebers<br />
dahin auszulegen, dass er unabhängig davon<br />
einschlägig ist, ob die Telefonfunktion verwendet wird oder<br />
nicht; erfasst werden kann also auch das Filmen oder Fotografieren<br />
während der Fahrt, da der Schutzzweck der Norm<br />
auf eine beidhändige Erfassung des Lenkrades abzielt. 17<br />
Weiterhin hat der Fahrzeugführer bei stockendem Verkehr<br />
auf einer Autobahn oder Außerortsstraße für die Durchfahrt<br />
von Polizei- oder Hilfsfahrzeugen eine vorschriftsmäßige<br />
Gasse zu bilden. Ein etwaiges Fehlverhalten ist gem. §§ 11<br />
Abs. 2, 49 Abs. 1 Nr. 11 StVO, Regelsatz 20 €, 0 Punkte<br />
(BKat-Nr. 50) bußgeldbewehrt.<br />
Schließlich kann auch daran angeknüpft werden, dass es<br />
gem. §§ 12 Abs. 2, 18 Abs. 8 StVO verboten ist, auf Autobahnen<br />
oder Kraftfahrstraßen zu halten oder zu parken.<br />
Eine etwaige Zuwiderhandlung ist gem. § 49 Abs. 1 Nr. 18<br />
StVO bei einem Regelsatz von 30 €, 0 Punkte (BKat-Nr. 84)<br />
bzw. 70 €, 1 Punkt (BKat-Nr. 85) bußgeldbewehrt.<br />
II. Schutz der Persönlichkeitsrechte betroffener<br />
Unfallopfer<br />
1. § 201a StGB: Verletzung des höchstpersönlichen<br />
Lebensbereichs durch Bildaufnahmen<br />
Als weiteres schützenswertes Rechtsgut ist das allgemeine<br />
Persönlichkeitsrecht der Unfallopfer anzuführen. Je nach<br />
Fallgestaltung kann dieses insbesondere dann tangiert<br />
sein, wenn Unfallopfer am Ort des Geschehens fotografiert<br />
oder gefilmt werden.<br />
§ 201a StGB schützt das allgemeine Persönlichkeitsrecht.<br />
Im Rahmen der letzten Gesetzesnovellierung durch das 49.<br />
StrÄndG vom 21.01.2015 wurde § 201a StGB um Tatbestandsmodalitäten<br />
ergänzt, die nunmehr auch die strafrechtliche<br />
Verfolgung einzelner Handlungen Schaulustiger<br />
ermöglichen. Zwar war es primäre gesetzgeberische Intention,<br />
den strafrechtlichen Schutz gegen Kinderpornografie<br />
und Kindesmissbrauch an europäische Übereinkommen<br />
und Richtlinien anzupassen, gleichwohl traten vereinzelt<br />
weitere Regelungsbereiche hinzu.<br />
Konkret wird gem. § 201a Abs. 1 Nr. 2 StGB bestraft, wer<br />
eine Bildaufnahme, die die Hilflosigkeit einer anderen Person<br />
zur Schau stellt, unbefugt herstellt oder überträgt und<br />
dadurch den höchstpersönlichen Lebensbereich der abgebildeten<br />
Person verletzt.<br />
Vor dem Hintergrund, dass die moderne Technik nicht nur<br />
die Aufnahme und das Verbreiten von Bildmaterial erleichtert,<br />
sondern angesichts der Anonymität auch die Hemmschwelle<br />
der Verbreitung von Inhalten in den Telemedien<br />
sinkt, zielt die Neufassung des § 201a StGB auf eine Ausweitung<br />
des Persönlichkeitsrechtsschutzes. Die Neufassung<br />
soll auch entwürdigende, bloßstellende oder gewalttätige<br />
Situationen erfassen, im Besonderen auch außerhalb von<br />
14 Vgl. dazu näher BGH, Beschl. v. 03.11.2009 - 4 StR 373/09; BGH, Beschl.<br />
v. 10.12.2009 - 4 StR 503/09 - jeweils m.w.N.<br />
15 OLG Düsseldorf, Beschl. v. 20.04.1989 - 5 Ss 86/89 - 34/89 I, unter<br />
tateinheitlicher Verwirklichung der Nötigung des § 240 StGB; OLG<br />
Karlsruhe, Beschl. v. 11.11.1996 - 1 Ss 154/96.<br />
16 Heß in: Burmann/Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 23. Aufl.<br />
2014, § 38 Rn. 11; Scheffler, NJW 1995, 232, 233.<br />
17 Heß in: Burmann/Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 23. Aufl.<br />
2014, § 23 Rn. 22a; zu Einzelfällen der Rechtsprechung siehe Janker,<br />
NZV 2006, 69.<br />
162
JM 4 APRIL<br />
2016<br />
Wohnungen oder gegen Einblick besonders geschützter<br />
Räume. 18 Diese ursprünglich lediglich in der Gesetzesbegründung<br />
zu findende Intention wurde nach einer Anregung<br />
des zuständigen Bundestagsausschusses als eigenständige<br />
Tatbestandsmodalität eingefügt. Der ursprüngliche Entwurf<br />
sah diese Fälle lediglich insoweit erfasst, als die Bildaufnahmen<br />
geeignet seien, dem Ansehen der abgebildeten Person<br />
erheblich zu schaden. Da jedoch jedenfalls dann, wenn die<br />
abgebildete Person unverschuldet in die hilflose Lage gerät,<br />
etwa als Opfer einer Gewalttat, kein Ansehensverlust anzunehmen<br />
ist, wurde der Wortlaut als zu eng bewertet und<br />
entsprechend erweitert. 19<br />
Tatbestandlich setzt die Norm zunächst die Hilflosigkeit der<br />
betroffenen Person voraus. Der Begriff bezeichnet eine Situation,<br />
in der eine Person aufgrund ihrer körperlichen oder<br />
psychischen Konstitution oder wegen äußerer Einflüsse<br />
nicht (mehr) in der Lage ist, einen Willen zu bilden oder<br />
sich einem gebildeten Willen entsprechend zu verhalten<br />
und sich aufgrund dessen der Situation nicht entziehen<br />
kann. 20 Entscheidend ist also, dass sich die betroffene Person<br />
nicht mehr selbst helfen, nicht mehr mit eigener Kraft<br />
oder eigenen Mitteln der Situation entziehen kann. Solche<br />
Umstände liegen bei verunfallten Personen regelmäßig vor.<br />
Auf subjektiver Ebene muss die Hilflosigkeit des Opfers für<br />
den Täter darüber hinaus erkennbar sein. 21<br />
Durch die Bildaufnahme muss die abgebildete Person in<br />
ihrem höchstpersönlichen Lebensbereich i.S.d. § 201a<br />
Abs. 1 Nr. 3 StGB verletzt werden. Der Begriff knüpft an<br />
den Kerngehalt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts –<br />
die Intimsphäre – an und orientiert sich insbesondere an<br />
den Bereichen Krankheit, Tod und Sexualität. 22 Demnach<br />
lässt sich bei Unglücksfällen, in denen verunglückte, d.h.,<br />
jedenfalls verletzte Menschen gezeigt werden, ein betroffener<br />
höchstpersönlicher Lebensbereich feststellen. Aufgrund<br />
der Konturenlosigkeit des Rechtsgutes dürfte jedoch eine<br />
nicht unproblematische Abgrenzungsproblematik drohen.<br />
Insbesondere stellt sich die Frage, ob durch die Hilflosigkeit<br />
der Lage bei einem Unfall bereits die Verletzung des<br />
höchstpersönlichen Lebensbereichs des Unfallopfers indiziert<br />
wird. Entsprechend den Beispielsfällen der Gesetzesbegründung<br />
wird teilweise eine besondere Schwere der<br />
körperlichen Beeinträchtigung gefordert, andererseits soll<br />
auch die „betrunkene Person auf dem Heimweg“ erfasst<br />
sein. Konkret gesprochen stellt sich also die Frage: Genügt<br />
es, wenn ein Unfallopfer bspw. „nur“ eingeklemmt ist oder<br />
muss dieses darüber hinaus verletzt sein, und wenn ja,<br />
sichtbar, d.h. blutend und bewusstlos? Aufgrund der Weite<br />
der Begrifflichkeiten ist die Norm unter dem Aspekt der<br />
mangelnden Tatbestandsbestimmtheit dem – nicht offensichtlich<br />
unbegründeten – Vorwurf der Verfassungswidrigkeit<br />
ausgesetzt. 23 Strafprozessual erwähnenswert ist, dass<br />
gem. § 201a Abs. 5 StGB die Einziehung der Tatwerkzeuge<br />
gem. §§ 74 ff. StGB möglich ist.<br />
2. § 33 KunstUrhG<br />
Neben die Vorschrift des (neuen) § 201a StGB tritt in Gestalt<br />
des § 33 Abs. 1 KunstUrhG die einzig weitere Strafvorschrift,<br />
die eine Verletzung des Schutzgutes des allgemeinen<br />
Persönlichkeitsrechts pönalisiert. 24 Gem. § 22<br />
Satz 1 KunstUrhG dürfen Bildnisse nur mit Einwilligung des<br />
Abgebildeten verbreitet oder öffentlich zur Schau gestellt<br />
werden. § 33 Abs. 1 KunstUrhG enthält eine Strafvorschrift<br />
für den Fall, dass ein Bildnis entgegen den §§ 22, 23 Kunst-<br />
UrhG verbreitet oder öffentlich zur Schau gestellt wird.<br />
Tatbestandlich ist der Anwendungsbereich auf Bildnisse<br />
beschränkt. Erfasst wird also nicht jedes Foto; maßgeblich<br />
ist vielmehr die Erkennbarkeit der konkreten Person. 25<br />
Als absolutes Antragsdelikt wird die Tat gem. § 33 Abs. 2<br />
KunstUrhG nur auf Antrag verfolgt. Ferner ist die Norm ein<br />
Privatklagedelikt gem. § 374 Abs. 1 Nr. 8 StPO, sodass von<br />
der Staatsanwaltschaft nur dann Klage erhoben wird, wenn<br />
dies im öffentlichen Interesse liegt (vgl. § 376 StPO).<br />
Ein öffentliches Interesse wird jedoch nur dann vorliegen,<br />
wenn der Rechtsfrieden über den Lebenskreis des Verletzten<br />
hinaus gestört ist und die Strafverfolgung ein gegenwärtiges<br />
Anliegen der Allgemeinheit darstellt (vgl. Nr. 86<br />
Abs. 2 RiStBV). Darüber hinaus wird es in der Regel zu<br />
bejahen sein, wenn eine nicht nur geringfügige Schutzrechtsverletzung<br />
vorliegt (vgl. Nr. 261 RiStBV). Eine bloße<br />
Privatklage ist hingegen ausgeschlossen, wenn ein Privatklagedelikt<br />
mit einem Offizialdelikt im Rahmen einer Tat im<br />
prozessualen Sinn zusammentrifft.<br />
Der Umstand der Ausgestaltung der Norm als Privatklagedelikt<br />
sowie ihr eingeschränkter Anwendungsbereich<br />
lassen die Norm in der Praxis ein Schattendasein fristen.<br />
Die Betroffenen streben stattdessen die Durchsetzung ihrer<br />
zivilrechtlichen Ansprüche aus § 823 BGB i.V.m. Art. 1 und<br />
2 GG bzw. §§ 22, 23 KUG oder § 201a StGB sowie § 1004<br />
BGB an. 26 Der Zivilrechtsweg beinhaltet jedoch ein mitun-<br />
18 BT-Drs. 18/2601, S. 36.<br />
19 BT-Drs. 18/3202 (neu), S. 28.<br />
20 Busch, NJW 2015, 977, 978.<br />
21 Seidl/Wiedmer, jurisPR-ITR 17/2015, Anm. 2.<br />
22 Flechsig, ZUM 2004, 605, 609.<br />
23 Heuchemer in: BeckOK StGB, § 201a Rn. 1 m.w.N.<br />
24 Zu der streitigen Frage der Tateinheit oder -mehrheit zwischen § 201a<br />
StGB und § 33 KunstUrhG siehe Heuchemer in: BeckOK StGB, § 201a<br />
Rn. 26 bzw. Lackner/Kühl, StGB, 28. Aufl. 2014, § 201a Rn. 11 m.w.N.<br />
25 Ernst, NJW 2004, 1277, 1278.<br />
26 Kaiser in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 202. EL, § 33<br />
KunstUrhG Rn. 3 m.w.N. zu bereits ergangener Rechtsprechung.<br />
163
Die Monatszeitschrift<br />
ter nicht unerhebliches Kostenrisiko und unterliegt den zivilprozessualen<br />
Beibringungs- und Beweisschwierigkeiten.<br />
3. Bewertung<br />
Der Schutz des Persönlichkeitsrechts in Gestalt des Rechts<br />
am eigenen Bild hat durch die Neuregelung des § 201a StGB<br />
eine deutliche Stärkung erfahren. Anders als in den Fällen,<br />
in denen bisher nur eine Strafbarkeit gem. den § 33 Kunst-<br />
UrhG i.V.m. §§ 22, 23 KunstUrhG bestand, beginnt die Strafbarkeit<br />
jetzt in vielen Fällen nicht erst bei der Verbreitung<br />
oder den öffentlichen Zur-Schau-Stellen, sondern bereits bei<br />
der Herstellung der Bilder oder zumindest wenn die Bilder<br />
einem Dritten zugänglich gemacht werden. Auch wurde ein<br />
weiteres Hemmnis der Strafverfolgung – zumindest teilweise<br />
– abgebaut: Bei § 201a StGB handelt es sich gem. § 205<br />
Abs. 1 Satz 2 StGB um ein relatives Antragsdelikt. Ob dies in<br />
der Praxis allerdings zu einer verstärkten Strafverfolgung von<br />
Amts wegen führen wird, bleibt abzuwarten. Wünschenswert<br />
wäre diese Entwicklung jedenfalls unter dem Gesichtspunkt<br />
der Schutzbedürftigkeit der betroffenen Rechtsgüter. Oftmals<br />
erfasst § 201a StGB Fälle, in denen sich der Betroffene typischerweise<br />
für die Existenz und Verbreitung der Bilder derart<br />
schämt, dass er von sich aus auf behördliche Hilfe verzichtet.<br />
27 Dieser Umstand ist indes ein zweischneidiges Schwert,<br />
denn es gilt, ebenso zu berücksichtigen, dass der Einzelne<br />
selbst entscheiden können sollte, ob er eine strafrechtliche<br />
Verfolgung wünscht oder davon absehen möchte. Diese Bedenken<br />
dürften jedoch für die im Raum stehenden „Opfer“<br />
von Schaulustigen im Zusammenhang mit Unfällen regelmäßig<br />
von untergeordneter Natur bleiben.<br />
III. Ordnungsrechtlicher Rechtsrahmen<br />
Neben dem Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht sowie<br />
dem Zivilrecht beinhaltet auch das Gefahrenabwehrrecht<br />
