Barftgaans Oktober/November 2016
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Feuilleton<br />
LEBENSREISEN<br />
Vier sehr unterschiedliche Bücher über gelebte Jahre<br />
„Menschen auf der Flucht verlassen viel, meist zu viel. Manche<br />
von ihnen sind für immer entwurzelt, … werden niemals<br />
mehr den unvergessenen und sie so betörenden Duft<br />
ihrer verlorenen Heimat riechen.“ Schon für diesen einen<br />
Satz muss man das Buch „Und von Tanger fahren die Boote<br />
nach irgendwo“ lesen. Und lieben. Es ist die<br />
zweite Publikation von Jalid Sehouli, Sohn<br />
marokkanischer Auswanderer. Sein Vater<br />
Abdullah floh aus politischen Gründen – zunächst<br />
die Familie zurücklassend – durch Europas<br />
Süden, ehe er, ohne ein Wort Deutsch<br />
zu sprechen, jedoch voller Tatkraft und Optimismus,<br />
in Berlin (West) landete. Er lernte<br />
schnell, fand Arbeit und holte unverzüglich<br />
seine Frau Zohra mit den beiden Kindern Mohamed<br />
und Latifa nach. Jalid wurde dann im<br />
bewegten Jahr 1968 geboren und ist heute<br />
neben seinem Schriftstellertum ein weltweit<br />
anerkannter Krebsspezialist an der Charité.<br />
Vielleicht verarbeitet der Arzt mit dem<br />
Schreiben und unserer Teilhabe an seinem<br />
Leben seine Zwitterstellung zwischen den<br />
Kulturen. Seine Texte sind kunstvolle Arabesken,<br />
ein Hohelied auf das Land, in dem<br />
seine Wurzeln liegen, vor allem aber auf Tanger,<br />
um das sich Legenden ranken. Sehoulis<br />
Geschichten, das Buch setzt sich zusammen<br />
wie ein Flickenteppich und ergibt am Ende<br />
doch ein ganzes Bild, sind aufrichtig und<br />
schmerzlich, voller Sehnsucht und rühren<br />
an. Wie dieser Junge den Aufstieg schaffte<br />
vom mäßigen Schüler, der vom Gymnasium<br />
zurück auf die Realschule verwiesen wurde,<br />
wie er diese Degradierung empfand und<br />
dennoch nicht aufgab, wie er mit Gewissheit<br />
und einer alle Demütigung verdrängenden<br />
Einstellung Hürden nahm und dort ankam,<br />
wo er heute steht – das ist eine wunderbare<br />
Selbstfindungsgeschichte und ein Entwicklungsroman,<br />
wie wir ihn uns für die Realität<br />
– gerade die der Gegenwart <strong>2016</strong> – noch<br />
zahlreicher wünschten. Und wer den Duft eines<br />
arabischen Basars in der Nase hat, wird<br />
noch besser verstehen, was den Menschen,<br />
die bei uns Schutz suchen, am allermeisten<br />
fehlen wird. Weil Heimweh ein nagender<br />
Kummer bleibt.<br />
Ganz anderes Leben beschreiben die beiden<br />
Bücher „Ein untadeliger Mann“ und „Eine<br />
treue Frau“ von Jane Gardam, dem neuen<br />
Stern auf dem britischen Literaturmarkt, der<br />
allerdings schon 88 Jahre leuchtet. Gardam<br />
ist keine Rosamunde Pilcher, die Autorin beherrscht<br />
die feine Ironie, den subtilen englischen<br />
Humor und erzählt mit einer großen<br />
Zuneigung zu ihren Personen. Man sollte<br />
die zwei Bücher in der Reihenfolge lesen:<br />
Edward Feathers ist ein in Ehren ergrauter Richter, der in<br />
Malaysia geboren und nach Großbritannien zu Pflegeeltern<br />
geschickt wurde, nicht viel Liebe erfuhr, aber eine berufliche<br />
Karriere machte, die ihm allgemeine Achtung eintrug. Seine<br />
Frau Betty stand ihm zur Seite – in guten wie in schlechten<br />
Tagen, so heißt es ja – und führte dennoch ihr eigenes Leben.<br />
Nun resümieren beide. Betty ist eigentlich schon tot<br />
(der Auslöser für das Nachdenken), aber beide tasten sich<br />
vor, nein eigentlich rückwärts, durch gelebtes<br />
Leben und suchen eine Bilanz.<br />
Gardam breitet ihre Geschichten souverän<br />
aus und bringt die Zeit der Handlung zum<br />
Leuchten. Es geht um Selbstbefragung,<br />
Zweifel, Erschütterung. Darum, wieviel Eheleute<br />
eigentlich nicht voneinander wissen;<br />
auch nach einem langen Leben nicht. Mit<br />
pointierter Sprache und präziser Intelligenz<br />
erstehen vor unserem Leserauge zwei Menschen,<br />
die nach Jahrzehnten zu messende<br />
gemeinsame Jahre hinter sich haben – obwohl<br />
sie sich nicht immer und in allen Punkten<br />
verstanden oder einig waren. Aber wem<br />
ginge das nicht genauso?!<br />
Das vierte Buch macht mit einem meiner<br />
Lieblingsschauspieler bekannt. „Schöne Vorstellung<br />
– Eine Autobiografie in Gesprächen“<br />
ist eine Selbstauskunft von Dieter Mann, ein<br />
Leben lang (1964 bis 2006) Ensemblemitglied<br />
des Deutschen Theaters Berlin, von<br />
1984 bis 1991, in unruhigen Zeiten, dessen<br />
Intendant. Diese Publikation macht genauso<br />
nachdenklich wie ein Satz in einem Nachruf<br />
auf Hermann Kant, der im August verstarb.<br />
Dort stand zu lesen: „Er war Elektriker und<br />
wäre es auch geblieben.“ Dieter Mann war<br />
Arbeiterkind, hatte Dreher gelernt und –<br />
wäre es auch geblieben. Ohne die DDR und<br />
die Arbeiter- und Bauern-Fakultäten, die<br />
nach dem Krieg allen bis dahin Benachteiligten<br />
in Sachen Bildung endlich die Chance<br />
zum Lernen gaben. Wenn Dieter Mann<br />
bekennt, er habe sich manchmal unbehaglich<br />
gefühlt und vielleicht auch geschämt,<br />
wie wenig er gelesen hatte, während seine<br />
Kommilitonen mit einer Bibliothek zu Hause<br />
aufwuchsen, dann kann das nur nachempfinden,<br />
der es genauso erlebte! Der Schauspieler<br />
ist ehrlich, er langweilt den Leser nicht<br />
mit weitschweifigen Pretiosen. Er erzählt<br />
selbstironisch und voller Leichtigkeit, über<br />
Erfolge und Misserfolge, Ehrgeiz und die Begegnungen<br />
mit großen Kollegen. Der Mime,<br />
der im Juni 75 Jahre alt wurde, ist verletzbar<br />
geblieben. Irgendwann, so berichtet er, würden<br />
auf jeder Feier die Gespräche leiser, und<br />
man wäre unter den Freunden nicht glücklicher,<br />
nur weil es einem selber gut geht …<br />
Es ist ein großartiges Buch über einen begnadeten<br />
Schauspieler, der so mancher Versuchung<br />
widerstand, weil er nie vergaß, woher<br />
er kam. Der eine Seite lang Antworten hat auf die Frage,<br />
warum er nicht in den Westen ging; die schönste: „Ich habe<br />
unbeschwert gelebt.“ <br />
[Barbara Kaiser]<br />
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