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tassilo - Sep./Okt. 2016

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Die Ritter des Reyches Wilhaim stehen Spalier und heißen die einreitenden<br />

Gäste mit Holzschwert-Geklapper willkommen.<br />

„Schlaraffen-Spiegel und Ceremoniale“<br />

ist zu lesen: „Schlaraffia<br />

ist die innige Gemeinschaft von<br />

Männern, die in gleichgesinntem<br />

Streben die Pflege der Kunst und<br />

des Humors unter gewissenhafter<br />

Beachtung eines gebotenen<br />

Ceremonials bezweckt und deren<br />

Hauptgrundsatz die Hochhaltung<br />

der Freundschaft ist.“ In den<br />

Worten eines Weilheimer Sassen:<br />

„Schlaraffia wurde von Menschen<br />

gegründet, die sich nicht gleichmachen<br />

wollen mit der profanen<br />

Arroganz eines Stammtisches.“<br />

In der Tassiloburg stimmt der<br />

Zinkenmeister das Abendlied an.<br />

Dutzende Baritone und Bässe<br />

stimmen ein. Wer nicht textsicher<br />

ist, etwa Gäste, greift zum Buch<br />

„Der Schlaraffia Lieder“. Als der<br />

letzte Laut verklingt, ruft Cannes:<br />

„Schlaraffen hört!“ So ist jeder<br />

Beitrag anzukündigen. Ein Fanfarenchor,<br />

seit kurzem im Reych<br />

Wilhaim formiert, bläst nicht ganz<br />

notentreu, aber nach Leibeskräften<br />

zum Gruße.<br />

Dann erheben sich die Ritter,<br />

schreiten zur mit Wappen geschmückten<br />

Wand unter dem<br />

hölzernen, ein halbes Jahrhundert<br />

alten Tonnengewölbe, ziehen<br />

Holzschwerter aus einer Halterung<br />

und formieren sich in der Saalmitte<br />

zum Spalier: Unter den hochgereckten<br />

Waffen schreiten (nein,<br />

reiten!) die Sassen anderer Reyche<br />

ein: aus „Cambodunum“, vom „Tegrinsee“,<br />

aus Würzburg, Bayreuth,<br />

Weiden. Schlaraffenland ist überall.<br />

Gäste kommen von überall. Bei<br />

jeder Sippung.<br />

„Das Reych werde sesshaft —<br />

Freunde, nehmt Platz und Anteil“,<br />

bittet Cannes. Ceremonienmeister,<br />

Reychsmedicus, Hofnarr, Säckelmeister,<br />

alle Ritter, Junker und<br />

Knappen setzen sich an die Holztafeln,<br />

greifen zur Speisekarte,<br />

um „Atzung und Labung“ zu wählen:<br />

Tatar- und Schmalzbrote, Bier,<br />

Wein. Im folgenden „ambtlichen<br />

Teil“ wird das Protokoll der letzten<br />

Sippung verlesen und mit dreifachem<br />

„Lulu!“ angenommen. Dagegen<br />

befindet „Ritter Maibaum der<br />

Unübersetzbare“, dass „Ritter von<br />

und zu kurz“ mit seinem anschließenden<br />

„nichtambtlichen Protokoll<br />

nicht annährend die Wahrheit erreicht“<br />

habe. „Lulu, lulu, lulu!“ Und<br />

Ritter Cannes ruft: „Geist ist geil!“<br />

Außenstehende könnten diese,<br />

hier stark verknappte Schilderung<br />

als hanebüchenen Blödsinn abtun.<br />

Wie auch das jede Sippung<br />

bestimmende „Spiel“ mit spitzfindigen<br />

Rededuellen und demokratischer<br />

Bestimmung des Siegers,<br />

rhetorischen „Spiegelfechtereien“,<br />

Musikvorträgen, Gedichten,<br />

Erzählungen, subtilen Frotzeleien<br />

und hintergründigen Einwürfen.<br />

Einzelheiten dieser „Fechsungen“<br />

würden den Rahmen sprengen<br />

und sind Gegenstand zahlreicher,<br />

wissenschaftlichen Ansprüchen<br />

genügender „Ritterarbeiten“.<br />

Beruf, Alltag und Stand<br />

bleiben draußen<br />

Ein Ritter zu Wilhaim erklärt es<br />

so: „Warum bleiben wir über<br />

40 und mehr Jahre, solange<br />

es geht, Schlaraffen?<br />

Weil wir etwas<br />

haben, was sich<br />

dem Alltag entzieht,<br />

ganz<br />

anders<br />

ist, für Stunden wenigstens, wo<br />

Rang und Bedeutung der Profanei<br />

keine Rolle spielen: Den Patienten,<br />

Klienten, dem Computer, den<br />

Gedanken an Morgen für wenige<br />

Stunden entsagen; einen anderen<br />

Namen anlegen und sich selbst<br />

nicht zu ernst nehmen. Kunst,<br />

Freundschaft, Humor! Wann habe<br />

ich zuletzt ein Gedicht gelesen,<br />

meine Gitarre ausgepackt, oder<br />

ein Lied gesungen? Um danach<br />

heiterer, gelassener, froher Dinge<br />

den Heimweg anzutreten…“ —<br />

Schließlich tritt die Gestalt des<br />

Nachtwächters auf, eine Besonderheit<br />

des Reyches Wilhaim,<br />

das Sippungsschlusslied und der<br />

Tamtam-Schlag erklingen.<br />

Beauftragt vom Hochkommissariat<br />

der französischen Besatzungszone<br />

nach dem Zweiten Weltkrieg,<br />

sollte Andre Soutou im Jahr 1950<br />

erklären: „Was ist Schlaraffia?!“<br />

Er kommt zu dem Schluss: „Man<br />

kann deutsch auf die negative Art<br />

sein, indem man sich von anderen<br />

Menschen absondert und zu der<br />

übrigen Welt in Gegensatz stellt.<br />

Man kann aber auch vielleicht<br />

deutsch und sogar Deutscher<br />

auf eine ganz andere Art sein,<br />

indem man seine Reichtümer<br />

anbietet und sie mit denen der<br />

Menschen austauscht, die eine<br />

andere Sprache sprechen oder ein<br />

anderes Land bewohnen. Dieser<br />

Austausch, den Europa mehr als<br />

je nötig hat, liegt im Geiste der<br />

Schlaraffia.“<br />

ts<br />

Der Fanfarenchor bläst zum Gruße.<br />

september / oktober <strong>2016</strong> | 29

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