Mittel, um störendes „Gaffen“ einzudämmen.<br />
1. Platzverweisungen<br />
Nach den Gefahrenabwehrgesetzen der Bundesländer<br />
kann eine (präventive) Platzverweisung gegen eine Person<br />
angeordnet werden, die den Einsatz der Feuerwehr<br />
oder von Hilfs- und Rettungsdiensten behindert. Durch<br />
diesen wird einer Person aufgegeben, einen bestimmten<br />
Ort zu verlassen oder nicht zu betreten. 28 Als bloße Anordnungsbefugnisse<br />
beinhalten sie allerdings keine Durchsetzungsmaßnahmen,<br />
sondern sind nach den allgemeinen<br />
vollstreckungsrechtlichen Grundlagen zwangsweise durchsetzbar.<br />
29 Im Regelfall dürften jedoch mündliche Verfügungen<br />
ausreichen, um die Gefahrenlage zu bereinigen.<br />
Wird die Polizei hingegen strafverfolgend (repressiv) tätig,<br />
ergibt sich die Rechtsgrundlage aus § 164 StPO. Danach<br />
ist neben der Festnahme von Störern die Platzverweisung<br />
zur „ungestörten Strafverfolgung“ als milderes Mittel anwendbar.<br />
30<br />
Die Nichtbeachtung einer Platzverweisung oder einer vergleichbaren<br />
Eingriffsmaßnahme ist grds. weder straf- noch<br />
bußgeldbewehrt (anders die Brandschutz- und Katastrophenschutzgesetze,<br />
dazu sogleich).<br />
2. Brand- und Katastrophenschutzgesetze<br />
In allen Bundesländern existieren ferner Brand- bzw. Katastrophenschutzgesetze,<br />
die die Problematik behindernder<br />
Personen an Brandstellen bzw. Einsatzorten von Katastrophen<br />
erfassen und mit der Erhebung eines Bußgeldes bei<br />
Zuwiderhandlungen ahnden. Eine detaillierte Darstellung<br />
der einzelnen Ausgestaltungen der Bundesländer ist an<br />
dieser Stelle nicht möglich, gleichwohl soll der Regelungsgehalt<br />
der sich ähnelnden Normen zumindest exemplarisch<br />
umrissen werden.<br />
Den Einsatz der Feuerwehren regeln in allen Bundesländern<br />
die Brandschutzgesetze (oder ähnlich lautende Gesetze).<br />
Als Beispiel sei § 24 Satz 1 NBrandSchG angeführt, wonach<br />
die Einsatzleiterin oder der Einsatzleiter die für die<br />
Durchführung eines Einsatzes erforderlichen Maßnahmen<br />
trifft. Sie oder er kann insbesondere Sicherungsmaßnahmen<br />
treffen, die erforderlich sind, damit die Feuerwehr am<br />
Einsatzort ungehindert tätig sein kann (§ 24 Satz 2 Nr. 1<br />
NBrandSchG). Nach Art. 25 BayFwG kann die Feuerwehr<br />
das Betreten der Schadensstelle und ihrer Umgebung verbieten<br />
oder Personen von dort verweisen und die Schadensstelle<br />
und den Einsatzraum der Feuerwehr sperren,<br />
wenn sonst der Einsatz behindert würde.<br />
Daran werden unter Umständen auch Bußgelder geknüpft.<br />
So sieht z.B. § 37 Abs. 1 Nr. 3 NBrandSchG vor, dass jemand,<br />
der vorsätzlich oder fahrlässig einer vollziehbaren Anordnung<br />
nach u.a. § 24 Satz 2 Nr. 1 NBrandSchG nicht nachkommt<br />
oder zuwiderhandelt, eine Ordnungswidrigkeit begeht.<br />
Einige Katastrophenschutzgesetze der Länder sehen Platzverweisungen<br />
bzw. Räumungen oder vergleichbare Maßnahmen<br />
gegenüber Anwesenden am Einsatzort vor; teilweise<br />
ist die Nichtbefolgung bußgeldbewehrt. 31 So kann<br />
27 Seidl/Wiedmer, jurisPR-ITR 17/2015, Anm. 2.<br />
28 Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht, 7. Aufl. 2012,<br />
§ 16 Rn. 1.<br />
29 Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht, 7. Aufl. 2012,<br />
§ 16 Rn. 31.<br />
30 Griesbaum in: Karlsruher Kommentar StPO, 7. Aufl. 2013, § 164 Rn. 7<br />
m.w.N.<br />
31 Vgl. bspw. Art. 10 BayKSG; §§ 29, 35 Abs. 1 Nr. 3 LKatSGBW; §§ 29, 37<br />
Abs. 1 Nr. 3 LBKG RhPf; §§ 22 Abs. 3, 40 Abs. 5, 50 Abs. 1 Nr. 3, 5 ThBKG.<br />
164
JM 4 APRIL<br />
2016<br />
bspw. nach Art. 10 BayKSG die Katastrophenschutzbehörde<br />
das Betreten des Katastrophengebiets verbieten, Personen<br />
von dort verweisen und das Katastrophengebiet sperren<br />
und räumen, wenn dies zur Katastrophenabwehr erforderlich<br />
ist. Mit Geldbuße kann gem. Art. 16 Nr. 2 BayKSG –<br />
entsprechend einer landesrechtlich gängigen Regelungsart<br />
– belegt werden, wer vorsätzlich oder fahrlässig einer vollziehbaren<br />
Anordnung nach Art. 10 BayKSG zuwiderhandelt.<br />
Auch in diesem Regelungszusammenhang fehlt es demnach<br />
nicht an einer rechtlichen Erfassung der Problematik<br />
von Schaulustigen. Der Anwendungsbereich katastrophenschutzrechtlicher<br />
Normen ist jedoch auf gravierende Gefahren<br />
beschränkt, 32 sodass die aufgeführten rechtlichen<br />
Steuerungsmittel überhaupt bloß in seltenen Fällen tatbestandlich<br />
einschlägig sein dürften.<br />
C. Reformbedarf<br />
I. Reformbedarf des materiellen Rechts<br />
Der skizzierte Rechtsrahmen macht eines deutlich: Es existiert<br />
ein bunter Strauß an Rechtsnormen, die aus verschiedenen<br />
Perspektiven des Rechts jeweils unterschiedliche Rechtsgüter<br />
schützen und die sowohl ein Einschreiten gegen Schaulustige<br />
im Sinne der Gefahrenabwehr als auch die straf- bzw.<br />
ordnungswidrigkeitenrechtliche Verfolgung umfassen.<br />
Das Hauptproblem der dargestellten Rechtslage und zugleich<br />
ein starkes Argument gegen einen Reformbedarf ist<br />
die mangelnde Durchsetzung der Normen. Insbesondere<br />
den Einsatzkräften kommen in Unglücksfällen dringlichere<br />
Aufgaben zu, als die straf- und ordnungswidrigkeitenrechtliche<br />
Verfolgung der „Gaffer“ zu betreiben. Zudem fehlt es<br />
oft an Zeit und Personal, die Normverstöße zu verfolgen<br />
und Beweise zu sichern. Demnach handelt es sich stärker<br />
um ein Vollzugsdefizit als um eine Rechtslücke.<br />
Gleichwohl kündigte Niedersachsens Innenminister Boris<br />
Pistorius (SPD) jüngst an, einen Gesetzentwurf vorlegen<br />
zu wollen, der das Fotografieren und Filmen von Unfallopfern<br />
verbiete. Er führt an, dass außer der Presse niemand<br />
das Recht habe, Aufnahmen von Opfern zu machen.<br />
Zwecks eines hinreichenden Opferschutzes müsse ein solches<br />
Verhalten strafrechtlich bewehrt sein. Derzeit werde<br />
favorisiert, entsprechende Paragrafen im KunstUhrG anzupassen.<br />
Vor dem Hintergrund der jüngsten Reform des § 201a<br />
StGB erscheint der Mehrwert einer bloßen Reform des<br />
KunstUhrG fraglich. Die spärlichen Informationen über<br />
das niedersächsische Reformvorhaben deuten darauf hin,<br />
dass die Persönlichkeitsrechte etwaiger Unfallopfer in den<br />
Vordergrund rücken sollen. Eben dieses Rechtsgut hat jedoch<br />
unlängst eine Aufwertung durch die Änderung des<br />
§ 201a StGB erfahren. Sofern die Gerichte der hier vorgenommenen<br />
– und vom Gesetzgeber intendierten – Auslegung<br />
folgen, besteht zumindest ein Schutz in besonderen<br />
Unfallsituationen. Zugegebenermaßen ist die Frage offen,<br />
welche konkreten Anforderungen an die Tatbestandsmerkmale<br />
im Einzelnen zu stellen sind. Eine restriktive Auslegung<br />
der Norm könnte folglich zu Schutzlücken hinsichtlich<br />
der Persönlichkeitsrechte verunfallter Personen führen, sodass<br />
allenfalls vor diesem Hintergrund eine Ausweitung auf<br />
jedwede Unfallsituation sachdienlich wäre. Darüber hinaus<br />
käme als strenge Form ein generelles Fotografie- und Filmverbot<br />
– unabhängig etwaig tangierter Persönlichkeitsrechte<br />
Betroffener – in Betracht.<br />
II. Maßnahmen und Notwendigkeiten zur Bewältigung<br />
des Phänomens<br />
Der aktuelle und auch ein etwa reformierter Rechtsrahmen<br />
könnten nicht das dringlichere Problem des Mangels<br />
der faktischen Rechtsverfolgung bewältigen. Um effektiv<br />
Rechtsverstöße ahnden zu können, müssten die Einsatzkräfte<br />
nicht bloß für eine etwaige Strafverfolgung stärker<br />
sensibilisiert werden, sondern personell derart aufgestellt<br />
sein, dass eine höhere Anzahl von Einsatzkräften zu Unglücksfällen<br />
abgestellt werden kann. Schlussendlich ist<br />
dies der internen Organisation zuzurechnen, die jedoch –<br />
wie häufig – auf haushaltspolitischen Entscheidungen<br />
beruht.<br />
Eine Möglichkeit rein praktischer Natur, um das Problem<br />
einzudämmen, ist ein derzeitiger Modellversuch in Nordrhein-Westfalen.<br />
Um den „Gaffern“ die Sicht zu versperren,<br />
werden Sichtschutzwände entlang von Unfallstellen<br />
erprobt. Bislang fällt das Fazit positiv aus: Insbesondere<br />
seien durch sie wirksam Staus vermieden sowie Unfallopfer<br />
und Rettungskräfte wirkungsvoll vor „Gaffern“ geschützt<br />
worden. 33<br />
Zweifelsohne kann dies alleine nicht zielführend sein,<br />
gleichwohl ist ihre ergänzende Beiziehung sinnvoll und<br />
weist vor allem auf das grundlegende Problem hin: die<br />
Sensationsgier des Menschen. Dort, wo das Ereignis abgeschirmt<br />
ist, lässt das Interesse nach. Dringliches Ziel<br />
muss demnach die gesamtgesellschaftliche, öffentliche<br />
Aufklärung und Sensibilisierung sein. Sinnvoll erscheinen<br />
insbesondere Präventionsmaßnahmen unter Einbeziehung<br />
aller verfügbaren Medien, aber auch von Fahrschulen und<br />
Automobilklubs.<br />
32 Vgl. Art. 1 Abs. 2 BayKSG.<br />
33 Gemeinsame Pressemitteilung von Straßen.NRW und dem NRW-<br />
Verkehrsministerium vom 07.09.2015.<br />
165
Die Monatszeitschrift<br />
Subjektiver Rechtsschutz, Einwendungspräklusion<br />
und Bestandskraft – klare Worte<br />
vom EuGH?<br />
EuGH, Urt. v. 15.10.2015 - C-137/14<br />
RiVG Dr. Thomas Jacob<br />
A. Problemstellung<br />
Auf wenigen Feldern hat der EUGH in den vergangenen Jahren<br />
so weitreichende Entscheidungen gefällt wie auf dem<br />
Gebiet des europäischen Umwelt- und Naturschutzrechts.<br />
Erscheinen die hierbei getroffenen Aussagen auf den ersten<br />
Blick zumeist wie „fachchinesisch“, so ist doch der „legal<br />
impact“ dieser Rechtssätze nicht zu unterschätzen. Noch<br />
mehr: Hier hat sich der EuGH derart umfassend zu für den<br />
deutschen Verwaltungsrechtsschutz zentralen Gesichtspunkten<br />
geäußert, dass die öffentlich-rechtliche Fachöffentlichkeit<br />
geradezu gebannt nach Luxemburg schaut, wenn von dort<br />
wieder einmal ein Spruch zur Umsetzung und Interpretation<br />
europäischen Umweltrechts zu erwarten ist.<br />
Unabhängig von der juristischen Seite sind die realen<br />
Auswirkungen der EuGH-Urteile zum Umwelt- und Naturschutzrecht<br />
ernst zu nehmen und in ihrer Breitenwirkung<br />
zu würdigen. Die besonders zentralen Fragen des<br />
Flora-Fauna-Habitat-Rechts (FFH-Richtlinie) und der – hier<br />
interessierenden – Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP-<br />
Richtlinie) sind Teil beinahe jeder größeren Planungs- und<br />
Vorhabenzulassungsentscheidung. Dies kann der Ausbau<br />
von Wasser- und Fernstraßen, Energieleitungen oder anderen<br />
großen Infrastrukturvorhaben sein. In all diesen Verfahren<br />
ist Rechtsprechung ohne den Einfluss des Unionsrechts<br />
undenkbar geworden. Und ausgehend hiervon bricht die<br />
Judikatur des EuGH immer wieder und drastisch auch in<br />
das deutsche Prozessrecht ein.<br />
Mit diesem Urteil endet das durch die Kommission gegen<br />
Deutschland geführte Vertragsverletzungsverfahren<br />
Nr. 2007/4267 mit weitreichenden Folgen für das Prozessrecht<br />
in umwelt- und planungsrechtlichen Streitigkeiten.<br />
Um die Reichweite der Entscheidung des Gerichtshofs angemessen<br />
zu erfassen, ist es sinnvoll, vorab einen Blick auf<br />
das in der VwGO angelegte subjektive Rechtsschutzsystem<br />
zu werfen: Nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann der Kläger<br />
nicht allein gestützt auf die Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsakts<br />
dessen Aufhebung verlangen. Zusätzlich ist<br />
