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18 Köpfe|Mai 2017 Köpfe|Mai 2017 19<br />
Die Jelinek, den Nitsch, die Oper kriegen sie nicht, aber<br />
mich kriegen sie. Von Seiten der Polizeibeamten habe<br />
ich noch nie Gewalt erlebt, obwohl ich oft festgenommen<br />
wurde. In manchen anderen Ländern hätten sie<br />
mich längst weggeräumt. Hier bekomm’ ich als armer<br />
Dichter einen Anwalt gratis. Vor der ersten Anzeige hatte<br />
ich schon Angst, aber dann nicht mehr, weil ich erkannt<br />
habe, hoppala, es gibt Rechtsmittel. Die Behörden fürchten<br />
sich vor jemanden, der immer Berufung einlegt und<br />
immer gewinnt. Dann suchen sie neue Paragraphen. Das<br />
Schlimmste war, als man mich zu einer Richterin und einer<br />
Amtsärztin vorgeladen hat.<br />
Der IG Autoren-Chef Gerhard Ruiss sagte: „Geh’ nicht<br />
hin.“ Ich bin trotzdem hingegangen und habe sachlich<br />
dargelegt, was ich tue. Die beiden haben sich danach bei<br />
mir entschuldigt und ich hab’s amtlich schriftlich bestätigt,<br />
dass ich das Gegenteil von deppert bin. Wer hat das<br />
schon? Letztendlich unterstützt mich derselbe Staat, der<br />
mich anzeigt, mit der Begründung, die Inhalte und nicht<br />
die Form zu fördern.<br />
Haben Sie neue Projekte?<br />
Ja, die gibt es, aber darüber rede ich noch nicht. Manches<br />
ist kindisch, teilweise grober Unfug, und das tut so gut.<br />
Da wird man nie krank.<br />
Kann man wegen groben Unfugs eingesperrt werden?<br />
Ja, schon. Aber wenn alles leicht gehen tät’, dann wäre<br />
es eh fad. Man muss selbstkritisch bleiben und braucht<br />
Grantigkeit, so kommen einem Ideen für neue Projekte.<br />
Das ist dann gesunder Grant. Manche Ideen verwirkliche<br />
ich schon, aber nicht in meinem Heimatbezirk. Im<br />
Sommer fahre ich auch weit hinaus, mit der letzten Tram<br />
zum Beispiel bis Stammersdorf, und dann schau’ ich, wie<br />
weit ich bis fünf Uhr früh komme. Heuer habe ich vor, mir<br />
eine Netzkarte zu kaufen und in allen größeren Städten<br />
von Österreich zu kleben. Dann fahr’ ich mit dem letzten<br />
Zug nach Linz, Innsbruck, Salzburg.<br />
Gibt es MitstreiterInnen bei Ihren Aktionen?<br />
Es gab einen, Christian Hintze, den Gründer der Schule<br />
der Dichtung. Wir haben ein Jahr lang um die Wette Gedichte<br />
verteilt und uns gegenseitig angestachelt. Ohne<br />
ihn wäre es fad gewesen. Danach hat er beschlossen,<br />
Bücher zu schreiben und Sprechplatten zu machen.<br />
Wir hatten uns ausgemacht, im Alter wieder Gedichte<br />
zu verteilen. Ich bin ihm echt böse, dass er gestorben<br />
ist. Meine Töchter haben versprochen, wenn ich einmal<br />
nicht mehr kann, werden sie mich im Rollstuhl herumschieben.<br />
Helmut Seethaler<br />
Geb. 1953 in Wien. Teilstudium der Philosophie. Verfasste bisher<br />
mehr als 11.400 Pflückgedichte, die er millionenfach an Laternen,<br />
Säulen, Bäumen, Lichtmasten und Wänden ablösbar, abwischoder<br />
abwaschbar anbringt. Seethaler erhält dafür unzählige<br />
Droh- und Fanbriefe sowie Anzeigen wegen Verschmutzung, Ordnungsstörung,<br />
Sachbeschädigung, Behinderung der Fußgänger<br />
etc. Abgesehen von sieben Fällen wurde er jedes Mal von den<br />
Vorwürfen freigesprochen. Der Gedichtband Texte für DENKENDE<br />
+ gegen das DENK-ENDE ist 2017 im hochroth Verlag erschienen<br />
(ISBN 978-3-902871-84-8). www.zettelpoet.at<br />
Interview<br />
War es früher einfacher, vom Schreiben zu leben?<br />
Früher hat es das Kulturservice gegeben. Dadurch konnten<br />
ich und andere Schreiberlinge im Juni für einen Tausender<br />
in Schilling fünf, sechs Lesungen in Schulen machen.<br />
Das war bestens bezahlt. Im ganzen letzten Jahr<br />
hingegen waren es insgesamt zwei Schullesungen. Heute<br />
können die Schulen einladen, wen sie wollen, und machen<br />
lieber Konzerte. Nur Lesung ist für mich eine Form<br />
von Vorgestern. Deshalb lege ich Wert auf Diskussion<br />
und Interaktivität. Wenn drei verschiedene Menschen einen<br />
meiner Text vorlesen, meint man, es seien drei verschiedene<br />
Texte, weil jede Person ihn so liest, wie sie ihn<br />
für sich brauchen kann.<br />
Gisella Linschinger<br />
Geb. 1983 in Gmunden/OÖ. Studium der Linguistik und<br />
Internationalen Entwicklung an der Universität Wien. Absolventin<br />
des Lehrgangs „Angewandte Fotografie“ an der FH St. Pölten.<br />
Lehrtätigkeit als Universitätslektorin in Frankreich und der<br />
Tschechischen Republik. Lebt als freie Journalistin in Wien.<br />
Philipp Schmickl<br />
Geb. 1980 in Wien. Studium der Kultur- und Sozialanthropologie an<br />
der Universität Wien. Gründer und Herausgeber der Bücherserie<br />
THEORAL ~ oral music histories and interesting interviews<br />
www.theral.org. Betreiber des Blogs THEFUCKLE. Beschreibungen<br />
der Gegenwart www.thefuckle.wordpree.com<br />
©Heliane Wiesauer-Reiterer1974 Kopfobjekt Holz, Gips, Draht 63 x20x14