Grundschule aktuell 134
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Thema: Flüchtlingskinder – Herausforderungen und Chancen<br />
Werner Sacher<br />
Elternarbeit mit Flüchtlingen<br />
und Asylsuchenden<br />
Die schulische Versorgung der Kinder von Flüchtlingen und Asylsuchenden<br />
ist eine enorme Herausforderung für Schule und Lehrkräfte. Über all den zu<br />
bewältigenden organisatorischen Problemen wird leicht übersehen, dass auch<br />
der Bildungserfolg dieser Kinder in hohem Maße davon abhängt, ob es gelingt,<br />
eine Bildungs- und Erziehungspartnerschaft mit ihren Eltern aufzubauen (u. a.<br />
Jeynes 2011; Fishman 2009; Oyserman et al. 2007).<br />
Leider liegen in Deutschland noch<br />
kaum ausreichende Erfahrungen<br />
hinsichtlich der Elternarbeit<br />
mit Flüchtlingen und Asylsuchenden<br />
vor und erst recht nicht einschlägige<br />
wissenschaftliche Untersuchungen.<br />
Deshalb verwerten die folgenden<br />
Ausführungen Erkenntnisse aus den<br />
Einwanderungsländern Großbritannien,<br />
Kanada, Neuseeland, Australien,<br />
Schweden und den USA, die schon<br />
länger mit ähnlichen Problemen befasst<br />
sind (Beau regard 2014; Fawzia<br />
2012; Lewig et al. 2009; Manyena 2007;<br />
Mohmaoud 2013; Ibrahim 2012; Rutter<br />
2006; Victorian Foundation 2015).<br />
Zur Situation der Flüchtlinge<br />
und Asylsuchenden<br />
Zunächst gilt es, sich klar zu machen<br />
und zu verstehen, in welcher schwierigen<br />
Lebenslage sich die meisten Flüchtlinge<br />
und Asylsuchenden befinden:<br />
Natürlich fehlen den meisten zunächst<br />
einmal ausreichende deutsche<br />
Sprachkenntnisse. Die Kinder lernen<br />
durch den Schulbesuch am schnellsten<br />
Deutsch, ihre Mütter in der Regel am<br />
langsamsten, weil ihr Leben meistens<br />
auch bei uns stark auf den Binnenraum<br />
der Familie fokussiert ist.<br />
Aber mit dem Erwerb deutscher<br />
Sprachkompetenz sind noch längst<br />
nicht alle Schwierigkeiten ausgeräumt:<br />
Viele Flüchtlinge und Asylsuchende<br />
sind emotional stark irritiert und<br />
verunsichert. Sie wissen nicht, ob sie<br />
wirklich eine Bleibeperspektive haben.<br />
Viele sind durch Erlebnisse im Herkunftsland<br />
und auf der Flucht traumatisiert<br />
und leiden unter vielfältigen psychischen<br />
Problemen. Kinder z. B. sind<br />
häufig entweder verschlossen oder aggressiv<br />
und können sich schlecht konzentrieren.<br />
Manche Eltern haben einen<br />
ausgeprägten Protektionismus bezüglich<br />
ihrer Kinder entwickelt.<br />
Dazu kommen Probleme der sozioökonomischen<br />
und sozialen Situation:<br />
Die finanziellen Ressourcen der Flüchtlinge<br />
und Asylsuchenden sind in der<br />
Regel erschöpft. Die Unterstützung, die<br />
sie in Deutschland erhalten, sichert nur<br />
mit Mühe das Existenzminimum. Oft<br />
ist mit der Flucht ein erheblicher Statusverlust<br />
verbunden – im Herkunftsland<br />
gut situierte Personen finden sich nun<br />
inmitten weniger privilegierter Gruppen<br />
und in der Position mittelloser<br />
Bittsteller. Ein Teil der Flüchtlinge und<br />
Asylsuchenden hat nur geringe Bildung<br />
oder es sind sogar Analphabeten. Viele<br />
wohnen in beengten Gemeinschaftsunterkünften.<br />