erforderlich, dass er selbst durch die Verwaltungsentscheidung<br />
in eigenen Rechten verletzt wird. Dies muss er bereits<br />
auf der Ebene der Zulässigkeit geltend machen (§ 42 Abs. 2<br />
VwGO). Ferner kann der Kläger im Umwelt- und Planungsrecht<br />
aufgrund gesetzlicher Anordnung 1 nur mit dem sachlichen<br />
Vortrag Erfolg haben, den er bereits im Verwaltungsverfahren<br />
innerhalb einer bestimmten Einwendungsfrist<br />
vorgebracht hat. Versäumt er dies, tritt die sog. materielle<br />
Präklusion ein und das Gericht kann seinen Vortrag insoweit<br />
unberücksichtigt lassen (vgl. z.B. § 73 Abs. 4 Satz 3<br />
VwVfG). Schließlich gilt im bestehenden Rechtsschutzsystem,<br />
dass sich der Kläger nur gegen die Verwaltungsentscheidungen<br />
wenden kann, die noch nicht bestandskräftig<br />
und damit unangreifbar geworden sind.<br />
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung<br />
Im Rahmen der hier gegen die Bundesrepublik wegen fehlerhafter<br />
Umsetzung von Art. 10a der Richtlinie 85/337/<br />
EWG vom 27.06.1985 2 (heute Art. 11 der Richtlinie<br />
2011/92/EU vom 13.12.2011 3 , im Folgenden: UVP-RL) und<br />
Art. 15a der Richtlinie 96/61/EG vom 24.09.1996 4 (heute<br />
Art. 25 der Richtlinie 2010/75/EU vom 24.11.2010 5 ) in<br />
deutsches Recht, insbesondere durch das Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz<br />
(UmwRG), erhobenen Beschwerde brachte<br />
die Kommission mehrere Rügen vor.<br />
Zunächst befindet der EuGH über das deutsche Rechtsschutzsystem,<br />
das Klagemöglichkeiten nur bei der Verletzung<br />
in eigenen Rechten vorsieht. Bezugnehmend auf seine<br />
bisherige Rechtsprechung 6 stellt der Gerichtshof unter Bestätigung<br />
von § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO fest, dass auch im<br />
Anwendungsbereich der UVP-RL ein privater Einzelner mit<br />
seinem Rechtsbehelf nur dann Erfolg haben kann, wenn<br />
er durch die Verwaltungsentscheidung in seinen eigenen<br />
Rechten verletzt wird (Rn. 34). Da sich die Rüge nur auf<br />
Private bezog, nicht aber auf anerkannte Umweltverbände<br />
(Rn. 32), weist sie der EuGH zurück. Für Umweltverbände<br />
hingegen dürfe die Verletzung subjektiv-öffentlicher Rechte<br />
nicht verlangt werden.<br />
Mit der zweiten Rüge dringt die Kommission durch. Der<br />
Gerichtshof hält § 4 Abs. 1 UmwRG für unionsrechtswidrig.<br />
Art. 11 UVP-RL verlange, dass die verfahrensrechtliche und<br />
materiell-rechtliche Rechtmäßigkeit einer Entscheidung<br />
angefochten werden könne, ohne dass die Klagegründe<br />
inhaltlich beschränkt werden dürften (Rn. 47). 7 § 4 Abs. 1<br />
UmwRG sanktioniere insoweit aber nur den Fall, dass eine<br />
erforderliche Umweltverträglichkeitsprüfung gänzlich fehle.<br />
Sei die Prüfung zwar durchgeführt worden, aber ledig-<br />
1 Überblick bei Jacob in: Gärditz, VwGO, 2013, § 87b Rn. 6.<br />
2 ABl. L 175 vom 05.07.1985, S. 40.<br />
3 ABl. L 26 vom 28.01.2012, S. 1.<br />
4 ABl. L 257 vom 10.10.1996, S. 26.<br />
5 ABl. L 334 vom 17.12.2010, S. 17.<br />
6 EuGH, Urt. v. 12.05.2011 - C-115/09 Rn. 45 - „Trianel“.<br />
7 Vgl. schon EuGH, Urt. v. 12.05.2011 - C-115/09 Rn. 37 - „Trianel“;<br />
EuGH, Urt. v. 07.11.2013 - C-72/12 Rn. 36 - „Gemeinde Altrip“.<br />
166
JM 4 APRIL<br />
2016<br />
lich fehlerhaft, sei sie nach dem UmwRG nicht angreifbar<br />
(Rn. 50). Hierin liegt für den EuGH der erste Richtlinienverstoß.<br />
In einem zweiten Schritt hält der EuGH im Kontext der<br />
UVP-RL auch die verwaltungsverfahrensrechtliche Regelung<br />
des § 46 VwVfG für unionsrechtswidrig. Er hält es für<br />
problematisch, dass diese Vorschrift verlange, dass sich ein<br />
Verfahrensfehler (wie eben die genannte fehlerhafte UVP-<br />
Prüfung) auf das Ergebnis der Entscheidung ausgewirkt<br />
haben müsse, damit die Entscheidung insgesamt rechtswidrig<br />
werde (Rn. 55). Insbesondere verbietet der EuGH,<br />
dass die Beweislast für diesen Kausalzusammenhang von<br />
Verfahrensfehler und Entscheidungsergebnis dem Kläger<br />
aufgebürdet wird (Rn. 59). Nur, wenn das Gericht selbst<br />
eine solche Feststellung der fehlenden Auswirkung eines<br />
Verfahrensfehlers treffen könne, könnte § 46 VwVfG mit<br />
Unionsrecht vereinbar sein (Rn. 60).<br />
Besonders weitgehend ist die Würdigung der dritten Rüge.<br />
Der EuGH bringt hier für UVP-pflichtige Vorhaben die in<br />
Deutschland gesetzlich vorgesehene materielle Präklusion<br />
mit knappen Worten zu Fall. Wie ausgeführt, lässt der EuGH<br />
für Art. 11 UVP-RL keine Einschränkung der Klagegründe<br />
zu (Rn. 77). Damit seien dann auch Regelungen wie die<br />
der Einwendungspräklusion unvereinbar (z.B. § 2 Abs. 3<br />
UmwRG, § 73 Abs. 4 VwVfG), die die gerichtliche Kontrolle<br />
auf den Vortrag beschränken, den der Kläger bereits im<br />
Verwaltungsverfahren angebracht hat (Rn. 78). Die von<br />
der Bundesrepublik vorgebrachten Argumente für dieses<br />
im Planungs- und Zulassungsrecht bedeutende Instrument<br />
wischt der EuGH beiseite und gestattet lediglich, dass der<br />
Gesetzgeber „missbräuchliches oder unredliches Vorbringen“<br />
im Gerichtsverfahren ausschließen könne (Rn. 81).<br />
Auch den letzten drei Rügen gibt der EuGH statt. Die Rügen<br />
zielen auf die in § 5 UmwRG angesiedelten Übergangsfristen<br />
und -regelungen, mit denen der Gesetzgeber frühere<br />
Defizite in der Umsetzung der UVP-RL beseitigen wollte.<br />
Der Gerichtshof verwirft dabei die geltende Fassung des<br />
UmwRG, mit der die Bundesrepublik zum Zeitpunkt des<br />
Inkrafttretens des Gesetzes am 15.12.2006 bestands- wie<br />
rechtskräftige Entscheidungen vom Anwendungsbereich<br />
des Gesetzes ausnehmen wollte (Rn. 97). Da die Bundesrepublik<br />
die UVP-RL unzureichend umgesetzt habe, indem<br />
sie die Klagebefugnis von Umweltverbänden und den gerichtlichen<br />
Prüfungsmaßstab unzulässigerweise beschränkt<br />
habe, könne sie dem nun nicht die Bestands- und Rechtskraft<br />
der Entscheidungen entgegenhalten (Rn. 98).<br />
Das Urteil steht in einer Reihe mit weiteren prominenten<br />
Entscheidungen des Gerichtshofs auf dem Gebiet der<br />
Umweltverbandsklage; die Diskussion über noch weitergehende<br />
Folgerungen – nicht zuletzt auf Grundlage der<br />
Aarhus-Konvention und dem dort geforderten „weiten<br />
Zugang“ zu den Gerichten in Umweltangelegenheiten<br />
– dauert unvermindert an. 8 Nicht überraschend ist, dass<br />
im Anwendungsbereich der UVP-RL die Klagerechte von<br />
Individualklägern weiterhin an § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO<br />
gemessen werden dürfen. Nichts Neues gibt es auch zur<br />
Rügefähigkeit von Verfahrensfehlern (§ 4 Abs. 1 UmwRG<br />
und § 46 VwVfG).<br />
Von zentraler Bedeutung im Vertragsverletzungsverfahren<br />
war hingegen die Frage der Unionsrechtswidrigkeit<br />
der materiellen Präklusion. Hier setzt der EuGH einen<br />
(vorläufigen?) Schlusspunkt unter einen Diskurs, in den<br />
sich auch das BVerwG noch Anfang 2014 eingebracht hat.<br />
Das BVerwG wies darauf hin, dass sich die Präklusion gerade<br />
nicht auf rechtliches Vorbringen erstrecke, sondern<br />
nur auf Tatsachenfragen. Hierdurch solle die besondere<br />
Sachkunde der Naturschutzvereinigungen in das Verwaltungsverfahren<br />
eingebracht werden, indem diese zu einer<br />
kritischen Auseinandersetzung mit dem vorhandenen<br />
naturschutzfachlichen Material angehalten würden. 9 Das<br />
BVerwG hat auch auf das Eigenverwaltungsrecht der EU<br />
hingewiesen, das eine dem Einwendungsausschluss nach<br />
deutschem Recht vergleichbare Beschränkung des Tatsachenvortrags<br />
und damit der Rechtmäßigkeitskontrolle<br />
eines Gemeinschaftsaktes im gerichtlichen Verfahren<br />
kenne. 10<br />
Während die Ausführungen des EuGH zum Anwendungsbereich<br />
des UmwRG zu erwarten waren, 11 ist doch die<br />
Konsequenz überraschend, mit der der Gerichtshof die Einwände<br />
Deutschlands zur Bestands- und Rechtskraft beiseiteschiebt.<br />
Hier bleibt nach dem Urteil einiges im Dunkeln,<br />
wobei die Frage naheliegt, ob die Ausführungen des EuGH<br />
selbst „so konkret, bestimmt und klar sind, dass sie dem<br />
Erfordernis der Rechtssicherheit genügen“ (Rn. 51).<br />
D. Auswirkungen für die Praxis<br />
Zunächst gilt es, das laufende Novellierungsverfahren zum<br />
UmwRG abzuwarten. Hier dürfte der Gesetzgeber einige<br />
Unvereinbarkeiten mit Art. 11 UVP-RL abstellen.<br />
Ein Paukenschlag ist das Ende der Präklusion für UVP-pflichtige<br />
Vorhaben. Der EuGH hat sich nicht damit begnügt, die<br />
in der Tat recht kurzen Einwendungsfristen zu hinterfragen,<br />
sondern mit brutaler Kürze ein etabliertes Instrument des<br />
C. Kontext der Entscheidung<br />
8 Vgl. statt vieler Seibert, NVwZ 2013, 1040; Gärditz, NVwZ 2014, 1.<br />
9 BVerwG, Beschl. v. 06.03.2014 - 9 C 6.12 Rn. 16.<br />
10 BVerwG, Beschl. v. 06.03.2014 - 9 C 6.12 Rn. 17.<br />
11 Vgl. EuGH, Urt. v. 07.11.2013 - C-72/12 Rn. 31 - „Gemeinde Altrip“.<br />
167
Die Monatszeitschrift<br />
nationalen Rechtssystems vom Tisch gefegt, das in überaus<br />
komplexen Planfeststellungs- und Vorhabenzulassungsverfahren<br />
die nicht weniger komplexen Vorgaben des Naturschutz-<br />
und Umweltrechts „handhabbar“ gemacht hat.<br />
Immerhin hat der EuGH den Fingerzeig gegeben, dass er<br />
eine gesetzliche Regelung akzeptieren könnte, die „missbräuchliches“<br />
Vorbringen als unzulässig wertet. Dies könnte<br />
klagende Umweltverbände dazu anhalten, vorhandenes<br />
Fachwissen im Verwaltungsverfahren nicht zurückzuhalten<br />
und erstmals vor Gericht gegen die Zulassungsentscheidung<br />
in Stellung zu bringen. Bis zu einer solchen Regelung<br />
gilt aber nach dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts<br />
die Unzulässigkeit jeglicher Einwendungspräklusion, was<br />
sich bereits in aktuellen Verfahren auswirkt. 12<br />
Schwer zu prognostizieren sind die Auswirkungen des<br />
EuGH-Diktums zur Bestands- und Rechtskraft im Zusammenhang<br />
mit der verspäteten Umsetzung der UVP-RL in<br />
deutsches Recht. Fraglich ist insbesondere, wie allgemein<br />
der EuGH hier verstanden sein will. Es dürfte indes<br />
nahe liegen, möglichst wortlautnah zunächst die vom<br />
EuGH verworfenen Übergangsregelungen in den Blick<br />
zu nehmen.<br />
E. Bewertung<br />
Die Tragweite des Urteils im Anwendungsbereich der UVP-<br />
RL dürfte enorm sein und Anlass zu weitgehenden Diskussionen<br />
geben. Liegt der Gerichtshof mit einigen seiner Bewertungen<br />
auf der bisherigen Linie seiner Rechtsprechung,<br />
erfordert doch die apodiktische Absage an materielle Präklusionsvorschriften<br />
nach bisheriger Fassung ein sofortiges<br />
Umdenken. Dies dürfte ungeachtet des Umstands gelten,<br />
dass das Urteil nicht den Eindruck vermittelt, sämtliche<br />
Argumente der Bundesrepublik eingehend zu würdigen.<br />
Interessant wird sein, wie Wissenschaft und Praxis auf die<br />
Aussagen des EuGH zur Bestands- und Rechtskraft reagieren<br />
werden.<br />
12 Vgl. BVerwG, Urt. v. 22.10.2015 - 7 C 15.13 - „Gemeinde Altrip“.<br />
Steuerrecht<br />
RiBFH Prof. Dr. Monika Jachmann-Michel<br />
Steuer(un)gerechtigkeit für Familien?<br />
A. Problemstellung<br />
Der medienpräsente politische Kampf gegen Kinderarmut<br />
und eine vielfach angeprangerte Benachteiligung von Alleinerziehenden<br />
in Deutschland werden gerade auch im<br />
Kontext einer angeblichen Familienblindheit unseres Steuersystems<br />
bzw. Steuerungerechtigkeit für Familien geführt.<br />
Die intendierte Gewährleistung von Wohlergehen und Teilhabe<br />
