10.06.2017 Aufrufe

Ostbayern-Kurier Juni 2017 (Süd-Ausgabe)

Heimatzeitung für Stadt und Kreis Regensburg plus Umgebung

Heimatzeitung für Stadt und Kreis Regensburg plus Umgebung

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

www.ostbayern-kurier.de 19 Kreis <strong>Ostbayern</strong> Schwandorf www.ostbayern-kurier.de 19<br />

dass nichts schief geht”<br />

Patientenakten: überlastetes Klinikpersonal demonstriert am 17. <strong>Juni</strong> in Regensburg<br />

Schwestern mit Hochdruck<br />

mit einer Patientin beschäftigt,<br />

die unter schwerer<br />

Demenz leidet. Wie Herr<br />

Mayer auch. Als Erika zurück<br />

kommt, sitzt er Gottseidank<br />

noch vor dem Waschbecken.<br />

Nun hofft sie, dass sich der<br />

alte Mann selbst gewaschen<br />

hat. Wissen kann sie es<br />

nicht. Herr Mayer hat das<br />

längst vergessen.<br />

werden behandelt wie Nutzvieh<br />

im Stall“, schimpft sie.<br />

Erika ist alleinerziehend, organisiert<br />

ihr Berufsleben mit<br />

Hilfe der Oma, die im selben<br />

Haus wohnt. Anders würde<br />

es nicht gehen. Aus Angst<br />

um den Job hat sie jahrelang<br />

geschwiegen. „Die Situation<br />

ist immer unhaltbarer geworden“,<br />

sagt sie.<br />

Medikamente vergessen<br />

Die Dauerbelastung führt<br />

Fehler herbei. „Medikamenteneingabe!<br />

Vergessen!“,<br />

saust es durch Erikas Kopf.<br />

Der Laufschritt ist die normale<br />

Fortbewegungsart.<br />

Personal fehlt an allen Ecken<br />

und Enden. Erika hat genug<br />

und schreibt einen Versetzungsantrag,<br />

da sie hofft,<br />

es wird in einer anderen<br />

Abteilung besser.<br />

Jetzt gehört zu ihrer Schicht<br />

die Betreuung von vier<br />

Intensiv- und zehn weiteren<br />

Patienten. Erika müsste bei<br />

denen jetzt Vitalzeichen<br />

messen. Keine Zeit. Ebenso<br />

wenig wie für die ärztlichen<br />

Anordnungen aus der Visite.<br />

Darum wird sich der Nachtdienst<br />

kümmern müssen.<br />

Dadurch verzögern sich die<br />

medizinischen Maßnahmen<br />

um einen Tag.<br />

Erika klingt immer schuldbewusster.<br />

Obwohl die<br />

intelligente junge Frau weiß:<br />

Es liegt ja nicht an ihr. Es<br />

liegt daran, dass die Krankenhäuser<br />

zu wenige wie sie<br />

beschäftigen.<br />

Zu Lasten der Patienten<br />

Der Mangel geht zu ihren<br />

Lasten, er geht aber auch zu<br />

Lasten der Patientenversorgung.<br />

„Pillen, die sie nüchtern<br />

nehmen sollten, werden<br />

ihnen von uns gesammelt mit<br />

anderen Tabletten nach dem<br />

Frühstück verabreicht – so<br />

geht das schneller“, sagt die<br />

Schwester. Schmerzmittel<br />

vor Verbandswechsel? „Geben<br />

wir nicht, weil wir keine<br />

Zeit haben zu warten, bis die<br />

Wirkung eintritt.“ Erika hat<br />

sich jetzt in Rage geredet.<br />

Sie schaut sich auch seltener<br />

um in dem Café.<br />

Sie geht generell lieber in den<br />

Spät- als in den Frühdienst<br />

und nimmt in Kauf, weniger<br />

Wir haben das bayerische<br />

Gesundheitsministerium<br />

mit Erikas Schilderungen<br />

konfrontiert. Die Antworten<br />

lesen Sie auf S. 20.<br />

Wie Erika ergeht es vielen Mitarbeitern in der Pflege: Sie sind völlig überlastet und haben<br />

kaum genug Zeit für die Grundversorgung der Patienten. Bild: georgerudy / fotolia.de<br />

