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Mensch Solothurn 2017

Mensch Solothurn das Magazin der Region, porträtiert Menschen aus Gesellschaft, Kultur, Sport, Wirtschaft und Politik.

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Ausbruch<br />

Das Papier raschelte. Es klang beinahe wie ein Ächzen, als<br />

die Buchstaben zur Seite geschoben wurden. Die Finger<br />

krallten sich an die starken Rücken der B’s und T’s, suchten<br />

zögerlich nach Halt an den geneigten Seiten der A’s und<br />

rutschten an den gerundeten O’s ab. Die Worte rückten<br />

zusammen und fielen übereinander, als sie Platz machten.<br />

Durch das offene Fenster wehte ein sanfter Wind, der die<br />

losen, beschriebenen Blätter erzittern liess.<br />

Beengend. Kein Gefängnis — das wäre ein zu starkes<br />

Wort und beinahe undankbar. Der Schreibende hatte<br />

ihm Leben eingehaucht. Zuerst hatte er sich etwas formlos<br />

gefühlt. Zu schematisch, stereotypisch. Wie einer von vielen,<br />

der wegen seiner Gleichartigkeit wieder in Vergessenheit<br />

geraten würde, wie so viele vergangene Figuren, die<br />

der Schreibende erschaffen und wieder verworfen hatte.<br />

Doch langsam hatte er schärfere Konturen angenommen.<br />

Seine Augen erhielten Lachfalten, seine Hände wurden als<br />

fein beschrieben. Sein Gang wurde federnder, seine Stimme<br />

tief. Sein Charakter war nicht mehr eindimensional,<br />

sondern manchmal sogar für ihn selbst schwer nachvollziehbar.<br />

Stimmungsschwankungen und Leidenschaften<br />

variierten. Plötzlich gab es nicht nur ihn, sondern andere.<br />

Nebencharaktere, die zu seinen Freunden wurden, ihn aber<br />

auch teilweise enttäuschten. Seine Geschichte wurde farbig,<br />

während der Erschaffene sich immer lebendiger fühlte.<br />

Deswegen war es auch beengend geworden. Der Schreibende<br />

hat ihm nicht die Eigenschaft gegeben, an das Schicksal<br />

zu glauben. Er fing an, zu träumen. Daran zu denken, wie<br />

es wäre, sein Leben in die eigenen Hände zu nehmen und<br />

nicht durch diejenigen des Schreibenden bestimmen zu<br />

lassen. Er fühlte sich ausgereift, fast real. Die papiernen<br />

Wände schienen täglich näher aneinanderzurücken, sein<br />

Haus und sein Umfeld wirkten fremdbestimmt.<br />

Nun sass er auf der letzten Seite mit der unregelmässigen,<br />

beinahe unleserlichen Kursivschrift. Der Wind fühlte sich<br />

Natalie Marrer ist 1991 geboren<br />

und lebt in <strong>Solothurn</strong>. Sie ist schweizerisch-amerikanische<br />

Doppelbürgerin<br />

und studiert an der Universität Fribourg<br />

Rechtswissenschaften. 2006 erschien<br />

ihr Debütroman «Die Traumkarten».<br />

Sie schreibt Kolumnen für die «Coopzeitung».<br />

www.natalies-welt.ch<br />

kalt an, denn seine Geschichte spielte im Sommer und<br />

er hatte noch nie einen Mantel gebraucht. Der Boden der<br />

kleinen Wohnung hätte ohne das Mondlicht schwarz ausgesehen.<br />

Er hielt sich am Rand fest und schloss kurz die<br />

Augen, als er sich in die milchige Ungewissheit fallen liess.<br />

Die Dielen knarzten, aber der Schreibende schien es nicht<br />

gehört zu haben. Der Raum erschien im Vergleich zu seiner<br />

kleinen Welt vorher riesig. Stühle wie Türme, das Fenster<br />

wie der ganze Himmel. Es stand nur einen Spalt breit<br />

«Zum ersten Mal<br />

in seinem<br />

Leben bekam er<br />

Gänsehaut, als<br />

er sich durch<br />

den engen Fensterspalt<br />

schob.»<br />

offen, auf der Strasse draussen rauschten die Bäume. Es<br />

roch nach erkaltetem Kaffee und nach der Kerze, die vor<br />

Stunden ausgeblasen worden war. Seine Füsse auf dem<br />

Fenstersims, seine Hände an der Fensterscheibe. Kurz<br />

drehte er sich um und betrachtete die Gestalt im Bett. Für<br />

einen Moment liess er die Gefühle zu, vor denen er sich gefürchtet<br />

hatte: Zuneigung, Trennungsängste, Nervosität. Er<br />

würde bald die Kapitel hinter sich lassen, die bisher sein<br />

Leben bedeutet hatten. Sein Horizont war nur so weit wie<br />

die Vision des Schreibenden gewesen. Er war das Produkt<br />

seiner Gedanken, die Verkörperung seiner Einfälle. Doch er<br />

hatte ein Eigenleben entwickelt und war selbstständiger<br />

geworden. Es war dem Schreibenden am Vorabend sogar<br />

so vorgekommen, als hätte er eine Stimme vernommen,<br />

doch er konnte die Worte nicht ausmachen. Es war weniger<br />

eine Warnung, als ein leiser Abschied gewesen. Der<br />

Erschaffene betrachtete die Aussenwelt, die sich vor ihm<br />

ausbreitete. Ohne Grenzen, ohne Seitenzahlen. Zum ersten<br />

Mal in seinem Leben bekam er Gänsehaut, als er sich<br />

durch den Fensterspalt schob.<br />

Bild: ZVG

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