BLICKWECHSEL 2017
Journal für deutsche Kultur und Geschichte im östlichen Europa. Schwerpunkthema: »Mehr als Luther. Reformation im östlichen Europa«
Journal für deutsche Kultur und Geschichte im östlichen Europa. Schwerpunkthema: »Mehr als Luther. Reformation im östlichen Europa«
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VON DER GANS ZUM SCHWAN<br />
Die Lehren des Böhmen Jan Hus inspirierten auch Martin Luther<br />
»Wir sind alle Hussiten, ohne es<br />
gewusst zu haben.« Dies schrieb Martin<br />
Luther, nachdem er die Schrift Von<br />
der Kirche aus der Feder des böhmischen<br />
Reformators gelesen hatte. Sie<br />
war ihm von zwei utraquistischen<br />
Geistlichen aus Prag zugesandt worden,<br />
als Dank für seine Verteidigung<br />
der Lehren von Hus bei seinem theologischen<br />
Streitgespräch mit Johannes<br />
Eck in Leipzig im Sommer 1519. Der<br />
Ingolstädter Professor hatte den Wittenberger<br />
als »Hussiten« und »böhmischen<br />
Ketzer« bezeichnet. Luther, der<br />
sich selbst zuvor noch kritisch über<br />
die Hus-Anhänger und ihre Abwendung<br />
von Rom geäußert hatte, antwortete<br />
seinem Kontrahenten, dass<br />
unter den vom Konstanzer Konzil verurteilten<br />
Lehren des Prager<br />
Magisters manche »sehr<br />
christlich und evangelisch« seien. Eck<br />
hatte erreicht, was er wollte: Aus dem<br />
seit 1517 mit Luthers 95 Thesen ausgelösten<br />
Ablassstreit war ein öffentlich<br />
vollzogener Bruch mit der päpstlichen<br />
Kurie geworden. Nun begannen<br />
die deutschen Reformatoren, das Bild<br />
Luthers als direktem Nachfolger des<br />
von diesem so bezeichneten »heiligen<br />
Märtyrers« Hus zu pflegen. Sie sorgten<br />
für die Verbreitung entsprechender<br />
Ideen in Schrift und Bild. Dazu<br />
gehörte auch die Vervielfältigung der<br />
Texte von Hus, die in gedruckter Fassung<br />
zum ersten Mal in den 1480er<br />
Jahren in Deutschland erschienen<br />
waren. In einem veröffentlichten Brief<br />
aus dem Kerker hatte der böhmische<br />
Reformator, dessen Nachname an<br />
das tschechische Wort für Gans erinnert,<br />
prophezeit, dass nun eine solche<br />
Luther (links) und Hus (rechts) erteilen das<br />
Abendmahl, Allegorie auf die evangelische<br />
Lehre von Lucas Cranach d. Ä.<br />
© akg-images<br />
gebraten, in hundert Jahren aber ein<br />
Schwan singen werde.<br />
Tanja Krombach<br />
Tanja Krombach ist stellvertretende Direktorin<br />
des Deutschen Kulturforums östliches Europa e. V.<br />
( S. 56/57).<br />
Kaufmann, Thomas: Martin Luther, der<br />
Hussit. In: Badische Zeitung vom 26.4.2014<br />
http://bit.ly/hus_und_luther<br />
MEHR ALS LUTHER<br />
KEIN TSCHECHISCHER HELD<br />
Zwei moderne Wallenstein-Romane und die Erinnerung an die Reformation<br />
»Ein großer Soldat, aber ein schlechter<br />
Tscheche« – so urteilte der Dichter und<br />
Gelehrte Jan Kollár in seinem Werk Die<br />
Tochter der Sláva (Erstausgabe 1824) über<br />
Albrecht von Wallenstein. Zum »tschechischen<br />
Helden« taugte der böhmische<br />
Adlige und einstige kaiserliche General<br />
offenbar nicht. Im deutschsprachigen<br />
Raum hingegen beförderten vor allem<br />
Schillers historiografische Werke und seine<br />
Dramentrilogie Wallenstein die Popularität<br />
der Figur derart, dass allein bis 1910 mehr<br />
als 2 500 Titel über sie publiziert wurden.<br />
Mindestens ein großes Werk über Wallenstein<br />
weist die tschechische Literatur<br />
allerdings auf: den Roman Bloudění (»Irrsal«)<br />
(1929) des katholischen Schriftstellers<br />
Jaroslav Durych. Bereits 1920 war auf<br />
deutscher Seite der ähnlich umfangreiche<br />
Roman Wallenstein von Alfred Döblin<br />
Erstausgabe von Bloudění (1929), Verlag L. Kuncíř<br />
Tschechische Ausgabe von Wallenstein (1931),<br />
Verlag Družstevní práce<br />
erschienen. Beide Texte stellen Höhepunkte des historischen<br />
Erzählens in der Moderne dar; neben thematischen Parallelen<br />
existieren auch konkrete Berührungspunkte. So erschien<br />
etwa Döblins Wallenstein 1931 in tschechischer Übersetzung<br />
und wurde von der zeitgenössischen tschechischen<br />
Literaturkritik für oder gegen Durychs Roman in Stellung<br />
gebracht. Ausgerechnet der deutsche und nicht der tschechische<br />
Autor, so etwa der Kritiker Josef Staněk, stelle sich<br />
bei der Schilderung des evangelischen böhmischen Adels<br />
»auf die Seite unserer unglücklichen Ahnen«. Das Zitat lässt<br />
erahnen, wie stark die tschechische Aufnahme des Wallenstein<br />
im Zeichen der damaligen Geschichtsdebatten um<br />
das Erbe der Reformation stand. In ihr spielte das heute<br />
prägende Bild Döblins als Expressionist und Erneuerer der<br />
Romanform allenfalls eine untergeordnete Rolle.<br />
Tilman Kasten<br />
Dr. Tilman Kastens Dissertation über Bloudění und Wallenstein ist 2016 unter<br />
dem Titel Historismuskritik vs. Heilsgeschichte erschienen.<br />
Döblin, Alfred: Wallenstein. Roman. Mit einem Nachwort von<br />
Steffan Davies (Gesammelte Werke, 5), Frankfurt a. M. 2014<br />
Durych, Jaroslav: Bloudění. Větší valdštejnská trilogie<br />
(»Irrsal. Größere Wallenstein-Trilogie«), Brno 2015