Zeit mit ihrer Tochter zu<br />

haben. Auch dort zwingt der<br />

akute Mangel an Pflegekräften<br />

zu faulen Kompromissen.<br />

„Aber morgens ist bei mir<br />

das Gefühl der Hilflosigkeit<br />

größer“, sagt sie. Abends<br />

bekommen die Patienten<br />

gerne Pudding verabreicht.<br />

„Das geht schneller als Brote<br />

schmieren. Zu zweit sind wir<br />

für 30 Patienten zuständig.“<br />

Die zwei Kolleginnen sollten<br />

diese 30 Menschen mobilisieren<br />

– das bleibt auf der<br />

Strecke. „Alleine schaffst du das<br />

schon wegen des Gewichts<br />

oft gar nicht“, weiß Erika.<br />

Gespräche? Keine Zeit<br />

Patienten- und Angehörigengespräche?<br />

Die machen<br />

zusätzlichen Stress, weil<br />

die Zeit hinterher woanders<br />

fehlt. Dann werden Maßnahmen<br />

in die Patientenkarteien<br />

eingetragen, die gar nicht<br />

erfolgt sind. „Völlig üblich“,<br />

sagt Erika. „Ich bin wirklich<br />

gewissenhaft, aber auch mir<br />

passiert es immer wieder,<br />

dass ich einen Patienten auf<br />

der Toilette vergesse.“<br />

Keine Pause<br />

Statt der gesetzlich vorgeschriebenen<br />

Pause, die<br />

zwar dokumentiert, aber<br />

nicht genommen wird, füllt<br />

Erika die Tablettenschalen<br />

für morgen. So wirklich<br />

dabei bleiben kann sie aber<br />

nicht, immer wieder wird sie<br />

weggerufen und muss einen<br />

Patienten zur Toilette bringen,<br />

einen Tropf wechseln<br />

oder eine unangenehme<br />

Überraschung beseitigen.<br />

In der Nachtschicht bietet<br />

sich ein ähnliches Bild. Normalerwiese<br />

sollten die Patienten<br />

alle zwei Stunden umgelagert<br />

werden. „Wir sind<br />

froh, wenn wir das zwei Mal<br />

pro Nacht schaffen“, erklärt<br />

Erika. Nacht-Antibiotika,<br />

Kontrollgänge: Man kann im<br />

Dauerstress so schnell so<br />

wichtige Sachen vergessen.<br />

40 Patienten pro Schwester<br />

Eine Schwester muss<br />

alleine bis zu 40 Patienten<br />

„betreuen“. Brennt nebenan<br />

der Baum, muss sie die<br />

Station verwaist zurücklassen.<br />

Schwierige Patienten?<br />

„Manchmal fixieren wir sie,<br />

wenn sie sonst Gefahr laufen<br />

würden, zu stürzen. Ohne<br />

richterliche Anordnung. Weil<br />

es nicht anders geht.“<br />

Der Kaffee in ihrem Glas<br />

muss inzwischen kalt sein.<br />

Erika nimmt sich nicht die<br />

Zeit, ihn zu trinken. Sie erzählt<br />

weiter vom Nachtdienst.<br />

Wie Nutzvieh<br />

Wenn weder Früh- noch<br />

Spätdienst dazu gekommen<br />

sind, die Ein- und Ausfuhrbilanz<br />

eines Patienten zu<br />

erstellen, dann schätzt die<br />

Nachtschicht auf Basis der<br />

Werte vom Vortag – nur,<br />

damit in der Akte etwas drin<br />

steht. Ein Schmu, der die<br />

Patienten teuer zu stehen<br />

kommen kann.<br />

Dass in dieser Situation von<br />

Gesprächen mit Sterbenden,<br />

besonderer Körperpflege,<br />

Fußpflege und kleinen Höflichkeiten<br />

nur geträumt werden<br />

kann, macht Erika wütend.<br />

„Das wollen meine Kolleginnen<br />

und ich den Menschen<br />

gerne geben, aber wir<br />

Nun ist das Maß voll für Erika.<br />

Sich wieder versetzen zu<br />

lassen oder in einer anderen<br />

Klinik zu bewerben, hat auch<br />

keinen Sinn. „Wir müssen<br />

gemeinsam was ändern.”<br />

Deshalb arbeitet sie jetzt<br />

aktiv bei der Gewerkschaft<br />

mit, ein Betriebsrat ist in<br />

der Vorbereitung. Sie will,<br />

dass die Leser „einfach<br />

mal mitkriegen, was sich in<br />

Wirklichkeit im Krankenhaus<br />

abspielt“.<br />

Große Pflege-Demo<br />

Geld für mehr Pflegekräfte<br />

wäre genügend vorhanden,<br />

davon ist sie überzeugt.<br />

Rekord-Überschüsse bei<br />

den Krankenkassen, Privat-<br />

Unternehmen mit teuerem<br />

Management und hohen Aktienkursen<br />

sowie eingefrorene<br />

Arbeitgeber-Beiträge,<br />

dazu Zuzahlungen an allen<br />

Ecken und Enden.<br />

„Es geht nicht darum, den<br />

Standort Deutschland zu sichern,<br />

sondern darum, eine<br />

kleine reiche Clique immer<br />

noch reicher zu machen – auf<br />

Kosten der Gesundheit und<br />

des Lebens von Millionen<br />

Kassenpatienten“, ist sich<br />

Erika sicher.<br />

Am 17. <strong>Juni</strong> wird sie daher<br />

mitmarschieren bei der<br />

großen Pflege-Demo in<br />

Regensburg. Und sie hat<br />

schon drei ihrer Kolleginnen<br />

davon überzeugen können,<br />

ebenfalls mitzukommen.<br />

Was sind Ihre persönlichen<br />

Erfahrungen in<br />

Krankenhäusern, sei<br />

es als Patient/in oder<br />

Beschäftigte/r? Schreiben<br />

Sie uns bitte an<br />

redaktion@ostbayernkurier.de.<br />

Auf Wunsch<br />

werden Einsendungen<br />

anonym behandelt.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!