Kontakte zu Einheimischen<br />
sind selten, und oft wird dabei Rassismus<br />
und Ausländerhass erlebt. Häufig<br />
sind Familien durch die Flucht auseinandergerissen.<br />
Viele Kinder haben ihre<br />
Eltern verloren oder leben von ihnen<br />
getrennt bei Verwandten oder Bekannten.<br />
(Deshalb sind im Folgenden unter<br />
»Eltern« immer auch andere Erwachsene<br />
zu verstehen, welche Verantwortung<br />
für die Kinder übernommen haben.)<br />
Menschen, die im Herkunftsland in<br />
Großfamilien lebten, sind nun auf die<br />
Kernfamilie reduziert und müssen die<br />
Unterstützung der Großfamilie entbehren.<br />
Dazu kommen gravierende Veränderungen<br />
der traditionellen Rollen:<br />
Eingespielte Geschlechterrollen werden<br />
in Frage gestellt. Häufig wird ein »role<br />
reversal« zwischen Eltern und Kindern<br />
vollzogen: Die bald des Deutschen<br />
mächtigeren Kinder werden auf vielfältige<br />
Weise zu Mediatoren für den Zugang<br />
zur neuen Lebenswelt, was häufig<br />
mit Autoritätsverlusten der Eltern verbunden<br />
ist. Aber auch die Kinder leiden<br />
unter der »Parentifzierung«, welche sie<br />
durchlaufen: Sie müssen nun Erwachsene<br />
und Kinder zugleich sein und große<br />
Verantwortung übernehmen, und sie<br />
erleben ihre Eltern nicht mehr als stark<br />
und kompetent, sondern als hilfsbedürftig<br />
und schwach.<br />
Erhebliches Konfliktpotenzial birgt<br />
auch das Verhältnis zur Schule: Zwar<br />
ist den meisten Flüchtlingen und Asylsuchenden<br />
bewusst, dass Bildung große<br />
Bedeutung für die gelingende Integration<br />
hat, und sie streben deshalb hohe<br />
Schulabschlüsse für ihre Kinder an. In<br />
der Regel fehlt ihnen aber eine differenziertere<br />
Kenntnis des Schulsystems in<br />
Deutschland, die es erst ermöglichen<br />
würde, solche Aspirationen zu realisieren.<br />
In vielen Herkunftsländern ist die<br />
Schule allein zuständig für Aufgaben<br />
der Bildung. Dass sich Eltern in Aufgaben<br />
der Unterrichtsgestaltung einmischen<br />
oder auch nur uneingeladen Kontakt<br />
mit der Schule aufnehmen, gilt als<br />
unhöflich und respektlos. In Deutschland<br />
hingegen wird man als »schwer erreichbar«<br />
und letztlich an der Bildung<br />
seiner Kinder uninteressiert angesehen,<br />
wenn man keinen Kontakt zu ihrer<br />
Schule unterhält. In den deutschen<br />
Schulen werden andere Erziehungsstile<br />
praktiziert, als sie in den meisten Herkunftsländern<br />
üblich sind. Eine an der<br />
Entwicklung der Autonomie orientierte<br />
Erziehung erleben Flüchtlinge und<br />
Asylsuchende aber oft als undiszipliniert<br />
und chaotisch und das entsprechende<br />
Verhalten der Kinder als ungehörig<br />
und respektlos. Nicht auf Anhieb<br />
zu verstehen ist für Flüchtlinge und<br />
Asylsuchende auch der säkulare Charakter<br />
der Schule in Deutschland, d. h.<br />
die Tatsache, dass sich die Schule aus<br />
der weltanschaulichen Werteerziehung<br />
heraushält. Oft leiten sie daraus den<br />
Eindruck ab, die Schule untergrabe die<br />
islamische Werteordnung und beraube<br />
ihre Kinder der angestammten kulturellen<br />
Identität.<br />
16 GS <strong>aktuell</strong> <strong>134</strong> • Mai 2016