über monetäre Leistungen für Familien und Kinder ist<br />
aber keine Aufgabe des Steuerrechts. Steuern sollen der Finanzierung<br />
der staatlichen Aufgabenerfüllung dienen, also<br />
auch der Finanzierung sozial motivierter staatlicher Leistungen<br />
an Familien. Dabei ist die Steuerlast gleichmäßig<br />
auf die Steuerpflichtigen zu verteilen, dies nach Maßgabe<br />
ihrer Mitverantwortung als Bürger für das Gemeinwohl,<br />
d.h. entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit. 1<br />
Bei der Diskussion über die Steuer(un)gerechtigkeit für<br />
Familien geht es um die Frage, ob bzw. inwieweit Familien<br />
bzw. deren Mitglieder gleichheitsgerecht belastet<br />
werden. Der maßgebliche Vergleich ist dabei ausschließlich<br />
zwischen steuerpflichtigen Familien bzw. Familien-<br />
mitgliedern einerseits und anderen Steuerpflichtigen<br />
andererseits zu ziehen. Keine Frage der Steuergerechtigkeit<br />
ist der Lebensstandard von Steuerpflichtigen nach<br />
Steuerzahlung einerseits und der von Bürgern, die ohnehin<br />
keine Steuern zahlen, andererseits. Familienpolitisch<br />
motivierte Sozialsubventionierung ist keine der Besteuerungsgleichheit<br />
immanente Frage. Wird das Steuerrecht<br />
– entgegen seiner originären Funktion – zur Subventionierung<br />
aus sozialen Gründen gebraucht, gilt es sub<br />
specie Steuergerechtigkeit die steuerliche Begünstigung<br />
der subventionierten Gruppe gegenüber anderen Steuerpflichtigen<br />
zu rechtfertigen.<br />
Speziell wenn es um moderne Postulate der Familienpolitik<br />
geht, kommt eine weitere Grundproblematik hinzu: ein weiter,<br />
rechtlich nicht vorgeformter Familienbegriff, der bestimmt<br />
wird vor allem durch starke persönliche Bindungen oder eine<br />
1 Dazu stv. Jachmann, Nachhaltige Entwicklung und Steuern, 2003,<br />
S. 51 ff. m.w.N.<br />
168
JM 4 APRIL<br />
2016<br />
gegenseitige Sorge mehrerer Generationen. 2 Das Steuerrecht<br />
lebt demgegenüber von seiner Tatbestandsmäßigkeit im Sinne<br />
einer eindeutigen engmaschigen gesetzlichen Vorzeichnung<br />
des Steuereingriffs. Zu bedenken gilt es daneben die<br />
nicht beliebig auslegbare Textfassung von Art. 6 GG sowie<br />
die Eigenschaft der Ehe als Erwerbsgemeinschaft, während<br />
die Eltern-Kind-Beziehung lediglich eine Verbrauchsgemeinschaft<br />
darstellt. Beide können zwangsläufig aus systemimmanenten<br />
Gründen im Rahmen einer Besteuerung des Erwerbs,<br />
wie sie das EStG regelt, nicht gleich behandelt werden.<br />
Steht vor diesem Hintergrund die angebliche Familienblindheit<br />
unseres Steuersystems im Fokus, verbergen sich dahinter<br />
v.a. zwei grundsätzliche Problemfelder: Zum einen geht<br />
es um eine etwaige Verfehltheit des Ehegattensplittings, 3<br />
zum anderen um die Reformbedürftigkeit des steuerlichen<br />
Familienleistungsausgleichs, weil – wie vielfach postuliert<br />
– dem Staat jedes Kind gleich viel wert sein sollte. 4<br />
Beiden Aspekten soll im Folgenden nachgegangen werden.<br />
B. Das Ehegattensplitting – ein Stein des Anstoßes?<br />
Art. 6 Abs. 1 GG schützt die Ehe als Erwerbs- und Verbrauchsgemeinschaft<br />
5 und sichert den Ehepartnern eine<br />
selbstbestimmte Ausgestaltung ihrer ehelichen Lebensgemeinschaft.<br />
Die Eheschließung darf keine steuerlichen<br />
Nachteile nach sich ziehen. Die Entscheidung, welcher der<br />
Ehepartner in welchem Umfang zur Erwirtschaftung des<br />
gemeinsamen, den Lebensunterhalt sichernden Einkommens<br />
beiträgt, steht in freiem Ermessen der Ehegatten und<br />
muss von staatlichen und damit auch von steuergesetzlichen<br />
Regelungen unbeeinflusst bleiben. 6 Gleiches gilt für<br />
die Entscheidung für oder gegen Kinder.<br />
Diesen Vorgaben trägt das Ehegattensplitting (§§ 26, 26b<br />
EStG) adäquat Rechnung. Es sichert durch die hälftige Aufteilung<br />
des Einkommens auf beide Ehepartner zum einen<br />
die Präferenzentscheidung der Ehepartner, wer in welchem<br />
Umfang ein Einkommen erwirtschaftet. Zum anderen ist<br />
diese Einkommenszuordnung deshalb angemessen, weil sie<br />
der gesetzlichen Vorstellung eines gemeinsamen Haushalts<br />
entspricht, in dem beide Ehegatten gleichermaßen leistungsfähig<br />
sind. 7 Darüber hinaus wird die ehe-, unterhalts- und<br />
güterrechtliche Verbindung (§§ 1353 ff., §§ 1363 ff. BGB)<br />
beider Ehepartner als Wirtschaftsgemeinschaft 8 – bezogen<br />
auf die Zugewinngemeinschaft (§§ 1363 ff. BGB) und damit<br />
den regelmäßig vorkommenden Güterstand – nachgezeichnet.<br />
Das Ehegattensplitting kann als typisierende Besteuerung<br />
entsprechend der ehelichen Unterhaltsverpflichtungen<br />
betrachtet werden, die ebenfalls eine hälftige Aufteilung des<br />
Einkommens zum Gegenstand haben (sog. unterhaltsrechtlicher<br />
Halbteilungsgrundsatz). Es sichert so eine leistungsfähigkeitsgerechte<br />
Besteuerung (Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 6<br />
Abs. 1 GG). Insbesondere wird durch das Splitting eine Benachteiligung<br />
von Alleinverdienerehen ausgeschlossen. 9 Die<br />
Fälle der Gütertrennung sind insoweit adäquat erfasst, als<br />
für sie typisierend angenommen werden kann, dass die Ehepartner<br />
die getrennte Veranlagung (§§ 26, 26a EStG) wählen.<br />
Wenn in der Familienpolitik einerseits gefordert wird, es<br />
dürfe für Anerkennung und Unterstützung nicht maßgeblich<br />
sein, ob es um verheiratete oder unverheiratete Eltern<br />
oder um Alleinerziehende gehe, 10 und andererseits verlangt<br />
wird, Haushalte mit Kindern seien besonders zu berücksichtigen,<br />
11 ist dies vielfach gegen das Ehegattensplitting<br />
gerichtet, verfehlt jedoch dessen Rechtfertigung und steuersystematische<br />
Einbindung im EStG.<br />
Das Ehegattensplitting dient nicht der Förderung von Kindern<br />
– das ist die „Baustelle“ des Familienleistungsausgleichs<br />
(dazu C.) – und es subventioniert nicht die Ehe. Anknüpfungspunkt<br />
für das Splitting ist nicht das Vorliegen eines<br />
Trauscheins, sondern es stellt vielmehr sicher, dass die durch<br />
Art. 6 Abs. 1 GG geschützte, von staatlicher Einflussnahme<br />
freie Gestaltung des Zusammenlebens der Ehegatten als Erwerbs-<br />
bzw. Wirtschafts- und Verbrauchsgemeinschaft ohne<br />
steuerliche Folgen bleibt, also der Staat auch nicht mittelbar<br />
über die Steuer die Freiheit dieser Lebensgestaltung begrenzt.<br />
Damit ist das Ehegattensplitting ein Baustein der Besteuerungsgleichheit,<br />
keine rechtfertigungsbedürftige Abweichung<br />
davon. In dieser Eigenschaft kann und muss es aus gleichheitsrechtlichen<br />
Gründen auf der Ehe rechtlich vergleichbare<br />
Lebensformen ausgedehnt werden – so auf eingetragene<br />
Lebenspartnerschaften – 12 , nicht aber auf die Eltern-Kind-Beziehung.<br />
Denn letztere ist eben keine Erwerbsgemeinschaft.<br />
2 Vgl. etwa Eckpunktepapier des Deutschen Vereins zur Weiterentwicklung<br />
des Systems monetärer Unterstützung von Familien und Kindern,<br />
DV 38/12 AF II 25.06.2013 (im Folgenden zitiert als DV), S. 4 f.<br />
3 DV S. 19, 27.<br />
4 Vgl. DV S. 12 f., 22; Gillmann:„Dem Staat sollte jedes Kind gleich viel<br />
Wert sein“ in: Handelsblatt (2015), Nr. 214, S. 12.<br />
5 BVerfG, Urt. v. 03.11.1982 - 1 BvR 620/78, 1335/78, 1104/79 u.<br />
363/80 - BVerfGE 61, 319, 345.<br />
6 Vgl. nur BVerfG, Beschl. v. 04.12.2002 - 2 BvR 400/98 - BVerfGE 107,<br />
27, 53 m.w.N.<br />
7 Sandweg, DStR 2015, 459, 460.<br />
8 Vgl. dazu Jachmann, Nachhaltige Entwicklung und Steuern, 2003,<br />
S. 225 ff. m.w.N.<br />
9 BVerfG, Urt. v. 03.11.1982 - 1 BvR 620/78, 1335/78, 1104/79<br />
u. 363/80 - BVerfGE 61, 319, 345.<br />
10 Bohsem:„Ehegattensplitting passt nicht mehr in unsere Gesellschaft“<br />
in SZ v. 20.10.2015.<br />
11 SPD in: Beschl. d. SPD-Parteivorstands: Moderne Familienpolitik weiter<br />
denken v. 19.10.2015.<br />
12 BVerfG, Beschl. v. 07.05.2013 -2 BvR 909/06, 1981/06 u. 288/07 -<br />
BVerfGE 133, 377; nachdem das BVerfG mit Beschl. v. 07.05.2013 den<br />
Ausschluss von eingetragenen Lebenspartnern vom Ehegattensplitting<br />
für verfassungswidrig erklärt hat, wurde § 2 Abs. 8 EStG neu eingeführt.<br />
169
Die Monatszeitschrift<br />
Damit werden aber auch Alleinerziehende nicht etwa durch<br />
das Ehegattensplitting benachteiligt. Sie leben gerade in<br />
keiner Erwerbsgemeinschaft, deren Schutz das Splitting dienen<br />
könnte. Man kann freilich fragen, ob es Aufgabe der<br />
Gemeinschaft der Steuerzahler ist, faktische Nachteile der<br />
Entscheidung für die Lebensform „Alleinerziehend“ durch<br />
monetäre Leistungen in Gestalt von Steuervergünstigungen<br />
auszugleichen. Die ggf. zu kompensierende faktische<br />
Schlechterstellung ist aber keine Konsequenz des Splittings.<br />
Insoweit wäre primär zu konkretisieren, durch welche monetären<br />
Lasten jenseits des Kindesexistenzminimums, das via<br />
Kinderfreibeträge / Kindergeld berücksichtigt ist, Alleinerziehende<br />
mehr belastet sind als erziehende Eltern. Es geht hier<br />
wohl um eine persönliche Einschränkung der individuellen<br />
Entfaltungsfreiheit, die aus der Alleinzuständigkeit für das<br />
Kind resultiert. Monetär abbildbar ist dies unter Umständen<br />
durch gesteigerte Fremdbetreuungskosten, die aber – wie<br />
auch bei Eltern – nach tatsächlichem Anfall und je nach<br />
beruflicher oder privater Veranlassung als erwerbs- oder<br />
existenzsichernder Aufwand berücksichtigt werden sollten.<br />
Neben einem erwerbs- und aufwandsunabhängigen Betreuungsbedarf<br />
als Teil des familiären Existenzminimums 13<br />
sollte es eine von diesem Bedarf unabhängige Kategorie des<br />
erwerbsbedingten Betreuungsaufwands geben. Aufwendungen<br />
für Fremdbetreuung während der Arbeitszeit sollten in<br />
der tatsächlich entstehenden Höhe als Werbungskosten (§ 9<br />
EStG) abziehbar sein. Nur die volle Abziehbarkeit des beruflichen<br />
Mehraufwands trägt dem Ziel der Vereinbarkeit von<br />
Berufstätigkeit und Familie hinreichend Rechnung. Darüber<br />
hinaus bietet die Abziehbarkeit erwerbsbedingten Betreuungsaufwands<br />
als Werbungskosten die Möglichkeit, durch<br />
Kinderbetreuungskosten entstandene Verluste mit positiven<br />
Einkünften späterer Jahre zu verrechnen. Von dieser Möglichkeit<br />
profitieren insbesondere auch Alleinerziehende. 14<br />
Aus Verfassungsgründen (Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1<br />
GG) geboten ist der Abzug von erwerbsbedingten Kinderbetreuungskosten<br />
insoweit, als die finanzielle Leistungsfähigkeit<br />
der Eltern durch erwerbsbedingten Betreuungsaufwand<br />
tatsächlich gemindert ist. Als zwangsläufige Aufwendungen<br />
müssen gerade erwerbsbedingte Kinderbetreuungskosten<br />
in realitätsgerechter Höhe steuerlich abziehbar sein. 15 In<br />
der Einzelausgestaltung kann der Gesetzgeber typisierend<br />
erwerbsbedingte Kinderbetreuungskosten der Höhe nach<br />
begrenzen; 16 sie um eine zumutbare Eigenbelastung –<br />
vergleichbar § 33 Abs. 1 EStG – zu kürzen, wäre dagegen<br />
verfassungswidrig. 17 Im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit<br />
kann der Gesetzgeber freilich wählen, ob er erwerbsbedingte<br />
Kinderbetreuungskosten „wegen ihrer Veranlassung durch<br />
die Erwerbstätigkeit [der Eltern] den Werbungskosten und<br />
Betriebsausgaben zuordnet oder durch eine spezielle Norm<br />
[…] die private (Mit-)Veranlassung – die elterliche Entscheidung<br />
für Kinder, die eine Betreuung erst erforderlich macht<br />
– systematisch in den Vordergrund stellt“. 18<br />
