BOLD THE MAGAZINE No.33
REVOLUTION SPECIAL TOPIC: CAR | DO YOUR THING: SEAT ARONA | EXKLUSIV IM INTERVIEW: LEWIS HAMILTON | LG: DIE ESSENZ DES GUTEN GESCHMACKS | DESIGNER HUSSEIN AL ATTAR | VISIONÄR MARCEL WANDERS
REVOLUTION
SPECIAL TOPIC: CAR | DO YOUR THING: SEAT ARONA | EXKLUSIV IM INTERVIEW: LEWIS HAMILTON | LG: DIE ESSENZ DES GUTEN GESCHMACKS | DESIGNER HUSSEIN AL ATTAR | VISIONÄR MARCEL WANDERS
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LIFESTYLE | REPORTAGE<br />
<strong>BOLD</strong> <strong>THE</strong> <strong>MAGAZINE</strong> | 45<br />
liegend zu sein scheint, dass ein Barbier<br />
selbst Bart trägt, blieb Hussein Seif<br />
jahrelang bartlos. Doch spätestens, als<br />
Holzfällerlook und Hipster-Bärte sogar<br />
in Deutschland zum Modeaccessoire<br />
wurden, konnte er nicht mehr widerstehen.<br />
Nach verschiedenen Längen und<br />
Formen hat er seinen Traumbart gefunden.<br />
„Meine Frau mag ihn leider nicht,<br />
weil er kratzt“, berichtet Seif, während<br />
er den Bart des Kunden vorsichtig ausbürstet.<br />
Abrasieren würde er seinen Vollbart<br />
jedoch für kein Geld der Welt. Er<br />
mache aus ihm erst den Mann, der er sein<br />
möchte, er sei Ausdruck seines Charakters<br />
und eine Möglichkeit, sich abzuheben.<br />
Ein Alleinstellungsmerkmal.<br />
Obwohl es so scheint, als werde jeder<br />
zweite Mann plötzlich zum Bartträger<br />
und Barbershops wie Pilze aus<br />
dem Boden schießen, ist die männliche<br />
Gesichtsbeharrung eigentlich ein<br />
uraltes Accessoire. Nur das Bewusstsein<br />
dafür habe sich neu entwickelt, so Seif.<br />
Denn nicht erst seit gestern symbolisiere<br />
der Bart Stärke und Souveränität.<br />
Bereits die frühen Ägypter setzten vor<br />
über 6.000 Jahren erste Trends in Sachen<br />
Bartmode. Der phallusartige, geflochtene<br />
Zeremonialbart – auch Königsbart<br />
genannt – war ausschließlich den<br />
Pharaonen vorbehalten und überwiegend<br />
eine künstliche, am Kinn befestigte<br />
Attrappe, weil die eigene Gesichtsbehaarung<br />
oft nicht ausreichte. Sogar<br />
weibliche Pharaonen trugen ihn, weil<br />
sie auf die Insignie der Macht nicht<br />
verzichten wollten. Ein paar Jahrtausende<br />
später, in der griechischen Antike,<br />
galt für Normalbürger Rasurzwang,<br />
während sich die Götter des Olymp und<br />
Intellektuelle wie Platon und Sokrates mit<br />
Bart schmückten. Die Rasur wurde sogar<br />
zur Bestrafung eingesetzt, denn auch im<br />
antiken Griechenland symbolisierte ein<br />
schön gelockter Vollbart Stolz und Männlichkeit.<br />
Ab dem 19. Jahrhundert wandelte<br />
sich der Bart zum politischen Statement.<br />
Karl Marx' wallende Mähne erinnert im<br />
ersten Moment zwar an die Haarpracht<br />
des Weihnachtsmanns, war aber vielmehr<br />
ein zeitgenössisches Symbol der<br />
Revolution. Dieser sogenannte „Revoluzzerbart“<br />
entstand mit der französischen<br />
Revolution um 1830, verbreitete sich ab<br />
1848 auch in Deutschland und hielt sich<br />
in Revoluzzer-Kreisen bis ins 20. Jahrhundert.<br />
Berühmte Träger waren unter<br />
anderem Che Guevara und Fidel Castro.<br />
Bei Hussein Seif steht weniger der Revolutionsgedanke,<br />
als vielmehr der besondere<br />
Charakter des Bartes im Vordergrund.<br />
Seine Kunden sollen ein Gefühl<br />
von Exklusivität verspüren, wenn sie<br />
mit frisch gestutztem und gepflegtem<br />
Bart den Salon verlassen. „Ein Mann mit<br />
Bart ist sinnlich, männlich und hat eine<br />
gewisse Ausstrahlung“, beschreibt der<br />
Herrenfriseur. Jeder auf seine Art, denn<br />
kein Bart sei wie der andere, und jeder<br />
Mann habe eine ganz eigene Beziehung<br />
dazu. Zudem seien Bärte nur dann typgerecht,<br />
wenn sie die Gesichtslinien harmonisch<br />
ergänzen und unterstreichen. Wie<br />
vielseitig sie sein können, zeigen zahlreiche<br />
Schwarz-Weiß-Fotografien, die<br />
neben Vinyl und echten Geweihen die<br />
Wände des Kücük Istanbuls schmücken:<br />
klassische Schnauzer, Koteletten- und<br />
Ziegenbärte, Vollbärte nach „Holzfäller-<br />
Art“, Henriquatre-Bärte wie der von Jan<br />
Josef Liefers in seiner Rolle als Tatort-<br />
Professor Boerne.<br />
Für die Wanddekoration haben sich<br />
sogar einige von Seifs Stammkunden<br />
ablichten lassen. „Bei mir hängen keine<br />
unbekannten Models, sondern ganz<br />
normale Menschen“, betont der Barbier<br />
stolz. Seine Stammkunden, die alle zwei<br />
bis vier Wochen vorbeikommen, kennt<br />
er selbstverständlich beim Namen.<br />
Zu jedem könne er eine Geschichte<br />
erzählen – lustig, ernst, intim. Bei ihm<br />
gebe es nicht nur die perfekte Nassrasur,<br />
sondern von Anfang an eine persönliche<br />
Beziehung, ganz nach dem Motto:<br />
Komm als Fremder, geh als Freund. „Ich<br />
biete eine behagliche Atmosphäre, in der<br />
sich meine Kunden wohlfühlen und fallen<br />
lassen können“, erklärt Seif. Das Herrenzimmer<br />
mit Zigarrenlounge im hinteren<br />
Teil des Ladens trägt seinen Teil dazu<br />
bei. Gespräche über Komplexe aufgrund<br />
von Geheimratsecken, Haarausfall oder<br />
über persönliche Schicksalsschläge<br />
sind hier keine Seltenheit. Mit jedem<br />
fallenden Bartstoppel offenbare sich die<br />
Seele des Mannes auf dem Frisiersessel.<br />
„Ein Striptease der etwas anderen Art“,<br />
scherzt Hussein Seif mit einem Augenzwinkern.<br />
WEITERE INFORMATIONEN:<br />
www.kücükistanbul.de