Cruiser im Oktober 2013
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CRUISER Edition <strong>Oktober</strong> <strong>2013</strong><br />
Musik<br />
Sir Elton John hat <strong>im</strong> Lauf<br />
seiner Karriere sagenhafte<br />
900 Millionen Tonträger<br />
verkauft. Das macht den<br />
Briten neben Paul McCartney<br />
zum erfolgreichsten lebenden<br />
Musiker. Mitte September<br />
erschien sein 33.<br />
Studioalbum.<br />
«Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an / Mit 66 Jahren, da hat man Spass<br />
daran / Mit 66 Jahren, da kommt man erst in Schuss / Mit 66 Jahren ist<br />
noch lange nicht Schluss.» Eher unwahrscheinlich, dass Udo Jürgens<br />
an einen gewissen Reginald Kenneth Dwight alias Elton Hercules John<br />
gedacht hat, als er seinen berühmten Schlager schrieb. Tatsächlich ist<br />
dieser Elton John gerade 66 Jahre alt geworden – und kein bisschen leise.<br />
Mit seinem Namen assoziiert man ausschweifende Showbiz-Partys,<br />
extravagante Brillen, Shopping-Exzesse und Prinzessin Dianas Beerdigung.<br />
Was dabei oft übersehen wird, ist die Tatsache, dass es Elton John<br />
vor allem um die Musik geht. Damit dies endlich auch der Letzte kapiert,<br />
hat er das Album «The Diving Board» aufgenommen. Sein kongenialer<br />
Texterkumpel Bernie Taupin (63) griff ihm dabei unter die Arme. Dieser<br />
zeichnet verantwortlich für legendäre Gassenhauer wie «Candle In The<br />
Wind», «Crocodile Rock» und «Bennie & The Jets». Herausgekommen sind<br />
zwölf karg arrangierte Songs sowie drei Instrumentals, mit denen der<br />
Superstar mit dem falschen Haar nach viereinhalb Jahrzenten <strong>im</strong> Musikgeschäft<br />
zu seinen Wurzeln zurückkehrt. T Bone Burnetts Min<strong>im</strong>alarrangements<br />
erzeugen eine beängstigende Nähe zum Interpreten. Der<br />
Grundgedanke dieses erfolgsverwöhnten Produzenten: eine gute Platte<br />
mit einem grossen Künstler zu machen, der bei seinen Zutaten lange viel<br />
zu viel Zucker verwendet hat.<br />
Noch nie so gut Piano gespielt<br />
«The Diving Board» bewegt sich zwischen Boogie-Woogie-Sound («Mexican<br />
Vacation») und niederschmetternd int<strong>im</strong>en Balladen wie «Home<br />
Again» über gefallene Soldaten. Im Titelsong besingt John die schwindelerregende<br />
Distanz zwischen Teenager-Träumen und dem Erfolg als<br />
Erwachsener. Das traurige «Oscar Wilde Get’s Out» basiert auf dem tragischen<br />
Leben des berühmten homosexuellen britischen Autors, mit dem<br />
John sich offensichtlich verbunden fühlt. Als der Taupins Text zum ersten<br />
Mal las, hatte es ihn sofort gepackt. Keine halbe Stunde später ist der Titel<br />
fertig gewesen. Die Schnellschüsse sind manchmal die besten Songs,<br />
weiss der Sänger aus eigener Erfahrung. Aber das bedeute noch lange<br />
nicht, dass ein Elton John schludert. «Wenn ich auf dem Piano komponiere,<br />
verwende ich viel mehr Akkorde als auf der Gitarre. Ich bin auch<br />
von Klassik beeinflusst. Ich behaupte mal, dass ich noch nie so gut Piano<br />
gespielt habe wie hier», flötet der Superstar <strong>im</strong> Interview mit der BBC.<br />
Die stilistische Bandbreite reicht von Pop über Gospel und Soul bis hin<br />
zu Country, Klassik und Bläsern <strong>im</strong> New-Orleans-Sound. Die zum Teil<br />
jazzigen Piano-Einleitungen wurden in einem Take <strong>im</strong>provisiert und<br />
kommen alles andere als schwülstig daher. Es ist wahrscheinlich die<br />
tastenlastigste Platte, die Elton John je gemacht hat. Für Magie <strong>im</strong> Studio<br />
sorgten zudem Schlagzeuger Jay Bellerose, Bassist Raphael Saadiq sowie<br />
Doyle Bramhall II und T Bone Burnett an den Gitarren. Wie ein Kind begeistern<br />
