MEDIAkompakt 21: Schicksal vs. Zufall
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AUS DEM LEBEN<br />
mediakompakt<br />
Multiple Sklerose –<br />
<strong>Schicksal</strong>sjahre einer Krankheit<br />
Immer häufiger liest man von der Krankheit Multiple Sklerose. Aber was ist das für eine<br />
Krankheit und wie geht man mit ihr um?<br />
VON PETER STUHR<br />
Mein Bruder und ich spielten auf dem<br />
Spielplatz und warteten darauf, dass<br />
unsere Mutter uns abholt. Sie kam<br />
in Begleitung von einem befreun -<br />
deten Pastor zu uns und sie unter -<br />
hielten sich über die Krankheit Multiple Sklerose<br />
und dass es Selbsthilfegruppen gäbe und dass das<br />
Leben weitergehe. Uns wurde erzählt, dass Papa an<br />
MS leidet und man es zum Glück diagnostizieren<br />
konnte, denn man kann gegen die Krankheit<br />
Medikamente nehmen und auch damit leben.<br />
Wir hatten damals keine Vorstellung von<br />
dieser Krankheit und wussten nicht was eigentlich<br />
los war und was es bedeutet, die Diagnose MS zu<br />
bekommen. Wir fuhren mit unserer Mutter im<br />
Auto nach Hause. Papa war schon mit dem<br />
Fahrrad vorgefahren und wir hatten ihn seit der<br />
Diagnose noch nicht wieder gesehen. Als wir<br />
zuhause ankamen, saß mein Vater auf der Bank<br />
vor dem Haus, mit einem Bier in der Hand und<br />
gedankenversunken ins Leere schauend. In der<br />
Familie von meinem Vater gab es schon einmal<br />
einen Onkel, der die Diagnose MS bekommen hat.<br />
Vor ca. 70 Jahren, ein Tischler. Noch in derselben<br />
Woche hat er sich erhängt.<br />
Wie reagiert man, wenn man von so einem<br />
<strong>Schicksal</strong>sschlag erfährt und die einzige Erfahrung<br />
mit der Krankheit in einem Selbstmord geendet<br />
ist? Mein Vater hat sein Leben umgekrempelt. Er<br />
hat mit dem Rauchen aufgehört, angefangen<br />
regelmäßig Sport zu betreiben und sich über<br />
Multiple Sklerose informiert. Eine Nerven krank -<br />
heit, die im ersten Moment nicht sichtbar ist, aber<br />
sichtbar wird, wenn man weiß worauf man achten<br />
muss. Die Krankheit ist nicht heilbar, kann jedoch<br />
mit Hilfe von Medikamenten und anderen<br />
Maßnahmen, wie zum Beispiel Therapien, günstig<br />
beeinflusst werden. Die Krankheit befällt das zen -<br />
trale Nervensystem und kann die verschiedensten<br />
Symptome hervorrufen. Sie kann zum Beispiel<br />
Muskelschwäche oder Lähmungen, eine Mind -<br />
erung der Sehschärfe, eine krampfhafte Erhöhung<br />
der Muskelspannung, sowie Gefühlsstörungen<br />
oder Missempfindungen hervorrufen. Der Krank -<br />
heitsverlauf ist nicht vorhersehbar und verläuft<br />
häufig schubweise. Das bedeutet, dass es zu einem<br />
bestimmten Zeitpunkt massive Beeinträchtigun -<br />
gen geben kann. Diese Beeinträchtigungen kön -<br />
nen aber wieder im Laufe der Zeit oder Therapien<br />
ver schwinden. Manchmal vollständig, manchmal<br />
aber nur teilweise.<br />
Aber nicht nur an der Krankheit leidet der<br />
MS-Patient, auch die Behandlung mit Medika -<br />
menten ist noch nicht sehr weit erforscht und es<br />
gibt viele Varianten an MS, sodass es auch hier zu<br />
Problemen kommen kann. Mit der Zeit lernt man<br />
mit der Krankheit zu leben, als einzelne Person,<br />
aber auch als Familie, auch wenn es nicht immer<br />
ganz einfach ist. Wie lange mein Vater die<br />
Krankheit wirklich hat lässt sich nicht feststellen,<br />
aber sie wurde vor ca. 15 Jahren diagnostiziert.<br />
Seitdem kommt es immer wieder zu kleineren<br />
Schüben, aber die MS-Variante an der mein Vater<br />
leidet, ist zum Glück noch eine der harmloseren<br />
Formen von MS. Die Nervenkrankheit wirkt sich<br />
überwiegend auf die Hände und Füße aus. So<br />
kommt vor, dass er Gegenstände fallen lässt und<br />
oftmals Taubheitsgefühle in Hän den und Füßen<br />
hat. Gerade beim Essen kann es sehr nervig sein,<br />
wenn die Gabel aus keinem ersicht lichen Grund<br />
aus der Hand fällt und sicherlich ist auch schon<br />
die eine oder andere Tasse zersprung en.<br />
Bild: Peter Stuhr<br />
Aber im Großen und Ganzen ist der Alltag mit<br />
einigen Einschränkungen durchaus machbar. Al -<br />
lerdings gibt es noch weitere Probleme, wie zum<br />
Beispiel mit dem Gleichgewicht. So fällt es ihm<br />
schwer, beim Sport Dehnübungen auf einem Bein<br />
zu machen und das Motorrad fahren musste er<br />
auch aufgeben. Das Gleichgewichtsproblem lässt<br />
sich aber trainieren und durch Sport und häufiges<br />
Fahrrad fahren ist es auch zu bewältigen.<br />
Von allen Formen der MS haben wir wohl<br />
noch am meisten Glück gehabt, aber zu Beginn<br />
überwiegt die Ungewissheit wie stark die MS<br />
wirklich ist und welche Formen sie annehmen<br />
kann und wird.<br />
In letzter Zeit leidet aber die Ausdauer. So ist er<br />
zu erschöpft um wirklich Sport zu treiben und nur<br />
ein kleiner Spaziergang fällt ihm schon unheim -<br />
lich schwer. Aber auch das wird sich wieder legen.<br />
Mit etwas Disziplin und Training kommt auch das<br />
wieder zurück und ich kann wieder mit meinem<br />
Vater eine ruhige Joggingtour starten.