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Beelitzer Nachrichten - März 2017

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Seite 14<br />

WITTBRIETZEN - Die Hamburger Historikerin<br />

Dr. Sabine Todt fesselt mit ihrer<br />

lebhaften und überaus anschaulichen<br />

Vortragsweise die über 100 Zuhörer, die<br />

am letzten Sonnabend im Februar einer<br />

Einladung der Kirchengemeinde<br />

Wittbrietzen ins Dorfgemeinschaftshaus<br />

gefolgt sind. Es geht um einen ganz besonderen<br />

Schatz der Kirchengemeinde,<br />

um das erste Flugblatt der Reformation<br />

„Der Himmel- und Höllenwagen“ aus<br />

dem Jahre 1519.<br />

Durch eine Gunst der Geschichte, wie es<br />

der Ortschronist und Initiator der Veranstaltung,<br />

Detlef Fechner, formuliert,<br />

gelangte die Kirchengemeinde in den<br />

Besitz eines von vermutlich nur noch<br />

drei Exemplaren. Es war<br />

wohl ein Erbe des begeisterten<br />

Lutheraners Caspar<br />

von Köckritz. Verfasst hat<br />

das Flugblatt kein geringerer<br />

als der Mitinitiator der<br />

Reformation und spätere<br />

Widerpart Martin Luthers,<br />

Andreas Bodenstein, genannt<br />

Karlstadt. Der Illustrator<br />

ist noch berühmter:<br />

Lucas Cranach d.Ä. Kein<br />

Wunder also, dass das<br />

wertvolle Exemplar nicht<br />

in Wittbrietzen, sondern<br />

sicher in Berlin liegt.<br />

Todt versteht es in hervorragender<br />

Weise, das vergangene<br />

Geschehen in heutige<br />

Bilder und Sprache zu<br />

bringen: „Eine irre Stimmung<br />

muss das damals<br />

gewesen sein.“ Gemeint<br />

sind die vielfältigen refor-<br />

AUS STADT UND ORTSTEILEN<br />

„Eine irre Stimmung muss das gewesen sein“<br />

Geschichte und Geschichten der Reformation vor 500 Jahren wurden in Wittbrietzen lebendig<br />

matorischen Veränderungen<br />

durch Karlstadt, der in<br />

Wittenberg, während Luther<br />

sich noch auf der<br />

Wartburg versteckt hielt, die erste<br />

deutschsprachige Messe hielt. Das berühmte<br />

Flugblatt charakterisiert sie als<br />

„erstes Comic“. In einer Zeit, in der gerade<br />

einmal ein Prozent der Bevölkerung<br />

lesen konnte, davon die wenigsten Latein,<br />

war diese Mischung aus Eindruck<br />

machenden Bildern und einfachen deutschen<br />

Sätzen, die man einander vorlesen<br />

konnte, das ebenso naheliegende wie<br />

wirkungsmächtige Mittel. „Es kostete<br />

soviel wie ein besseres Mittagessen“, so<br />

erklärt Todt die große Verbreitung dieses<br />

Mediums. Insgesamt hält Todt das<br />

30 mal 40 Zentimeter große Flugblatt<br />

daher für entscheidender für den Fortgang<br />

der Reformation als die berühmteren<br />

95 Thesen Luthers, die in Latein<br />

abgefasst für eine akademische Debatte<br />

gedacht waren. „Wir feiern in Wittbrietzen<br />

2019 noch einmal ganz groß Reformation“,<br />

greift der gastgebende Pfarrer<br />

Clemens Bloedhorn einen Vorschlag<br />

Todts auf.<br />

Todt verweist auf den vielfältigen antithetischen<br />

Aufbau des reformatorischen<br />

„Comics“, das die Stimmung zugunsten<br />

der Lutheraner aufheizen sollte. Oben<br />

fährt der Himmelwagen zu Christus,<br />

unten der Höllenwagen in den Höllenschlund.<br />

Oben sitzen, klar, die Protestanten,<br />

unten, aus protestantischer Sicht<br />

ebenso klar, die katholischen Kleriker.<br />

Volle Zuschauerplätze anlässlich des Vortragsnachmittags. Unten: Historikerin Dr.<br />

