Ausbruch Das Papier raschelte. Es klang beinahe wie ein Ächzen, als die Buchstaben zur Seite geschoben wurden. Die Finger krallten sich an die starken Rücken der B’s und T’s, suchten zögerlich nach Halt an den geneigten Seiten der A’s und rutschten an den gerundeten O’s ab. Die Worte rückten zusammen und fielen übereinander, als sie Platz machten. Durch das offene Fenster wehte ein sanfter Wind, der die losen, beschriebenen Blätter erzittern liess. Beengend. Kein Gefängnis — das wäre ein zu starkes Wort und beinahe undankbar. Der Schreibende hatte ihm Leben eingehaucht. Zuerst hatte er sich etwas formlos gefühlt. Zu schematisch, stereotypisch. Wie einer von vielen, der wegen seiner Gleichartigkeit wieder in Vergessenheit geraten würde, wie so viele vergangene Figuren, die der Schreibende erschaffen und wieder verworfen hatte. Doch langsam hatte er schärfere Konturen angenommen. Seine Augen erhielten Lachfalten, seine Hände wurden als fein beschrieben. Sein Gang wurde federnder, seine Stimme tief. Sein Charakter war nicht mehr eindimensional, sondern manchmal sogar für ihn selbst schwer nachvollziehbar. Stimmungsschwankungen und Leidenschaften variierten. Plötzlich gab es nicht nur ihn, sondern andere. Nebencharaktere, die zu seinen Freunden wurden, ihn aber auch teilweise enttäuschten. Seine Geschichte wurde farbig, während der Erschaffene sich immer lebendiger fühlte. Deswegen war es auch beengend geworden. Der Schreibende hat ihm nicht die Eigenschaft gegeben, an das Schicksal zu glauben. Er fing an, zu träumen. Daran zu denken, wie es wäre, sein Leben in die eigenen Hände zu nehmen und nicht durch diejenigen des Schreibenden bestimmen zu lassen. Er fühlte sich ausgereift, fast real. Die papiernen Wände schienen täglich näher aneinanderzurücken, sein Haus und sein Umfeld wirkten fremdbestimmt. Nun sass er auf der letzten Seite mit der unregelmässigen, beinahe unleserlichen Kursivschrift. Der Wind fühlte sich Natalie Marrer ist 1991 geboren und lebt in <strong>Solothurn</strong>. Sie ist schweizerisch-amerikanische Doppelbürgerin und studiert an der Universität Fribourg Rechtswissenschaften. 2006 erschien ihr Debütroman «Die Traumkarten». Sie schreibt Kolumnen für die «Coopzeitung». www.natalies-welt.ch kalt an, denn seine Geschichte spielte im Sommer und er hatte noch nie einen Mantel gebraucht. Der Boden der kleinen Wohnung hätte ohne das Mondlicht schwarz ausgesehen. Er hielt sich am Rand fest und schloss kurz die Augen, als er sich in die milchige Ungewissheit fallen liess. Die Dielen knarzten, aber der Schreibende schien es nicht gehört zu haben. Der Raum erschien im Vergleich zu seiner kleinen Welt vorher riesig. Stühle wie Türme, das Fenster wie der ganze Himmel. Es stand nur einen Spalt breit «Zum ersten Mal in seinem Leben bekam er Gänsehaut, als er sich durch den engen Fensterspalt schob.» offen, auf der Strasse draussen rauschten die Bäume. Es roch nach erkaltetem Kaffee und nach der Kerze, die vor Stunden ausgeblasen worden war. Seine Füsse auf dem Fenstersims, seine Hände an der Fensterscheibe. Kurz drehte er sich um und betrachtete die Gestalt im Bett. Für einen Moment liess er die Gefühle zu, vor denen er sich gefürchtet hatte: Zuneigung, Trennungsängste, Nervosität. Er würde bald die Kapitel hinter sich lassen, die bisher sein Leben bedeutet hatten. Sein Horizont war nur so weit wie die Vision des Schreibenden gewesen. Er war das Produkt seiner Gedanken, die Verkörperung seiner Einfälle. Doch er hatte ein Eigenleben entwickelt und war selbstständiger geworden. Es war dem Schreibenden am Vorabend sogar so vorgekommen, als hätte er eine Stimme vernommen, doch er konnte die Worte nicht ausmachen. Es war weniger eine Warnung, als ein leiser Abschied gewesen. Der Erschaffene betrachtete die Aussenwelt, die sich vor ihm ausbreitete. Ohne Grenzen, ohne Seitenzahlen. Zum ersten Mal in seinem Leben bekam er Gänsehaut, als er sich durch den Fensterspalt schob. Bild: ZVG
«Ich finde es wichtig, Traditionen und Geschichte zu leben, ohne dabei stillzustehen. Damit der Spagat zwischen Alt und Neu gelingt, sind immer wieder kreative Lösungen gefragt.» SCHÖNE AUSSICHTEN Wirtschaftsstandort Kanton <strong>Solothurn</strong> – wir informieren, beraten und vernetzen Peter Basler betreibt das Hotel Roter Turm, wo im Turmwächterzimmer das wohl älteste Bett <strong>Solothurn</strong>s steht. Immer mit dabei ist Hund Bruno. Telefon 032 627 95 23 www.standortsolothurn.ch