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BLICKWECHSEL 2017

Journal für deutsche Kultur und Geschichte im östlichen Europa. Schwerpunkthema: »Mehr als Luther. Reformation im östlichen Europa«

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EIN ZEUGE UND MAHNER<br />

Zum 100. Geburtstag des Lyrikers und Erzählers<br />

Johannes Bobrowski<br />

Wie kaum ein anderer Dichter seiner Generation blieb<br />

Johannes Bobrowski zeitlebens geprägt von den Bildungsund<br />

Landschafserlebnissen seiner Kindheit und Jugend.<br />

Am 9. April 1917 im damals ostpreußischen Tilsit (heute Sowjetsk)<br />

als Sohn eines Reichsbahnbeamten geboren, wuchs<br />

er in gesicherter Bürgerlichkeit und in einer Umgebung von<br />

tiefer Frömmigkeit auf. In der Stadt an der Memel, die bei<br />

den Anwohnern nur »der Strom« hieß, später in Rastenburg/<br />

Kętrzyn ging Bobrowski zur Schule. Die Gymnasiastenzeit<br />

absolvierte er ab 1928 auf der 1304 gegründeten Domschule<br />

der Kant-Stadt Königsberg (heute Kaliningrad).<br />

Diesem Gymnasium verdankte Bobrowski vor allem<br />

die gründliche Kenntnis antiker Sprachen, der ältesten<br />

Geschichte Preußens und des Herderschen Geschichtsdenkens.<br />

Seit dem achten Lebensjahr wurde er im Klavierspiel<br />

unterrichtet, er lernte auch Geige und im Königsberger Dom<br />

Orgel spielen. Und 1936 begann er Gedichte zu schreiben,<br />

um sich dann mehr und mehr »auf die Poeterei« zu verlegen.<br />

Den Wunsch, Kunstgeschichte in Berlin zu studieren,<br />

wohin die Eltern schon ihren Umzug in die Wege geleitet<br />

hatten, musste er zurückstellen, weil er zum Reichsarbeitsdienst<br />

verpflichtet wurde und danach zweijährigen Militärpflichtdienst<br />

als Funker bei der Nachrichtenabteilung in<br />

Königsberg-Devau abzuleisten hatte. Im Anschluss daran<br />

musste er 1939 als Nachrichtensoldat am Krieg gegen Polen<br />

und danach an dem der Westfront in Frankreich teilnehmen.<br />

Im Frühjahr 1941 wurde sein Regiment von Lille an die<br />

Ostfront verlegt. In Kaunas erlebte er im Juni den von der<br />

SS inszenierten Pogrom, dem 3 000 Juden der Stadt zum<br />

Opfer fielen und von dem später sein Gedicht Kaunas 1941<br />

Zeugnis ablegte.<br />

Am Tag der bedingungslosen Kapitulation Nazideutschlands<br />

kam Bobrowski in sowjetische Gefangenschaft, die er<br />

in verschiedenen Lagern im Donezbecken als Kohlenhäuer<br />

unter Tage, Verlade- und Bauarbeiter in der Steppe durchlitt.<br />

Erst Ende 1949 wurde er entlassen und konnte zu seiner<br />

Familie nach Berlin zurückkehren. Hier fand er auch seine<br />

Frau Johanna vor, die er im April 1943 während eines Fronturlaubs<br />

in Motzischken/Mociškiai geheiratet hatte. Bis Juni<br />

1953 lebten alle Bobrowskis in einer Etagenwohnung, ehe der<br />

inzwischen um zwei Töchter erweiterte Haushalt in die am<br />

südlichen Rand Friedrichshagens gelegene Ahornallee 26<br />

umziehen konnte. Nachdem die Eltern in der Nähe eine<br />

eigene Wohnung gefunden hatten, konnte sich Bobrowski<br />

den einen der unteren Räume des Hauses als Arbeits- und<br />

Bibliothekszimmer einrichten, in das er sich zurückziehen<br />

Johannes Bobrowski im Januar 1964, © Roger Melis<br />

und wo er auch Gäste empfangen konnte. 1959 beendete er<br />

sein Arbeitsverhältnis beim Altberliner Verlag Lucie Groszer<br />

und übernahm eine besser bezahlte Stelle als Lektor für Belletristik<br />

im Union Verlag. Seine Dienstzeit begann früh um<br />

7.45 Uhr und endete 17 Uhr, samstags um 12. Hinzu kam eine<br />

gute Stunde für S-Bahn-Fahrt und Fußwege, sodass er fast<br />

zwölf Stunden für seinen Brotberuf aufwenden musste. Er<br />

nahm die Verhältnisse gelassen. Die Verse formten sich ihm<br />

auf dem Weg zur Arbeit zum Gedicht, in der Bahn brachte<br />

er sie zu Papier, und im Verlagsbüro fand sich auch immer<br />

eine ungestörte Stunde zum Feilen und Verbessern.<br />

Ihm war lange nicht klar, ob er Leser erreichen, ob er es<br />

überhaupt zu einem Gedichtband bringen würde. Doch<br />

das »Abseits«, in dem seine Dichtungen entstanden, war<br />

wahrscheinlich die Vorbedingung für ihren unverwechselbaren<br />

Ton, den die Schnellfertigen und Vorkämpfer des<br />

Zeitgemäßen als »Gegenwartsabgewandtheit« brandmarkten.<br />

Aber ihn beschäftigte immer die ganze Vergangenheit,<br />

die ganze Gegenwart und die ganze Zukunft; er versuchte<br />

deshalb mit Verstand, »seine eignen Grillen auszudrücken«,<br />

wie der »Magus im Norden«, Johann Georg Hamann<br />

(1730–1788), all jenen geraten hatte, die den richtigen

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