Der Betreuungsfreibetrag einerseits (§ 32 Abs. 6 EStG),<br />
der den allgemeinen kindesbedingten Betreuungsbedarf<br />
wiedergibt, und die erwerbsbedingten Kinderbetreuungskosten<br />
andererseits stellen unterschiedliche, voneinander<br />
unabhängige Kategorien dar. 19 Jenseits des Abzugs von erwerbsbedingten<br />
Kinderbetreuungskosten wäre der Abzug<br />
erwerbsunabhängiger Kinderbetreuungskosten als Sonderausgaben<br />
(§ 10 Abs. 1 Nr. 5 EStG) nicht erforderlich, da diese<br />
Kosten bereits als vom allgemeinen Betreuungsfreibetrag<br />
(§ 32 Abs. 6 EStG) umfasst angesehen werden können. Der<br />
Umstand aber, dass Alleinerziehende unter Umständen vom<br />
anderen Elternteil keine faktische, ggf. auch mentale Unterstützung<br />
haben, führt eher zu einer psychischen Belastung,<br />
die aber im Steuersystem im Bereich der Sonderausgaben<br />
oder der außergewöhnlichen Belastungen zu verorten ist.<br />
Insoweit ist der Entlastungsbetrag für Alleinerziehende gem.<br />
§ 24b EStG, der rückwirkend zum 01.01.2015 um 600 € auf<br />
1.908 € angehoben wurde und nunmehr nach der Kinderzahl<br />
gestaffelt ist, 20 nicht zu beanstanden.<br />
Jenseits dessen könnte man freilich überlegen, das Splitting<br />
ersatzlos entfallen zu lassen und jedes Individuum im<br />
Sinne einer reinen Individualbesteuerung gleich zu behandeln.<br />
Bei einer Individualbesteuerung der Ehegatten müssten<br />
jedoch die ehelichen Unterhaltsverpflichtungen steuerrechtlich<br />
abgebildet werden. Das steuerliche Ergebnis<br />
würde sich dann kaum vom geltenden Recht unterscheiden.<br />
Entsprechend der hälftigen Aufteilung des Ehegatteneinkommens<br />
nach unterhaltsrechtlichen Gesichtspunkten<br />
wären die – die subjektive Leistungsfähigkeit mindernden –<br />
Unterhaltsverpflichtungen jeweils hälftig zu berücksichtigen.<br />
Das Einkommen des einkommensstärkeren Ehegatten<br />
und das des einkommensschwächeren würden addiert und<br />
auf beide gleich verteilt. Soweit bei sehr hohen Einkommen<br />
angesichts einer unterhaltsrechtlichen Sättigungsgrenze<br />
keine hälftige Aufteilung mehr erfolgt, wäre eine höhenmäßige<br />
Begrenzung des aus dem Ehegattensplitting resultierenden<br />
steuerlichen Vorteils möglich.<br />
13 BVerfG, Beschl. v. 10.11.1998 - 2 BvR 1057/91, 1226/91, 980/91 -<br />
BVerfGE 99, 216, 235; vgl. dazu §§ 31, 32 EStG.<br />
14 Vgl. BT-Drs. 17/6122, S. 4.<br />
15 BVerfG, Beschl. v. 16.03.2005 - 2 BvL 7/00 - BVerfGE 112, 268, 282.<br />
16 BFH, Urt. v. 05.07.2012 - III R 80/09 - BFHE 238, 76, 83 mit Verweis<br />
auf BFH, Urt. v. 09.02.2012 - III R 67/09 - BFHE 237, 39.<br />
17 BVerfG, Urt. v. 16.03.2005 - 2 BvL 7/00 - BVerfGE 112, 268, 280 f.<br />
18 BVerfG, Urt. v. 16.03.2005 - 2 BvL 7/00 - BVerfGE 112, 268, 281 f.<br />
19 Bei unangemessenem Aufwand gilt § 4 Abs. 5 Nr. 7 EStG.<br />
20 Der Entlastungsbetrag steigt für das zweite und jedes weitere zu berücksichtigende<br />
Kind zusätzlich um 240 € jährlich (sog. Erhöhungsbetrag<br />
n.F.).<br />
170
JM 4 APRIL<br />
2016<br />
Verfassungswidrig wäre aber ein begrenztes Ehegatten-<br />
Realsplitting (sog. Individualbesteuerung mit übertragbarem<br />
Höchstbetrag), das die auf den einkommensschwächeren<br />
Ehegatten übertragbaren Unterhaltsleistungen der Höhe<br />
nach auf z. B. max. 10.000 € begrenzte; 21 die realen Unterhaltsverpflichtungen<br />
blieben hier unberücksichtigt. Die begrenzte<br />
Umverteilung von 10.000 € bei „Einverdienerehen“<br />
würde bereits bei einem Einkommen von über 20.000 € die<br />
Unterhaltsverpflichtungen nicht mehr realitätsgerecht abbilden;<br />
die Ehe als Wirtschaftsgemeinschaft wäre verkannt.<br />
Denkbar wäre ein der Höhe nach am nachehelichen Realsplitting<br />
des § 10a Nr. 1 EStG orientierter fiktiver Unterhaltsabzug.<br />
22 Dies würde sich zwar in ein (Familien-)<br />
Realsplitting eingliedern und Finanzmittel zu dessen Finanzierung<br />
generieren, 23 ohne die Ehe als Erwerbs- und Verbrauchsgemeinschaft<br />
vollkommen zu verkennen. Allerdings<br />
bestünde für Steuerpflichtige mit höheren Einkommen die<br />
Möglichkeit, weitergehende Splittingwirkungen durch vertragliche<br />
Gestaltungen herbeizuführen mit der Konsequenz<br />
erheblichen Kontrollaufwands für die Finanzverwaltung.<br />
Die Annahme, das Ehegattensplitting sei eine Motivationsbremse<br />
für verheiratete Frauen, zu arbeiten, scheint nur<br />
prima facie schlüssig. Kommt es bei Ehegatten zu einer<br />
geänderten Aufgabenverteilung, führt gerade das Splitting<br />
dazu, dass bei unverändertem Gesamteinkommen der<br />
Ehepartner die Höhe der zu zahlenden Einkommensteuer<br />
gleich bleibt. 24 Nimmt die Ehefrau eine Arbeit auf, führt<br />
dies tatsächlich zu dem Nachteil, dass die Steuerlast des<br />
Paares gegenüber der vorherigen Steuerlast ansteigt; dies<br />
ist aber auf den Anstieg des Einkommens und damit der Bemessungsgrundlage<br />
für die Einkommensteuer zurückzuführen.<br />
Der Grund für den zusätzlichen Anstieg der Steuerlast<br />
liegt in der Progression der Einkommensteuer, die durch<br />
das Splittingverfahren gerade abgemildert wird.<br />
C. Zum Postulat, dass dem Staat jedes Kind gleich<br />
viel wert sein sollte<br />
Wenn die politische Forderung, dem Staat solle jedes Kind<br />
gleich viel wert sein, an den Steuergesetzgeber gerichtet<br />
wird, hat dies zwei Ursachen: zum einen ein Missverständnis<br />
des progressionsbedingten Kinderfreibetrags und zum<br />
anderen seine methodisch unglückliche Vermengung mit<br />
dem Kindergeld im geltenden sog. dualen System.<br />
Der Kinderfreibetrag 25 ist nichts anderes als die verfassungsrechtlich<br />
zwingende Freistellung des Teils des Erwerbseinkommens<br />
von der Besteuerung, das die Eltern<br />
für die Existenzsicherung ihrer Kinder brauchen. Mit dem<br />
Kinderfreibetrag wird aber kein Aufwand zum Abzug zugelassen<br />
– dies auch nicht in typisierter Form; vielmehr gilt es,<br />
die von Art. 6 Abs. 1 GG geforderte Ausdehnung der Steuerfreiheit<br />
des Existenzminimums des Steuerpflichtigen auf<br />
seine Kinder gesetzlich umzusetzen.<br />
Der sog. Familienleistungsausgleich (§ 31 EStG) soll pauschal<br />
die Minderung an wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit<br />
ausgleichen, die Eltern durch ihre Kinder im Vergleich zu Kinderlosen<br />
erfahren. Dabei wird – de lege lata – seit 1996 ein<br />
monatliches Kindergeld – der Sache nach Sozialleistung, gesetzestechnisch<br />
Steuervergütung – auf die Entlastung durch<br />
die Kinderfreibeträge (§ 32 Abs. 6 EStG) gezahlt. Soweit hierfür<br />
nicht erforderlich, dient es als Sozialsubvention für die Familie.<br />
26 Diese Regelungstechnik verschleiert, dass die Kinderfreibeträge<br />
der Herstellung steuerlicher Belastungsgleichheit<br />
durch Berücksichtigung der kindesbedingten Minderung der<br />
Leistungsfähigkeit der Eltern dienen.<br />
Das freigestellte Kindesexistenzminimum umfasst neben<br />
dem sächlichen Existenzminimum auch einen Freibetrag<br />
für Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf.<br />
Damit soll die Minderung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit<br />
der Eltern ausgeglichen werden, die dadurch<br />
entsteht, dass sie sich der Betreuung und Erziehung ihrer<br />
Kinder entweder – mit Erwerbseinbußen – widmen oder<br />
Dritte entgeltlich damit betrauen. Unerheblich ist dabei, auf<br />
welche Weise und aus welchen Gründen Eltern die erforderliche<br />
Betreuung im Einzelnen organisieren und welcher<br />
konkrete Aufwand ihnen entsteht. 27<br />
Die Minderung der steuerlichen Leistungsfähigkeit, die<br />
Eltern durch Kinder im Vergleich zu Kinderlosen erfahren,<br />
wird gegenwärtig pauschal durch Kinderfreibeträge (derzeit<br />
insgesamt 3.576 €, vgl. § 32 Abs. 6 Satz 1 EStG) oder Kindergeld<br />
(190 € für das erste und zweite Kind, 196 € für das<br />
dritte Kind, 221 € für jedes weitere Kind, vgl. § 66 Abs. 1<br />
Satz 1 EStG) berücksichtigt. Kinder unter 18 Jahren mindern<br />
uneingeschränkt die steuerliche Bemessungsgrundlage (Kinderfreibetrag)<br />
oder berechtigen zum Bezug von Kindergeld<br />
(§ 32 Abs. 3 EStG), volljährige Kinder nur unter besonderen<br />
Voraussetzungen (§ 32 Abs. 4 und 5 EStG). Kinder in Aus-<br />
21 Vgl. z.B. Bündnis 90/Die Grünen, BT-Drs. 16/1152.<br />
22 Vgl. z.B. SPD in: Das Wir entscheidet – Regierungsprogramm der SPD<br />
2013-2017, S. 50 f.<br />
23 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen<br />
Entwicklung in: Gegen eine rückwärtsgewandte Wirtschaftspolitik –<br />
Jahresgutachten 2013/14, Rn. 653: rd. 6 Mrd. € bei Begrenzung auf<br />
13.805 €; BT-Drs. 17/13044, S. 3: Mehrbelastungen i.H.v. 3,3 Mrd. €.<br />
24 So auch Sandweg, DStR 2015, 459, 461.<br />
25 Im Folgenden wird vereinfachend vom Kinderfreibetrag gesprochen,<br />
wenngleich §§ 31, 32 Abs. 6 EStG zwischen mehreren Freibeträgen<br />
differenziert, die zusammen das Kindesexistenzminimum ausmachen.<br />
26 Dazu Jachmann in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, Einkommensteuergesetz:<br />
Kommentar (Loseblatt), § 31 EStG Rn. A 1.<br />
27 BVerfG, Beschl. v. 10.11.1998 - 2 BvR 1057/91, 1226/91, 980/91 -<br />
BVerfGE 99, 216, 233.<br />
171
Die Monatszeitschrift<br />
bildung werden z. B. nach § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 Buchst. a<br />
EStG bis zur Vollendung des 25. Lebensjahrs im Rahmen des<br />
Familienleistungsausgleichs berücksichtigt; für den Fall, dass<br />
sie bereits eine erstmalige Berufsausbildung oder ein Erststudium<br />
abgeschlossen haben, gilt dies allerdings nur, sofern<br />
sie keiner 28 eigenen Erwerbstätigkeit nachgehen (§ 32 Abs. 4<br />
Satz 2 EStG). Verfassungsrechtlich (Art. 6 Abs. 2 GG) geboten<br />
ist die steuerliche Freistellung des Kindesbedarfs in Höhe<br />
des (sächlichen) Existenzminimums einschließlich eines aufwandsunabhängigen<br />
Erziehungs- und Betreuungsbedarfs<br />
der Kinder 29 - de lege lata abgedeckt durch den Kinderfreibetrag.<br />
Soweit das Kindergeld die verfassungsrechtlich gebotene<br />
steuerliche Entlastung durch den Kinderfreibetrag<br />
übersteigt, stellt es eine Sozialsubvention dar. Methodisch<br />
ist der Kinderfreibetrag dasselbe wie der Grundfreibetrag<br />
für die eigene Existenzsicherung. Art. 6 Abs. 2 GG weist den<br />
Eltern die Primärverantwortung für ihre Kinder und damit<br />
das Recht zu, ihr Erwerbseinkommen vorrangig vor der Mitfinanzierung<br />
der staatlichen Aufgabenerfüllung über Steuern<br />
für ihre Kinder zu verwenden.<br />
Die Bezifferung dieses Kindesexistenzminimums obliegt<br />
dem Steuergesetzgeber. Der Kinderfreibetrag muss abdecken,<br />
was der Staat als hinreichende Kindersorge monetär<br />
vorgibt. Das ist derzeit das sog. steuerliche Kindesexistenzminimum,<br />
einschließlich Betreuungs-, Erziehungs- und<br />
Ausbildungsfreibetrag. Unabhängig davon, wie es beziffert<br />
wird, gilt derselbe Betrag für alle Kinder. Wird aber derselbe<br />
Betrag von der Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer<br />
abgezogen, wirkt sich dies progressionsabhängig aus.<br />
Die Annahme, Steuerpflichtige mit hohem zu versteuernden<br />
Einkommen würden dadurch begünstigt, ist unlogisch. Sie<br />
verkennt die Struktur des progressiven Tarifs. 30 Ein proportionaler<br />
Steuersatz wäre transparenter und würde derartige<br />
Missverständnisse vermeiden.<br />
Anders als der Kinderfreibetrag ist das mit ihm derzeit verknüpfte<br />
Kindergeld eine soziale Förderung von Familien.<br />
Es begünstigt die, die wenig oder keine Steuern zahlen.<br />
