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Fritz Wrede und der Drehorgelbau in Hannover

Fritz Wrede und der Drehorgelbau in Hannover von Peter G. Schuhknecht

Fritz Wrede und der Drehorgelbau in Hannover von Peter G. Schuhknecht

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Der Leierkasten lieferte diese Musik auch zu den armen Leuten, die die<br />

Operetten nicht besuchen konnten. Der Berl<strong>in</strong>er Dichter He<strong>in</strong>rich Seidel,<br />

Erbauer <strong>der</strong> Halle des Anhalter Bahnhofs, hat e<strong>in</strong> Gedicht mit “Musik <strong>der</strong><br />

armen Leute“ überschrieben. Es beg<strong>in</strong>nt mit:<br />

“Der Musikprofessor spricht:<br />

Die Drehorgeln, die dulde man ni“<br />

Es br<strong>in</strong>gt zum Ausdruck, wie die ausübenden Musiker zum Volks<strong>in</strong>strument von<br />

damals standen. Sie nannten den Leierkasten e<strong>in</strong> “barbarisches“ Instrument<br />

<strong>und</strong> glaubten, daß auch die Franzosen bei se<strong>in</strong>er Namensgebung “Orgue de<br />

Barbarie“ das zum Ausdruck br<strong>in</strong>gen llten. Zu se<strong>in</strong>er Ehrenrettung muß<br />

gesagt werden, daß die Experten diese Bezeichnung auf den ersten bekannt<br />

gewordenen <strong>Drehorgelbau</strong>er Giovanni Barberi zurückführen. Er lebte um 1 7(X).<br />

Es gibt noch viele an<strong>der</strong>e Deutungen <strong>der</strong> Herkunft dieses Namens. E<strong>in</strong>e nehmen<br />

wir gerne zur Kenntnis, wnach es e<strong>in</strong>e Orgel aus <strong>der</strong> Barbarei, nämlich<br />

aus Deutschland se<strong>in</strong> sollte. Wahre Kunstwerke von mit Fe<strong>der</strong>werk angetriebenen<br />

mechanischen Kle<strong>in</strong>orgelwerken, <strong>in</strong> Augsburg um 16(X) entstanden, lassen es<br />

nicht ausgeschlossen ersche<strong>in</strong>en, daß die Drehorgel <strong>in</strong> Deutschland entstanden<br />

ist.<br />

Der schlechte Ruf des Leierkastens ist verständlich. Weitgehend aus Holz<br />

gefertigt, wurden die Kästen von den fahrenden Musikanten bei W<strong>in</strong>d <strong>und</strong><br />

Wetter von Ort zu Ort geschleppt <strong>und</strong> waren dann wohl kaum irrrer <strong>in</strong><br />

“Stirria<strong>in</strong>g“. Die deutsche Namensgebung hat sicher etwas mit <strong>der</strong> Drehleier<br />

zu tun; jenes Instrument, e<strong>in</strong>e Art Geige, mit <strong>der</strong> die fahrenden Musikanten<br />

im Mittelalter von Burg zu Burg zogen. Mit e<strong>in</strong>er von <strong>der</strong> rechten Hand<br />

gedrehten Kurbel wurden von e<strong>in</strong>em Reibrad die Saiten von unten <strong>in</strong><br />

Schw<strong>in</strong>gung versetzt. Mit den F<strong>in</strong>gern <strong>der</strong> l<strong>in</strong>ken Hand wurden die Tasten<br />

des Griffbrettes betätigt, die Ivlodie gespielt. Da lag es nahe, mit<br />

e<strong>in</strong>er “geleierten“ Kle<strong>in</strong>orgel durch die Lande zu ziehen. Für die “Luft“<br />

mußte man sowieso über das Drehen e<strong>in</strong>en Balg bewegen. Warum nicht dann<br />

auch noch statt über Tasten von e<strong>in</strong>er mitgedrehten Stiftwalze mit den<br />

Stiften die Orgelventile im Rhytmus <strong>der</strong> vorprogrammierten Ilodie öffnen.<br />

Von den Glockenspielen war sie ja bereits bekannt. Mit fortschreiten<strong>der</strong><br />

Technik wandelte sich <strong>der</strong> Leierkasten - erlauben Sie mir diese Differen<br />

zierung - zur Drehorgel.<br />

Den Bedarf konnten nur noch große Fabriken befriedigen - mit Dampfbetrieb,<br />

wie es <strong>in</strong> vielen Anzeigen stand. Das Lochband, die Notenrolle, erlaubte<br />

längere Musikprogramme. Auch die Oper eroberte sich die Drehorgel.<br />

Der Weg führte zum Orchestrion, das ganze Orchester ersetzte, <strong>in</strong> den<br />

Tanzsälen aufspielte <strong>und</strong> beson<strong>der</strong>s attraktiv <strong>der</strong> Kirmes ihr Gesicht <strong>und</strong><br />

ihren “so<strong>und</strong>“ gab. Das Qrgelwerk war dann nur noch e<strong>in</strong> Teil <strong>der</strong> selbst<br />

spielnden Instrumente, trotzdem blieb <strong>der</strong> Name “Kirmesorgel“ für dieses<br />

Orchestrion erhalten.<br />

Und wie<strong>der</strong> ist es Nostalgie, die uns vor diesen großen Kirnesorgeln stehen<br />

läßt, die wir hier <strong>in</strong> <strong>Hannover</strong> Jahr für Jahr <strong>in</strong> <strong>der</strong> Stadt sehen <strong>und</strong> hören<br />

können. Sie lösen Heimweh bei uns aus, Heimweh nach den Jahrmärkten, auf<br />

denen sie erklangen, sich gegenseitig übertönend, die Besucher zu ihrer<br />

Attraktion, <strong>der</strong> Achterbahn, <strong>der</strong> Geisterbahn, dem Kettenkarussell lockend.<br />

Jede für sich bestaunt, doch alle zusanman die Syrrhonie <strong>der</strong> Kirmes<br />

spielend. E<strong>in</strong>e eigene Symphonie, die nur im Freien, auf dem großen Platz,<br />

sozusagen <strong>in</strong> Quadrophonie, ne<strong>in</strong> <strong>in</strong> Multiphonie von uns gehört wurde.<br />

Ke<strong>in</strong>eswegs “e<strong>in</strong>e grauenvolle Katzenmusik, wie sie erzielt wird, wenn<br />

sämtliche Leiermänner Berl<strong>in</strong>s <strong>in</strong> den Circus gesperrt werden <strong>und</strong> je<strong>der</strong><br />

e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Walze dreht“. So die Erstaufführung von Richard Wagners<br />

isters<strong>in</strong>ger von e<strong>in</strong>em Kritiker anläßlich <strong>der</strong> Erstaufführung <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong><br />

beschrieben. Vielleicht hätte <strong>der</strong> über die Kirmes auch so geschrieben,<br />

wenn er als Erwachsener sie erstmalig erlebt hätte. Wer von uns Alten<br />

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