tassilo - Sep./Okt. 2016
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Die Ritter des Reyches Wilhaim stehen Spalier und heißen die einreitenden<br />
Gäste mit Holzschwert-Geklapper willkommen.<br />
„Schlaraffen-Spiegel und Ceremoniale“<br />
ist zu lesen: „Schlaraffia<br />
ist die innige Gemeinschaft von<br />
Männern, die in gleichgesinntem<br />
Streben die Pflege der Kunst und<br />
des Humors unter gewissenhafter<br />
Beachtung eines gebotenen<br />
Ceremonials bezweckt und deren<br />
Hauptgrundsatz die Hochhaltung<br />
der Freundschaft ist.“ In den<br />
Worten eines Weilheimer Sassen:<br />
„Schlaraffia wurde von Menschen<br />
gegründet, die sich nicht gleichmachen<br />
wollen mit der profanen<br />
Arroganz eines Stammtisches.“<br />
In der Tassiloburg stimmt der<br />
Zinkenmeister das Abendlied an.<br />
Dutzende Baritone und Bässe<br />
stimmen ein. Wer nicht textsicher<br />
ist, etwa Gäste, greift zum Buch<br />
„Der Schlaraffia Lieder“. Als der<br />
letzte Laut verklingt, ruft Cannes:<br />
„Schlaraffen hört!“ So ist jeder<br />
Beitrag anzukündigen. Ein Fanfarenchor,<br />
seit kurzem im Reych<br />
Wilhaim formiert, bläst nicht ganz<br />
notentreu, aber nach Leibeskräften<br />
zum Gruße.<br />
Dann erheben sich die Ritter,<br />
schreiten zur mit Wappen geschmückten<br />
Wand unter dem<br />
hölzernen, ein halbes Jahrhundert<br />
alten Tonnengewölbe, ziehen<br />
Holzschwerter aus einer Halterung<br />
und formieren sich in der Saalmitte<br />
zum Spalier: Unter den hochgereckten<br />
Waffen schreiten (nein,<br />
reiten!) die Sassen anderer Reyche<br />
ein: aus „Cambodunum“, vom „Tegrinsee“,<br />
aus Würzburg, Bayreuth,<br />
Weiden. Schlaraffenland ist überall.<br />
Gäste kommen von überall. Bei<br />
jeder Sippung.<br />
„Das Reych werde sesshaft —<br />
Freunde, nehmt Platz und Anteil“,<br />
bittet Cannes. Ceremonienmeister,<br />
Reychsmedicus, Hofnarr, Säckelmeister,<br />
alle Ritter, Junker und<br />
Knappen setzen sich an die Holztafeln,<br />
greifen zur Speisekarte,<br />
um „Atzung und Labung“ zu wählen:<br />
Tatar- und Schmalzbrote, Bier,<br />
Wein. Im folgenden „ambtlichen<br />
Teil“ wird das Protokoll der letzten<br />
Sippung verlesen und mit dreifachem<br />
„Lulu!“ angenommen. Dagegen<br />
befindet „Ritter Maibaum der<br />
Unübersetzbare“, dass „Ritter von<br />
und zu kurz“ mit seinem anschließenden<br />
„nichtambtlichen Protokoll<br />
nicht annährend die Wahrheit erreicht“<br />
habe. „Lulu, lulu, lulu!“ Und<br />
Ritter Cannes ruft: „Geist ist geil!“<br />
Außenstehende könnten diese,<br />
hier stark verknappte Schilderung<br />
als hanebüchenen Blödsinn abtun.<br />
Wie auch das jede Sippung<br />
bestimmende „Spiel“ mit spitzfindigen<br />
Rededuellen und demokratischer<br />
Bestimmung des Siegers,<br />
rhetorischen „Spiegelfechtereien“,<br />
Musikvorträgen, Gedichten,<br />
Erzählungen, subtilen Frotzeleien<br />
und hintergründigen Einwürfen.<br />
Einzelheiten dieser „Fechsungen“<br />
würden den Rahmen sprengen<br />
und sind Gegenstand zahlreicher,<br />
wissenschaftlichen Ansprüchen<br />
genügender „Ritterarbeiten“.<br />
Beruf, Alltag und Stand<br />
bleiben draußen<br />
Ein Ritter zu Wilhaim erklärt es<br />
so: „Warum bleiben wir über<br />
40 und mehr Jahre, solange<br />
es geht, Schlaraffen?<br />
Weil wir etwas<br />
haben, was sich<br />
dem Alltag entzieht,<br />
ganz<br />
anders<br />
ist, für Stunden wenigstens, wo<br />
Rang und Bedeutung der Profanei<br />
keine Rolle spielen: Den Patienten,<br />
Klienten, dem Computer, den<br />
Gedanken an Morgen für wenige<br />
Stunden entsagen; einen anderen<br />
Namen anlegen und sich selbst<br />
nicht zu ernst nehmen. Kunst,<br />
Freundschaft, Humor! Wann habe<br />
ich zuletzt ein Gedicht gelesen,<br />
meine Gitarre ausgepackt, oder<br />
ein Lied gesungen? Um danach<br />
heiterer, gelassener, froher Dinge<br />
den Heimweg anzutreten…“ —<br />
Schließlich tritt die Gestalt des<br />
Nachtwächters auf, eine Besonderheit<br />
des Reyches Wilhaim,<br />
das Sippungsschlusslied und der<br />
Tamtam-Schlag erklingen.<br />
Beauftragt vom Hochkommissariat<br />
der französischen Besatzungszone<br />
nach dem Zweiten Weltkrieg,<br />
sollte Andre Soutou im Jahr 1950<br />
erklären: „Was ist Schlaraffia?!“<br />
Er kommt zu dem Schluss: „Man<br />
kann deutsch auf die negative Art<br />
sein, indem man sich von anderen<br />
Menschen absondert und zu der<br />
übrigen Welt in Gegensatz stellt.<br />
Man kann aber auch vielleicht<br />
deutsch und sogar Deutscher<br />
auf eine ganz andere Art sein,<br />
indem man seine Reichtümer<br />
anbietet und sie mit denen der<br />
Menschen austauscht, die eine<br />
andere Sprache sprechen oder ein<br />
anderes Land bewohnen. Dieser<br />
Austausch, den Europa mehr als<br />
je nötig hat, liegt im Geiste der<br />
Schlaraffia.“<br />
ts<br />
Der Fanfarenchor bläst zum Gruße.<br />
september / oktober <strong>2016</strong> | 29