Sein Standort im EStG ist freilich verfehlt. Der Nachteil des<br />
geltenden Systems ist seine Intransparenz. Die monatliche<br />
Auszahlung des Kindergeldes und dessen Verrechnung im<br />
Rahmen der Einkommensteuerveranlagung verschleiern<br />
die steuerliche Bedeutung des Kinderfreibetrags und die<br />
durch ihn verwirklichte Besteuerung der Eltern nach deren<br />
wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit.<br />
Wenn der Kinderfreibetrag/das Kindergeld das reale Kindesexistenzminimum<br />
nicht abdecken, wären sie anzuheben.<br />
Eine darüber hinausgehende Familienförderung wäre<br />
Aufgabe des Sozialstaates.<br />
Eine andere Frage ist, warum nicht die gesetzliche Unterhaltspflicht<br />
die Höhe des Kinderfreibetrags bestimmt. Die<br />
zivilrechtliche Unterhaltspflicht ist abhängig von der Höhe<br />
des Einkommens des Unterhaltspflichtigen, die Kinder teilen<br />
den Lebensstandard der Eltern. Anknüpfend hieran wäre<br />
die Höhe des Kinderfreibetrags einkommensabhängig –<br />
ein verfassungsrechtlich mögliches, politisch aber wohl<br />
nicht erwünschtes Ergebnis.<br />
Bei Geringverdienern können mangels einer Belastung mit<br />
Einkommensteuer auch keine Kinderfreibeträge abgezogen<br />
werden. Bei ihnen hat das Kindergeld vollständig die Wirkung<br />
einer sozialen Subvention. 31<br />
Wollte man über weiterreichende Reformalternativen zur<br />
geltenden Einkommensbesteuerung von Familien nachdenken,<br />
so wäre jedenfalls allen Ansätzen eine Absage zu erteilen,<br />
die den Familienleistungsausgleich in Form der Kinderfreibeträge<br />
– auch nur teilweise – durch kindesbezogene<br />
staatliche Leistungen ersetzen wollen. Während des BVerfG<br />
in der Vergangenheit reine Kindergeldlösungen noch als<br />
verfassungsgemäß ansah, 32 ist nach neuerer zutreffender<br />
Rechtsprechung 33 die kindesbedingte Minderung der steuerlichen<br />
Leistungsfähigkeit der Eltern im Steuerrecht realitätsgerecht<br />
abzubilden.<br />
Möglich wäre ein (Familien-)Realsplitting, 34 das die zwischen<br />
den Ehegatten existierende Erwerbs- und Verbrauchsgemeinschaft<br />
weiterhin im Rahmen einer hälftigen Aufteilung<br />
des Einkommens auf die Ehepartner – und damit<br />
analog zum Ehegattensplitting – berücksichtigt. Zusätzlich<br />
werden die bestehenden Unterhaltsverpflichtungen der Eltern<br />
gegenüber ihren Kindern vom gemeinsamen Einkommen<br />
der Ehegatten abgezogen und bei den Kindern als<br />
fiktives Einkommen steuerlich berücksichtigt; die steuerliche<br />
Bemessungsgrundlage der Kinder wird entsprechend der<br />
Kürzung bei den Eltern erhöht. Dadurch bildet das Familien-<br />
Realsplitting den Transfer steuerlicher Leistungsfähigkeit<br />
durch zwangsläufige Unterhaltsaufwendungen realitätsgerecht<br />
ab. 35 Soweit die abziehbaren Unterhaltsaufwendungen<br />
über das für die Bestreitung des existenziellen Bedarfs der<br />
28 Teilzeitbeschäftigungen (bis 20 Stunden pro Woche), Ausbildungsdienstverhältnisse<br />
und geringfügige Beschäftigungen i.S.v. §§ 8, 8a<br />
SGB IV sind unschädlich - § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG.<br />
29 BVerfG, Beschl. v. 10.11.1998 - 2 BvR 1057/91, 1226/91, 980/91 -<br />
BVerfGE 99, 216, 231 f.; BVerfG, Beschl. v. 10.11.1998 - 2 BvL 42/93 -<br />
BVerfGE 99, 246, 259 f.<br />
30 Hierzu instruktiv Englisch, DStJG 37 (2014), 159, 167.<br />
31 Vgl. Leibohm, Bedarfsorientierung als Prinzip des öffentlichen Finanzrechts,<br />
2011, S. 204.<br />
32 BVerfG, Beschl. v. 23.11.1976 - 1 BvR 150/75 - BVerfGE 43, 108, 121 f.<br />
33 BVerfG, Beschl. v. 29.05.1990 - 1 BvL 20/84, 26/84, 4/86 - BVerfGE 82,<br />
60, 85 ff.<br />
34 Vgl. dazu nur Lang in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 9 Rn.<br />
103 f.; das BVerfG hat dem Gesetzgeber die Einführung eines Familien-<br />
Realsplittings ausdrücklich freigestellt, s. BVerfG, Urt. v. 03.11.1982 - 1<br />
BvR 620/78, 1335/78, 1104/79, 363/80 - BVerfGE 61, 319, 355.<br />
35 Hey in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 8 Rn. 103.<br />
172
JM 4 APRIL<br />
2016<br />
unterhaltsberechtigten Familienangehörigen Notwendige<br />
hinausgingen, würde es sich dabei allerdings nicht um eine<br />
Konkretisierung des Prinzips der Besteuerung nach der individuellen<br />
wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, sondern um eine<br />
steuerliche Maßnahme zur Familienförderung handeln. 36 Die<br />
Kinder hätten die Unterhaltsleistungen der Eltern als eigene<br />
Einkünfte mit eigenem Grundfreibetrag zu versteuern – dies<br />
wäre im geltenden EStG insoweit nicht systemkonform, als<br />
es sich nicht um Erwerbseinkommen handelt. Um das (Familien-)Realsplitting<br />
praktikabel auszugestalten, wären die<br />
Unterhaltsverpflichtungen realitätsgerecht zu pauschalieren.<br />
Mit der Einführung eines (Familien-)Realsplittings ginge im<br />
Ergebnis ein erheblicher Verwaltungsmehraufwand einher;<br />
insbesondere würden neben den Eltern stets auch die Kinder<br />
veranlagt. Allerdings böte die Technik des Realsplittings u. U.<br />
die Möglichkeit, das (Familien-)Realsplitting auf ein Mehrgenerationenrealsplitting<br />
auszubauen.<br />
Zu weitaus geringfügigeren Änderungen des geltenden Familienleistungsausgleichs<br />
würde die Verlängerung der sog.<br />
Nullzone (Grundfreibetrag) um einen sog. Kindergrundfreibetrag<br />
führen. 37 Wie der Grundfreibetrag der Eltern<br />
bliebe der Kindergrundfreibetrag unversteuert. Das über<br />
die kumulierten Grundfreibeträge hinausgehende Einkommen<br />
würde beginnend mit dem Eingangssteuersatz (derzeit<br />
14 %) versteuert.<br />
Anders als ein (Familien-)Realsplitting wäre ein unbegrenztes<br />
Familien(divisoren)splitting, d. h. die Übertragung des<br />
Splittingvorteils und damit die Verteilung des Familieneinkommens<br />
gleichmäßig auf alle Familienmitglieder vor dem<br />
Hintergrund des geltenden Einkommensteuersystems, das<br />
die Einkommenserzielung besteuert, gleichheitsrechtlich<br />
problematisch; Eltern dürften nicht über die tatsächlich kindesbedingt<br />
geminderte Leistungsfähigkeit hinaus entlastet<br />
werden. Auch stellt die Familie, anders als die Ehe, keine<br />
ein Splitting rechtfertigende Erwerbsgemeinschaft dar, 38<br />
sondern lediglich eine auf Auflösung gerichtete Unterhaltsgemeinschaft<br />
bzw. Verbrauchsgemeinschaft. Diese betrifft<br />
im System der Ertragsteuern die Einkommensverwendung<br />
und rechtfertigt so nicht die Zurechnung von Einkommen<br />
zu einer Person, die dieses Erwerbseinkommen nicht erzielt<br />
hat. Einkommensverwendung ist unter der Kategorie der<br />
potenziellen Leistungsfähigkeitsminderung zu erfassen. 39<br />
Wollte man gleichwohl ein Familien(divisoren)splitting einführen,<br />
bedürfte es eines partiellen Systemwechsels. Das<br />
Familien(divisoren)splitting soll dabei dadurch gerechtfertigt<br />
werden, dass alle Familienmitglieder am Einkommen<br />
der Erwerbstätigen via gemeinsamem Verbrauch partizipieren.<br />
Systemtragend soll dem Verbrauch des von den Eltern<br />
Erwirtschafteten für die Familie der Vorrang zukommen vor<br />
der Verwendung für die Finanzierung der Allgemeinheit via<br />
Steuer, und dies nicht nur im Bereich des Existenzminimums,<br />
sondern jenseits dessen in dem Umfang, in dem der Progressionsnachteil<br />
der Eltern gegenüber einer gleichmäßigen<br />
Verteilung des Einkommens auf alle Familienmitglieder der<br />
Finanzierung allgemeinstaatlicher sozialer Belange dient. 40<br />
Soll dieser Ansatz „Familie vor Progression“ aber eine neue<br />
Systementscheidung tragen, muss er als eine leistungsfähigkeitsgerechte<br />
Besteuerung und nicht nur als eine familienmotivierte<br />
Steuersubvention angesehen werden können.<br />
Ausgangspunkt hierfür ist die durch den progressiven Tarif<br />
zum Ausdruck kommende Systementscheidung des Gesetzgebers,<br />
wonach ein höheres Einkommen und eine dadurch<br />
bedingte höhere Steuerpflicht einen Indikator für eine erhöhte<br />
soziale Verantwortung darstellen. 41 In diesem Rahmen<br />
postuliert ein Familen(divisoren)splitting eine insoweit<br />
reduzierte soziale Verantwortung der erwerbstätigen Eltern,<br />
als in der Verbrauchsgemeinschaft auch nicht erwerbstätige<br />
Familienmitglieder leben. Diese vorrangige Einkommensverwendung<br />
für die Familie wäre im Grundsatz durch das Subsidiaritätsprinzip<br />
i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG zu rechtfertigen.<br />
Der materiell rechtfertigende Grund für eine vollständige<br />
Progressionsentlastung aller Mitglieder einer familiären<br />
Verbrauchsgemeinschaft läge in ihrer Qualität als Verantwortungsgemeinschaft,<br />
42 vorgezeichnet durch Art. 6 GG,<br />
ausgeformt durch das Zivil- bzw. Familienrecht. 43<br />
36 Englisch, DStJG 37 (2014), S. 159, 198.<br />
37 FDP in: Beschl. des 60. ord. Bundesparteitags der FDP v. 15.-<br />
17.05.2009, S. 5 f.<br />
38 Siehe BVerfG, Urt. v. 03.11.1982 - 1 BvR 620/78, 1335/78, 1104/79,<br />
363/80 - BVerfGE 61, 319, 348. Anders als für die Ehe gibt es für die<br />
Familie keine eine solche Erwerbsgemeinschaft prägende eindeutige<br />
zivilrechtliche Grundlage. Vielmehr ist die Eltern-Kind-Beziehung zivilrechtlich<br />
primär durch Sorgerecht und Unterhaltspflicht der Eltern<br />
definiert (§§ 1626 ff., 1601 ff. BGB).<br />
39 D.h. sub specie objektives/subjektives Nettoprinzip.<br />
40 Vgl. auch Merkt, DStR 2009, 2221, 2222, 2226 und Seiler, Gutachten<br />
F für den 66. Deutschen Juristentag, 2006, S. F 45; Seiler, Grundzüge<br />
eines öffentlichen Familienrechts, 2008, S. 99.<br />
41 Jachmann, Nachhaltige Einwicklung und Steuern, 2003, S. 61 f.<br />
42 Vgl. dazu BVerfG, Beschl. v. 18.04.1989 - 2 BvR 1169/84 - BVerfGE 80,<br />
81, 92; BVerfG, Urt. v. 03.11.1982 - 1 BvR 620/78, 1335/78, 1104/79,<br />
363/80 - BVerfGE 61, 319, 364 f.; BVerfG, Beschl. v. 10.11.1998 -<br />
2 BvR 1057/91, 1226/91, 980/91 - BVerfGE 99, S. 216, 231. Seiler,<br />
Gutachten F für den 66. Deutschen Juristentag, 2006, S. F 37 (Familie<br />
als Verantwortungsgemeinschaft); Seiler, Verfassungs- und systemgerechte<br />
Besteuerung von Ehe und Familie, in: Ehegattensplitting und<br />
Familienpolitik, 2007, S. 7, 25; Seiler, Grundzüge eines öffentlichen<br />
Familienrechts, 2008, S. 15 f.; Seiler, FR 2010, 113, 117; Merkt, DStR<br />
2009, 2221, 2224.<br />
43 Die Familienmitglieder schulden sich als familiäre Verantwortungsgemeinschaft<br />
untereinander altersunabhängig gegenseitig Beistand<br />
und Rücksicht bzw. Unterhalt (§§ 1618a, 1601 ff., 1589 BGB). Zudem<br />
üben die Eltern das Sorgerecht über ihre minderjährigen Kinder aus<br />
(§§ 1626 ff. BGB) und bestimmen so über die Geschicke der Familie<br />
(familiäre Verantwortungswahrnehmung).<br />
173
Die Monatszeitschrift<br />
Freilich bleibt trotz einer möglichen Rechtfertigung des<br />
Familien(divisoren)splittings aus der freien Gestaltung des<br />
Familienzusammenlebens der schale Beigeschmack, dass<br />
die gleichmäßige Verantwortungsübernahme in der Familie<br />
jedenfalls teilweise Fiktion ist. 44 Bestimmen doch v. a. die<br />
Eltern als Verdiener über die Einkommensverwendung; für<br />
die reale Verantwortungsübernahme der Kinder bleibt wenig<br />
Raum. Bei einem Systemwechsel zum Familien(divisoren)<br />
splitting 45 wäre weiter zu bedenken, dass es in Reinform<br />
den Splittingeffekt für gut verdienende Familien mit jedem<br />
weiteren Kind verstärkt. 46 So kann es bei Familien mit höheren<br />