Sabine Todt. Zum Abschluss gab die Kantorei ein Konzert. Fotos: Andreas Trunschke<br />

Oben greift ein Teufel in die Speichen<br />

und versucht, den Wagen zu bremsen,<br />

unten ölt ein weiterer die Räder.<br />

Todt verweist auf viele Details. Unten<br />

hat eine Pferdedecke das gleiche Muster<br />

wie oben der Mantel eines Bischoffs.<br />

Ein Bischoff oben im Himmelswagen?<br />

Es handelt sich um Augustinus von Hippo,<br />

auf den sich die Reformer um Luther<br />

teilweise beziehen und der gerade noch<br />

den Absprung vom Höllenwagen geschafft<br />

hat. Christus, auf den der Himmelwagen<br />

zufährt, steht hinter dem<br />

Kreuz. „Man muss erst das Kreuz auf<br />

sich nehmen, bevor man zu Christus<br />

kommt“, so Todt. Zu allem Überdruss<br />

fährt der Wagen dann auch noch knapp<br />

am Kreuz vorbei. Noch einmal Todt:<br />

„Der Mensch wird irgendwann schwach.<br />

Aber er muss es versuchen“. Es braucht<br />

die Überzeugung „Wir schaffen das“,<br />

erklärt die Historikerin und ergänzt „Ich<br />

rede schon wie Merkel.“<br />

Auch Nachdenkliches hat Todt zu bieten.<br />

Im Himmelwagen werden die Pferde<br />

mit Peitschen angetrieben und traben<br />

gemächlich. Im Höllenwagen fehlen die<br />

Peitschen und trotzdem galoppieren die<br />

Pferde dem Höllenschlund entgegen.<br />

„Warum? Denken Sie mal darüber<br />

nach“, so Todt.<br />

Sie bedauert, dass heute oft nur noch<br />

Luther gesehen wird, und nicht die ganze<br />

Vielfalt an Ideen und<br />

Personen, die der reformatorische<br />

Aufbruch hervorgebracht<br />

hat. Sie verweist<br />

auf die marxistische Geschichtswissenschaft<br />

in der<br />

DDR, die den Blick auch<br />

auf die sozialen und wirtschaftlichen<br />

Grundlagen<br />

der Reformation gerichtet<br />

hatte, die auch Müntzer<br />

und andere Reformatoren<br />

im Fokus hatten.<br />

Das Flugblatt ist an diesem<br />

Sonnabend Nachmittag<br />

jedoch nicht der einzige<br />

Wittbrietzener Schatz, den<br />

man bewundern kann. Unter<br />

Leitung von Kantor<br />

Andreas Behrendt trägt ein<br />

Ensemble a cappella Kirchenmusiken<br />

aus der Zeit<br />

vor und nach der Reformation<br />

vor, darunter eine<br />

Komposition von Luther<br />

selbst. Auch musikalisch<br />

wird der große Bruch erlebbar,<br />

den die Reformation<br />

bedeutete. Wie sehr uns das damalige<br />

Geschehen heute noch bewegt, ist auch<br />

an der großen Zahl der Zuhörer ablesbar.<br />

Die Frage, ob die Gnade Gottes am Ende<br />

oder am Anfang steht, ob der Mensch<br />

sie erst durch eigene Werke verdienen<br />

muss oder ob er sie von Geburt an besitzt,<br />

ist, entsprechend transkribiert, auch<br />

für Nichtgläubige brisant.<br />

Zum Beispiel aktuell in der Flüchtlingsfrage:<br />

Erhalten wir unsere Menschenrechte<br />

mit unserer Geburt, oder gibt es<br />

eine Instanz, der gegenüber wir uns erst<br />

beweisen müssen? Kann Menschen ihre<br />

Würde zu- oder aberkannt werden?<br />

Dr. Andreas Trunschke

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