kann sich der Altmeister über Jack Ashford, Marvin Gayes ehemaligem<br />
Percussion-Spieler, der hier dieselben Trommeln spielt wie auf<br />
dem Soulklassiker «What Goes On». Dass er viele Jahre an Alkoholsucht,<br />
Drogenabhängigkeit und Bul<strong>im</strong>ie litt, merkt man Johns St<strong>im</strong>me nicht an,<br />
die lange nicht mehr so gut geklungen hat wie hier. Die Frischzellenkur<br />
kann man als gelungen betrachten.<br />
Brüder <strong>im</strong> Geiste<br />
«Auf dieser Platte mache ich mich richtig nackt», erzählt der als eitel bekannte<br />
Sänger und wirkt, als erstaune ihn das selbst am meisten. «Das<br />
zu tun, war für mich beängstigend, aber das Ergebnis klingt irgendwie<br />
auch herzerwärmend. T Bone Burnett bestand darauf, dass wir <strong>im</strong> Studio<br />
fast ausschliesslich Piano, Bass und Schlagzeug verwenden. Meine Songs<br />
sollten wieder ganz s<strong>im</strong>pel klingen. Die Idee fand ich pr<strong>im</strong>a.»<br />
Im Januar 2012 sang Elton John innerhalb von drei Tagen wie <strong>im</strong> Rausch<br />
zwölf von Bernie Taupins Texten ein. Heilfroh, einmal keine Deadline zu<br />
haben, hörte er sich die Aufnahmen erst ein Jahr später wieder an und<br />
nahm sofort weitere vier Nummern auf. Bloss das Texten fällt ihm auch<br />
mit 66 <strong>im</strong>mer noch schwer. «Wenn ich selbst Texte schreibe, fallen die<br />
meist sehr schmutzig aus. Vielleicht vertone ich die mal am Ende meiner<br />
Karriere. Es ist viel magischer, mir Melodien zu Bernie Taupins Geschichten<br />
einfallen zu lassen. Wir sind Brüder <strong>im</strong> Geiste. In den vergangenen<br />
46 Jahren haben wir uns nicht ein einziges Mal wegen der Musik oder<br />
persönlicher Dinge in die Haare gekriegt.»<br />
Eine Rückschau, die nicht der Nostalgie verfällt<br />
Es sei die erwachsenste Platte, die er in seinem Alter machen könne,<br />
flachst der vitale Senior. «Ich meine, ich gehe auf die 80 zu. In dem Alter<br />
spielen Leute wie ich <strong>im</strong> Holiday Inn». Tatsächlich drehen sich etliche<br />
Songs auf «The Diving Board» ums Älterwerden, um Begegnungen mit<br />
alten Freunden und Reisen an Orte, an denen man lange nicht mehr gewesen<br />
ist. Das sei nicht mit Bernie Taupin abgesprochen gewesen, behauptet<br />
John. Zwar ist das Album eine Art Rückschau, aber ohne dabei in Nostalgie<br />
zu verfallen. Der Sänger sieht es als eine Hommage an die Weisheit<br />
des Alters und an die Toten.<br />
«Alte Menschen werden in unserer Gesellschaft an den Rand gedrückt.<br />
Das ist ein Fehler», klagt er an. «Man sollte sich vielmehr die Erfahrungen<br />
der Alten zunutze machen. Kinder und alte Leute sagen <strong>im</strong>mer die Wahrheit.<br />
Und ohne die Menschen, die in den beiden Weltkriegen gekämpft<br />
haben und für unsere Freiheit gestorben sind, würde es mich gar nicht<br />
geben. Diese Menschen gaben ihr Leben, um die Welt zu verändern. An<br />
den Gedenktagen für die Gefallenen muss ich <strong>im</strong>mer weinen, sobald ich<br />
den Fernseher anschalte.»<br />
Eigentlich hatte der extravagante Entertainer vor, <strong>im</strong> Mai in Las Vegas<br />
eine Reihe von «Million Dollar Piano»-Konzerten zu spielen. Aber eine<br />
Blinddarmentzündung machte ihm einen Strich durch die Rechnung.<br />
Inzwischen ist er genesen und verspricht, die Auftritte <strong>im</strong> September<br />
und <strong>Oktober</strong> nachzuholen.<br />
Hoffen wir, dass es Elton John in der Glitzerstadt besser ergehen wird als<br />
einst Elvis Presley. Der nämlich blieb in Las Vegas bis an das Ende seiner<br />
Tage hängen und verfiel dort dem Kult des Kitschigen.<br />
Elton John – The Diving Board (Universal)<br />
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