Einkommen schnell zu einer Überkompensation bestehender<br />
Unterhaltsansprüche und zu einer Verzerrung der<br />
wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Betroffenen führen.<br />
Denn die kindesbedingte Leistungsfähigkeitsminderung ist<br />
mit der Berücksichtigung der Unterhaltsverpflichtungen<br />
jedenfalls abgedeckt. Die Besserstellung von Familien mit<br />
höheren Einkommen ist auch nicht durch das Fördergebot<br />
des Art. 6 Abs. 1 GG gedeckt; dies rechtfertigt nur eine<br />
Besserstellung von Familien gegenüber Nicht-Familien. Zu<br />
bedenken ist andererseits, dass der Effekt eines Familiensplittings<br />
durch privatrechtliche Gestaltungen zwischen Familienangehörigen<br />
herbeigeführt werden kann, indem ein<br />
Teil der Einkünfte auf die Kinder übertragen wird (z.B. die<br />
Übertragung von Vermietungs objekt von den Eltern auf die<br />
Kinder); dies mag die genannte Ungleichbehandlung unter<br />
Umständen rechtfertigen.<br />
Jedenfalls wäre aus fiskalischen Gründen eine Begrenzung<br />
des Splittingvorteils 47 und daneben eine ergänzende allgemeine<br />
Familienförderung notwendig, was der Steuervereinfachung<br />
nicht dienen würde. Umsetzungsschwierigkeiten<br />
würden ggf. auch die Begrenzung des in das Familiensplitting<br />
einzubeziehenden Personenkreises sowie die Berechnung<br />
ergänzender Freibeträge für Betreuungs- und<br />
Erziehungsaufwand bereiten, wollte man solche für nötig<br />
erachten. 48<br />
Zu kritisieren ist das Nebeneinander von Kindergeld und<br />
steuerlichen Kinderfreibeträgen, durch die die Besteuerung<br />
der Eltern gerade nach ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit<br />
verschleiert wird. Im Interesse der Transparenz von<br />
Besteuerung und Sozialtransfers sollten am Bedarf der<br />
Familie orientierte staatliche Transferleistungen aus dem<br />
Steuerrecht entfernt und ins Sozialrecht integriert, v.a. aber<br />
im Steuerrecht nicht ausgedehnt werden. Kinder sollten bei<br />
der Einkommensteuer allein durch einen realitätsgerechten<br />
Kinderfreibetrag berücksichtigt werden. Das Kindergeld<br />
sollte davon getrennt im Sozialrecht geregelt werden. Der<br />
Höhe nach wäre es sachgerecht, Kinderfreibetrag und Kindergeld<br />
gleich hoch anzusetzen. Dabei sollte es nur eine Art<br />
der Sozialförderung von Kindern geben, d.h. das Kindergeld<br />
sollte alle Bestandteile des Kindesexistenzminimums umfassen.<br />
Als Reformalternativen für eine leistungsfähigkeitsgerechte<br />
Familienbesteuerung wäre das (Familien-)Realsplitting<br />
möglich, wogegen freilich der damit einhergehende<br />
administrative Mehraufwand spricht. Die Verlängerung der<br />
sog. Nullzone (Grundfreibetrag) um einen sog. Kindergrundfreibetrag<br />
erscheint dagegen durchaus erwägenswert. Mit<br />
der Einführung eines Familien(divisoren)splittings vollzöge<br />
der Gesetzgeber einen fragwürdigen Systemwechsel.<br />
Was die Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsleben<br />
betrifft, wäre ein Abzug erwerbsbedingter Kinderbetreuungskosten<br />
– Kosten einer Fremdbetreuung während der<br />
Arbeitszeit – in tatsächlicher Höhe als Betriebsausgaben/<br />
Werbungskosten zu empfehlen.<br />
Stets gilt es zu bedenken: Wird das Steuerrecht als Mittel<br />
der Familienpolitik eingesetzt, läuft dies seiner originären<br />
Zielsetzung zuwider, nämlich in möglichst transparenter<br />
Weise für die gleichmäßig nach einem einfachen System<br />
Besteuerten den Finanzbedarf des Staates zu decken.<br />
D. De lege ferenda<br />
Das Ehegattensplitting sollte beibehalten werden. Die<br />
Einbeziehung eingetragener Lebenspartnerschaften in das<br />
Splittingverfahren ist systemkonform. Eine Ausdehnung<br />
auf alle tatsächlichen Verantwortungsgemeinschaften ist<br />
dagegen schon aus Gründen der Rechtssicherheit nicht zu<br />
empfehlen. Eine Ausdehnung auf Eltern-Kind-Beziehungen<br />
widerspricht Struktur und Zielsetzung des Splittings,<br />
da es sich nicht um Erwerbsgemeinschaften handelt. Aus<br />
demselben Grund scheidet auch eine Einbeziehung Alleinerziehender<br />
aus. Deren Berücksichtigung durch den<br />
Entlastungsbetrag für Alleinerziehende (§ 24b EStG) erscheint<br />
adäquat.<br />
44 Vgl. Bareis, DStR 2010, 565, 573.<br />
45 Vgl. Jachmann, Familienbesteuerung kompakt, 2010, S. 17; Jachmann,<br />
FR 2010, 123, 124.<br />
46 Krit. Sacksofsky in: Ehegattensplitting und Familienpolitik, 2007,<br />
S. 348 f.; dafür aber Seiler in: Ehegattensplitting und Familienpolitik<br />
2007, S. 7, 23 ff., 29 f.; ebenso Merkt, DStR 2009, 2221, 2224 ff. Eine<br />
Erstreckung des Splittingvorteils auf Alleinerziehende mit Kindern ist<br />
nach der Rechtsprechung des BVerfG (BVerfG, Urt. v. 03.11.1982 -<br />
1 BvR 620/78, 1335/78, 1104/79, 363/80 - BVerfGE 61, 319, 348;<br />
verdeutlicht durch BVerfG, Beschl. v. 10.11.1998 - 2 BvR 1057/91,<br />
1226/91, 980/91 - BVerfGE 99, 216, 230) und des BFH (BFH, Beschl.<br />
v. 17.10.2012 - III B 68/12 - BFH/NV 2013, 362, 364) jedenfalls nicht<br />
geboten.<br />
47 In diesem Sinne BT-Drs. 14/23, S. 180.<br />
48 So Merkt, DStR 2009, 2221, 2225.<br />
174
BÜCHERSCHAU<br />
JM 4 APRIL<br />
2016<br />
Michael Stolleis, Margarethe und der<br />
Mönch – Rechtsgeschichte in Geschichten<br />
C.H.Beck, 2015, 352 Seiten mit 23 Abbildungen,<br />
gebunden, 24,95 €, ISBN 978-3-406-68209-4<br />
Michael Martinek<br />
Zugegeben: Ich habe diese Rezension aus einem bibliophilen<br />
Affekt heraus übernommen, denn ich kannte dieses<br />
Buches schon, hatte es zum Geburtstag bekommen, bewundern<br />
und lieben gelernt und wollte einfach das zusätzliche<br />
unentgeltliche „Rezensionsexemplar“ meinerseits zu<br />
Weihnachten verschenken. Ich bin von dem Buch begeistert.<br />
Es ist ein Meisterwerk des rechtswissenschaftlichen,<br />
genauer: rechtskulturgeschichtlichen Feuilletons.<br />
Der hochgeehrte Meister: Michael Stolleis, bis 2006 Professor<br />
für Öffentliches Recht und Neuere Rechtsgeschichte an<br />
der Goethe Universität Frankfurt am Main, bis 2009 Direktor<br />
am dortigen Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte,<br />
Leipniz-Preisträger, vielfacher Ehrendoktor, den<br />
meisten von uns vielleicht bekannt durch seine vierbändige<br />
Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland.<br />
Das bewundernswerte Werk: In zwanzig „rechtshistorischen<br />
Miniaturen“, jede etwa zehn, fünfzehn, gelegentlich auch<br />
zwanzig Seiten lang, präsentiert, besser: erzählt und erläutert<br />
Michael Stolleis „Rechtsgeschichte in Geschichten“. Er<br />
entfaltet kleine Studien über Personen und Ereignisse der<br />
Geschichte und der Literatur vom Spätmittelalter bis in die<br />
Gegenwart, und entfaltet in jeder dieser Studien rechtliche<br />
Betrachtungen und Hintergründe. Lustige und traurige Streitfälle,<br />
eigenartige und ungewöhnliche Prozessverläufe stehen<br />
im Mittelpunkt des aus Archiven und Akten oder aus wissenschaftlichen<br />
Literaturquellen geschöpften Stoffes. Nicht<br />
nur die unterhaltsame Nacherzählung, sondern vor allem<br />
die rechtshistorische Aussagekraft, Prototypik oder Charakteristik<br />
der Geschichten und die tief gelehrte Aufbereitung<br />
bieten ein höchst eindrucksvolles, ebenso vergnügliches wie<br />
lehrreiches Leseerlebnis. Nicht jede der Studien ist völlig neu;<br />
einige hatten schon als Festschrift- oder Zeitschriftenbeiträge<br />
eine Veröffentlichung erfahren. Alle Beiträge sind jedoch<br />
in gelungener Weise zu einem auch durch Abbildungen und<br />
Anmerkungen in Fußnoten (nicht am jeweiligen Seitenende<br />
unter dem Text, sondern erst zusammengefasst am Schluss<br />
des Buches) bereicherten Gesamtwerk zusammengefasst.<br />
Bekanntlich wählt Reinhard Zimmermann mit einigen Kollegen<br />
jährlich einige Werke als „juristische Bücher des Jahres“<br />
für seine „Leseempfehlung“ aus; es geht um Bücher, „deren<br />
Lektüre sich für jeden lohnt, der seinen Blick noch vom täglichen<br />
Getriebe seiner beruflichen Tätigkeit zu lösen vermag“<br />
(NJW 2015, 3013). Das Meisterwerk von Michael Stolleis<br />
wäre mein Kandidat.<br />
Hesselmann/Tillmann/Mueller-Thuns, Handbuch<br />
GmbH & Co. KG<br />
Herausgegeben von Malte Hesselmann/Bert Tillmann/<br />
Thomas Mueller-Thuns<br />
Dr. Otto Schmidt Verlag, 21. Aufl. 2016, 1.401 Seiten,<br />
Hardcover, 149,00 €, ISBN 978-3-504-32520-6<br />
Michael Martinek<br />
Sie haben richtig gelesen: 21. Auflage! Die Erstauflage<br />
stammte von 1959 und war von Malte Hesselmann unter<br />
dem Titel „Die GmbH & Co“ als broschiertes Büchlein in Alleinautorenschaft<br />
verfasst, dann aber Schritt für Schritt bis<br />
zur 16. Auflage 1980 zur „systematischen Darstellung in<br />
betriebswirtschaftlicher, handelsrechtlicher und steuerrechtlicher<br />
Sicht“ ausgebaut worden. Das Werk wurde sodann<br />
von Bert Tillmann fortgeführt und wird seit der 19. Auflage<br />
2005 von Thomas Mueller-Thuns herausgegeben, der auch<br />
einer von inzwischen vierzehn Mitautoren ist. Kurz: ein Standardwerk,<br />
übrigens ausschließlich von Praktikern (Rechtsanwälten,<br />
Steuerberatern, Wirtschaftsprüfern und Richtern)<br />
geschrieben – und es ist nicht übertrieben zu sagen, dass<br />
diesem vielzitierten Werk, vor allem seinem „Urvater“, ein<br />
wesentlicher, ja historischer Anteil daran zuzusprechen ist,<br />
dass sich die GmbH & Co KG zu dem gemausert hat, was sie<br />
heute ist: Sie hat in der Praxis längst das Profil einer herausragend<br />
wichtigen und eigenständigen Gesellschaftsrechtsform<br />
gewonnen, mag sie in der gesellschaftsrechtlichen<br />
Lehrbuch- und Kommentarliteratur auch oft noch stiefmütterlich<br />
behandelt und wegen des dogmatischen numerus<br />
clausus der Gesellschaftsrechtsformen als bloße Variante<br />
der KG und als Beispiel einer „Grundtypenvermischung“ zur<br />
Kombination der Vorteile einer Kapitalgesellschaft mit denen<br />
einer Personengesellschaft mitbehandelt werden.<br />
Das inzwischen wahrlich ausgereifte Handbuch präsentiert<br />
zur hellen Freude der Benutzer in der alltäglichen<br />
Gestaltungs- und Beratungspraxis systematische und<br />
themenorientierte Aufbereitungen aller Wissens- und Verständnisbestände<br />
zur GmbH § Co KG und ihren vielfältigen<br />
Ausgestaltungsformen. Es versteht sich, dass dabei<br />
die steuerrechtlichen Perspektiven stets gegenwärtig sind.<br />
Der Aufbau des Werks lehnt sich weithin an den „Lebenszyklus“<br />
einer GmbH & Co KG von der Gründung bis zur<br />
Liquidation (bzw. Insolvenz) an, ermöglicht aber dank der<br />
gliederungstechnischen Übersichtlichkeit leicht einen sachverhalts-<br />
oder problemgeleiteten Quereinstieg sowie eine<br />
vertiefte Verfolgung und Klärung von Einzelfragen, wozu<br />
auch die zahlreichen kautelarischen Gestaltungsvorschläge<br />
und Formulierungshilfen beitragen. Ein fast sechzigseitiger<br />
Anhang mit sechs Muster-Verträgen und ein absolut vorbildliches<br />
fünfzigseitiges Stichwortverzeichnis schließen<br />
das Werk ab. Chapeau!<br />
175
Die Monatszeitschrift<br />
DIE AUTOREN<br />
Dr. Hanno Gorius<br />
Richter am Landgericht<br />
Sebastian Belz, LL.M.<br />
Rechtsreferendar<br />
Dr. K.-Peter Horndasch<br />
Studium der Rechtswissenschaften in Saarbrücken<br />
(Dr. iur.) und Lausanne. Referendariat<br />
in Koblenz, Brüssel und Edinburgh. Seit<br />
2014 Richter in Kaiserslautern.<br />
Rechtsanwalt und Fachanwalt für<br />
Familienrecht sowie Notar<br />
Studium der Rechtswissenschaften an der<br />
Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.<br />
Studentische Hilfskraft am Institut für<br />
Umwelt- und Planungsrecht bei Prof. em. Dr.<br />
Hans D. Jarass, LL.M. (Harvard). Erste juristische<br />
Staatsprüfung 2013. LL.M.-Studium<br />
„International Law“ an der University of the<br />
West of England Bristol. Seit 2014 Rechtsreferendar am OLG Celle.<br />
Prof. Dr. Monika Jachmann-Michel<br />
Richterin am Bundesfinanzhof<br />
Studium und Promotion (Familienrecht) in<br />
Göttingen, Rechtsanwalt seit 1978, Notar<br />
seit 1980, Fachanwalt für Familienrecht<br />
seit 1997, Mediator seit 2002; Autor einiger<br />
Bücher und diverser Aufsätze in NJW, Fam-<br />
RZ, FuR etc. Mitherausgeber FuR-Familie<br />
und Recht, Referent für Familienrecht für einige Anbieter, Mitglied des<br />
Gesetzgebungsausschusses Familienrecht des DAV.<br />
Klaus Bepler<br />
Vorsitzender Richter am Bundesarbeitsgericht<br />
a.D.<br />
Klaus Bepler war von 1980 bis 2012 Richter<br />
in der Arbeitsgerichtsbarkeit, zuletzt seit Ende<br />
2004 als Vorsitzender des Vierten (Tarif-)Senats<br />
des Bundesarbeitsgerichts. Er ist Honorarprofessor<br />
für Arbeits- und Zivilprozessrecht der<br />
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Er ist dort in der Lehre sowie<br />
in der Fachanwaltsweiterbildung, als Mitherausgeber von Fachzeitschriften,<br />
Internetmedien und Fachbüchern und als Mitschlichter bei Caritas und Zentral-KODA<br />
tätig. Seine Publikationen behandeln u.a. Fragen des Tarifvertragsund<br />
Betriebsrentenrechts sowie des Kirchen- und des Sportarbeitsrechts.<br />
Ernst Hunsicker<br />
Diplom-Verwaltungswirt, Kriminaldirektor<br />
a.D.<br />
Studium für den höheren Polizeivollzugsdienst<br />
1981 an der Polizei-Führungsakademie<br />
Münster (jetzt: Deutsche Hochschule der<br />
Polizei). Danach Verwendung als Fachlehrer<br />
an Polizeischulen und in verschiedenen Führungsfunktionen.<br />
Von 1994 bis zu seiner<br />
Pensionierung (2004) war der Autor Leiter des Zentralen Kriminaldienstes<br />
(ZKD) bei der Polizeiinspektion Osnabrück-Stadt und zugleich stellvertretender<br />
Inspektionsleiter. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Kriminalitätsverfolgung<br />
und -verhütung, zum – auch kundenorientierten – Einsatz der<br />
Polizei sowie zum nicht nur polizeilich relevanten Recht (Schwerpunkt:<br />
Präventive Gewinnabschöpfung).<br />
Auf die Tätigkeit im Bayerischen Staatsministerium<br />
der Finanzen und Habilitation folgten<br />
eine Professur an der Universität Heidelberg<br />
sowie staats-und steuerrechtliche Lehrstühle<br />
an den Universitäten Jena und Hamburg.<br />
Seit 2005 Richterin am Bundesfinanzhof im<br />
VIII. und IX. Senat sowie Lehre an der LMU<br />
München. Derzeitiger Arbeitsschwerpunkt: Besteuerung der privaten<br />
Vermögensverwaltung.<br />
IMPRESSUM<br />
Herausgeber: Vors. Richter am BSG Prof. Dr. Thomas Voelzke, Kassel<br />
Richterin am BFH Prof.Dr. Monika Jachmann-Michel, München<br />
Vizepräsident des LG Holger Radke, Mannheim<br />
Prof. Dr. Stephan Weth, Universität des Saarlandes, Saarbrücken<br />
Rechtsanwalt Prof. Dr. Christian Winterhoff, Hamburg<br />
Expertengremium: Vors. Richter am BGH a.D. Wolfgang Ball, Lemberg<br />
Rechtsanwalt Prof. Dr. Guido Britz, Homburg<br />
Vizepräsident des LAG a.D. Dr. Heinz-Jürgen Kalb, Köln<br />
Richter am BVerwG Prof. Dr. Harald Dörig, Leipzig<br />
Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. mult. Michael Martinek, Universität des Saarlandes,<br />
Saarbrücken<br />
Weiterer aufsichtsführender Richter am AG a. D. Dr. Wolfram Viefhues, Oberhausen<br />
Redaktion: Rechtsanwalt Daniel Schumacher, stv. Ass. iur. Sebastian Butschkau<br />
Medieninhaber und Verlag: juris GmbH, Juristisches Informationssystem<br />
für die Bundesrepublik Deutschland, Gutenbergstraße 23, 66117 Saarbrücken,<br />
Tel.: 0681 5866-0, Fax: 0681 5866-239, E-Mail: jM@juris.de<br />
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Ministerialdirektor a.D. Gerrit Stein<br />
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lich geschützt. Das gilt auch für die Leitsätze der Gerichtsentscheidungen, soweit<br />
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September), sowie als Beilage zum Anwaltsblatt<br />
Bezugspreis: Im Jahresabonnement 180,- Euro zuzüglich Versandkosten incl.<br />
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Das Jahresabonnement verlängert sich um ein Jahr, wenn es nicht sechs Wochen<br />
vor Jahresende gekündigt wird.<br />
Bestellungen: Über jede Buchhandlung und beim Verlag<br />
Satz: Datagroup Int., Timisoara<br />
Druck: L.N. Schaffrath GmbH &Co.KG Druck Medien, Marktweg 42-50, 47608<br />
Geldern<br />
ISSN: 2197-5345<br />
176
NEUES VON juris<br />
JM 4 APRIL<br />
2016<br />
NEU: juris PraxisKommentar SGB IV<br />
Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung<br />
3. Auflage 2016 mit dem geänderten Meldeverfahren<br />
nach dem 5. SGB IV-ÄndG online<br />
• Beitragseinzug aller Sozialversicherungen<br />
• Meldepflichten des Arbeitsgebers und Übermittlungsverfahren<br />
• Träger der Sozialversicherung und Versicherungsbehörden<br />
Die 29 Autorinnen und Autoren sind erfahrene Praktiker,<br />
die sich als Richterinnen und Richter in der Sozialgerichtsbarkeit<br />
und als Experten bei den Sozialversicherungsträgern<br />
und den Hochschulen mit den<br />
Kernfragen des Rechtsgebiets beschäftigen.<br />
Folgende wichtige Gesetze und Verordnungen aus<br />
dem Jahr 2015 wurden berücksichtigt:<br />
• 5. Gesetz zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch<br />
(5. SGB IV-ÄndG) v. 15.04.2015 –<br />
BGBl. I 2015, 583 – „Neues Meldeverfahren“<br />
• 10. Zuständigkeitsanpassungsverordnung<br />
v. 31.08.2015 – BGBl. I 2015, 1474<br />
• Gesetz zur Bereinigung des Rechts der Lebenspartner<br />
v. 20.11.2015 – BGBl. I 2015, 2010<br />
Durch die zeitnahe und kontinuierliche Aktualisierung<br />
des Kommentars behalten Sie die Entwicklungen in<br />
Gesetzgebung, Rechtsprechung und Literatur auch<br />
künftig immer im Blick.<br />
Zahlreiche Links auf zitierte Entscheidungen, Normen<br />
und Literaturnachweise sparen Zeit bei der Recherche<br />
und garantieren Ihnen Rechtssicherheit.<br />
Weitere Informationen unter: www.juris.de/sgbiv<br />
Gesamtherausgeber: Schlegel/Voelzke<br />
Bandherausgeber: Prof. Dr. Rainer Schlegel<br />
An der Schnittstelle zwischen den Aufgaben der<br />
Sozialversicherungsträger und der praktischen Anwendung<br />
in den Betrieben sind die gemeinsamen<br />
Vorschriften des SGB IV von besonderer Bedeutung.<br />
Die Neuauflage des vielfach zitierten juris PraxisKommentars<br />
enthält das geänderte Meldeverfahren nach<br />
dem 5. SGB IV-ÄndG und berücksichtigt den aktuellen<br />
Rechtsstand bis Januar 2016.<br />
Orientiert an den Anforderungen der Praxis erläutern<br />
die Autorinnen und Autoren die für das Renten-, Kranken-,<br />
Unfall- und Pflegeversicherungs- sowie das Arbeitsförderungsrecht<br />
gleichsam geltenden Vorschriften.<br />
Im Mittelpunkt stehen folgende Themen:<br />
• Sozialversicherungspflicht, selbstständige Tätigkeit<br />
und geringfügige Beschäftigung<br />
• Arbeitsentgelt und sonstige Einkommen<br />
juris Webinare<br />
Um an unseren unverbindlichen und kostenlosen juris<br />
Webinaren teilzunehmen, benötigen Sie einen Internetanschluss,<br />
einen installierten Flash-Player und<br />
einen Computer mit Lautsprechern, Kopfhörern oder<br />
Headset. Infos zum Ablauf und zur Anmeldung unter:<br />
www.juris.de/webinare<br />
Basis I Einführung in die juris Recherche<br />
06.04.2016, 14:00 – 15:00 Uhr<br />
27.04.2016, 11:00 – 12:00 Uhr<br />
18.05.2016, 11:00 – 12:00 Uhr<br />
Basis II Personalisierungsfunktionen<br />
20.04.2016, 14:00 – 15:00 Uhr<br />
25.05.2016, 11:00 – 12:00 Uhr<br />
XV
Die Monatszeitschrift<br />
NEUES VON juris<br />
Fortgeschrittenen-Webinar<br />
14.04.2016, 14:00 – 15:00 Uhr<br />
12.05.2016, 10:00 – 11:00 Uhr<br />
Normen-Webinar<br />
21.04.2016, 10:00 – 11:00 Uhr<br />
19.05.2016, 14:00 – 15:00 Uhr<br />
Veranstaltungen<br />
Treffen Sie uns vor Ort auf den führenden deutschen<br />
Fachmessen. Aktuelle Termine finden Sie online unter:<br />
www.juris.de/veranstaltungen<br />
Informationsforum Frankfurt<br />
13.04.2016<br />
Informationsforum Kiel<br />
27.04.2016<br />
Informationsforum Schwerin<br />
11.05.2016<br />
Informationsforum Hamburg<br />
08.06.2016<br />
DAV Anwaltforum, Frankfurt (LAT Frankfurt)<br />
08.04.2016<br />
Informationsforum Köln<br />
15.06.2016<br />
Landesverbandstag NRW, Köln (LAT NRW)<br />
15.04.2016<br />
Informationsforum Berlin<br />
22.06.2016<br />
LAT Sachsen<br />
20. – 23.04.2016<br />
BDA Geschäftsführerkonferenz, Koblenz<br />
17. – 18.05.2016<br />
Informationsforen<br />
Wir veranstalten regelmäßig Informationsforen in ganz<br />
Deutschland. Vor Ort führen wir Sie in unsere Datenbank-Recherche<br />
ein und zeigen Ihnen Tipps und Tricks<br />
zur schnelleren Suche. Aktuelle Termine finden Sie auch<br />
immer online unter: www.juris.de/veranstaltungen<br />
Einbanddecke 2014/2015 für juris – Die Monatszeitschrift<br />
Ab Januar 2016 können für die monatlich erscheinende<br />
Fachzeitschrift jM auch Einbanddecken über unseren<br />
jurisAllianz-Partner Verlagsgruppe Hüthig Jehle<br />
Rehm bestellt werden. Der Preis der Einbanddecke<br />
(Ausl.-Nr.: HR193320) für die 22 Hefte der Jahrgänge<br />
2014/2015 inkl. Jahresverzeichnis beträgt 15 € inkl.<br />
MwSt.<br />
Kontaktdaten:<br />
• per Telefon: 089 / 2183 7928<br />
• per E-Mail: kundenservice@hjr-verlag.de<br />
XVI
juris PartnerModul<br />
Miet- und<br />
Wohnungseigentumsrechtentumsrecht<br />
partnered by C.F. Müller | De Gruyter | Dr. Otto Schmidt | Erich Schmidt Verlag<br />
Das Online-Modul beinhaltet führende Literatur aus vier Verlagshäusern zu den Rechtsbereichen Miete<br />
und Wohnungseigentum und liefert für jede Rechtsfrage eine Lösung.<br />
Alle Werke sind für die Online-Nutzung in der bewährten juris Qualität aufbereitet.<br />
Dank der professionellen Verlinkung mit der juris Rechtsprechung, dem<br />
juris Bundesrecht und den verlagsunabhängigen juris Literaturnachweisen<br />
recherchieren Sie effektiv und komfortabel – von A wie Abgeltungsklausel über<br />
Abrechnung, außerordentliche Kündigung, Betriebskosten, Gebrauchsgewähr,<br />
Gewährleistung, Kündigungsschutz, Mietsicherung, Mieterhöhung, Mietprozess,<br />
Schönheitsreparatur, Vertragsgestaltung bis Z wie Zwangsvollstreckung und<br />
Zwischenmiete.<br />
Inhalt<br />
Aktuelles Gewerberaummietrecht, Burbulla<br />
Handbuch für Wohnungseigentümer und Verwalter, Röll/Sauren<br />
Miete, Emmerich/Sonnenschein<br />
Mietrecht aktuell, Sternel<br />
Mietrecht, Lützenkirchen<br />
Miet-Rechts-Berater, mietrb<br />
WEG, Jennißen<br />
WEG, Spielbauer/Then<br />
Wohnungseigentum, Becker/Kümmel/Ott<br />
Wohnungswirtschaft und Mietrecht, WuM<br />
und viele weitere Titel<br />
+ Rechtsprechung, Gesetze und Literaturnachweise von juris<br />
Mehr Informationen unter: www.juris.de/weg
Schlegel Voelzke Engelmann<br />
juris PraxisKommentar SGB V<br />
Neu: 3. Auflage<br />
Jetzt neu mit SGB V-Novellen!<br />
Die Neuauflage kommentiert die wichtigen Gesetzesnovellen, die das SGB V<br />
in 2015 und 2016 prägen. Neben dem GKV-VSG und dem PräVG werden die<br />
Reformen durch das Krankenhausstrukturgesetz (KHSG) und die Verbesserungen<br />
bei der Hospiz- und Palliativversorgung (HPG) berücksichtigt. Der mit der juris<br />
Datenbank verlinkte Online-Kommentar wird ständig aktualisiert.<br />
www.juris.de/sgbv