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Grundschule aktuell 134

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Thema: Flüchtlingskinder – Herausforderungen und Chancen<br />

Catrin Boldebuck<br />

Deutsche Schulakademie,<br />

Öffentlichkeitsarbeit und Presse<br />

dung tun?«, »Wie lassen sich Freiwillige<br />

einbinden?«, oder »Schüler helfen<br />

Flüchtlingen«. Frage, Projektidee, Vernetzungswunsch<br />

– insgesamt 46 Anliegen<br />

kleben schließlich an einer Wand.<br />

Nach der letzten Eingabe scharen sich<br />

die Teilnehmenden davor. Konzentrierte<br />

Blicke wandern noch einmal über<br />

die Vorschläge, Zeiten und Raumnummern<br />

werden notiert, die erste Arbeitsphase<br />

beginnt.<br />

Auch Amina, 22 Jahre, liegt etwas<br />

auf dem Herzen. Die junge Frau floh<br />

mit 17 Jahren alleine aus Dagestan, einer<br />

russischen Kaukasusrepublik, und<br />

lebt seitdem in Kiel. Warum sie fliehen<br />

musste, darüber will sie nicht sprechen<br />

– »zu gefährlich«. Statt über die Vergangenheit<br />

will sie über die Zukunft diskutieren,<br />

ihre Zukunft an einer deutschen<br />

Schule: »Wie soll ich als Schülerin<br />

hundert Prozent Leistung geben, wenn<br />

ich gleichzeitig Angst habe, zurückgeschickt<br />

zu werden?«, fragt sie. Zehn<br />

Personen diskutieren mit ihr über den<br />

Duldungsstatus, ein Lehrer sagt: »Die<br />

Angst vor Abschiebung untergräbt unsere<br />

Bildungsarbeit, viele Schüler sind<br />

demotiviert.« Eine Frau schlägt vor,<br />

Amina könnte sich an die Härtefallkommission<br />

ihres Bundeslandes wenden.<br />

»Deine Schule kann dir in einem<br />

Gutachten ›nachweisbare Integrationsleistungen‹<br />

attestieren«, empfiehlt sie.<br />

Dass Amina die Schule wichtig ist,<br />

steht außer Frage. Obwohl sie anfangs<br />

wegen geringer Deutschkenntnisse auf<br />

eine Förderschule kam, hat sie mittlerweile<br />

den Hauptschulabschluss in<br />

der Tasche. »Am wichtigsten war meine<br />

Lehrerin, sie hat mich immer motiviert«,<br />

sagt Amina. Jetzt geht sie in eine<br />

Klasse mit besonderer Sprachförderung<br />

und peilt den Realschulabschluss<br />

an. »Deutsch sprechen kann ich ganz<br />

gut, nur das Schreiben fällt mir noch<br />

schwer«, sagt sie. »Aber ich bin Widder,<br />

ich kämpfe!«<br />

Auf den Fluren des Tagungswerks<br />

wird es laut, eigenverantwortlich beenden<br />

die Teilnehmerinnen und Teilnehmer<br />

ihre Veranstaltungen. Nach einer<br />

Stunde steht eine neue Runde an. Die<br />

Dynamik ist gewollt, sie soll Denkprozesse<br />

und den Austausch fördern. Intensive<br />

Gespräche überall, Gemurmel,<br />

Lachen, Fragen an die Schülerinnen<br />

und Schüler mit Fluchterfahrung. Die<br />

Menschen hier wollen voneinander lernen<br />

und es gemeinsam anpacken. Ihre<br />

Energie und ihr Optimismus sind spürbar,<br />

Tenor: »Wir schaffen das!«.<br />

Es werden aber auch Sorgen und<br />

Ängste angesprochen. Ein Schulleiter<br />

bittet in der nächsten Runde um den<br />

Erfahrungsaustausch: »Wie sollten wir<br />

uns mit besonderen kulturellen oder religiösen<br />

Ausprägungen verhalten?« Woanders<br />

geht es um die Frage, wie sich<br />

konfliktfrei unterrichten lässt, wenn<br />

Willkommen in der Kleinen Kielstraße<br />

Die <strong>Grundschule</strong> in der Dortmunder<br />

Nordstadt wurde 2006 mit dem<br />

Hauptpreis des Deutschen Schulpreises<br />

ausgezeichnet. Die rund<br />

440 Schülerinnen und<br />

Schüler stammen aus<br />

über 30 Nationen, im<br />

letzten Jahr kamen<br />

48 Kinder neu hinzu.<br />

Rektorin Gisela<br />

Schultebraucks-Burgkart<br />

erklärt im Interview<br />

das Konzept der<br />

Kleinen Kielstraße, das ab<br />

Herbst 2016 in regionalen Lernforen<br />

der Deutschen Schulakademie vorgestellt<br />

werden soll.<br />

Frau Schultebraucks-Burgkart,<br />

wie unterrichten Sie Kinder ohne<br />

Deutschkenntnisse?<br />

An unserer Schule haben wir das Konzept<br />

der sofortigen Aufnahme der neu<br />

zugewanderten Kinder in die Regelklasse<br />

entwickelt. Das verläuft ganz<br />

unkompliziert, da sowohl die Klassen<br />

1 und 2 als auch die Klassen 3 und 4<br />

jahrgangsübergreifend organisiert sind.<br />

Eine Patin oder ein Pate, ein Kind<br />

gleicher Herkunftssprache,<br />

wird ihm zur Seite gestellt.<br />

Dieses Kind sorgt für die<br />

Unterstützung bei alltäglichen<br />

Routinen: Wo<br />

ist die Garderobe? In<br />

welche Mappe kommt<br />

Sachkunde? Sich in der<br />

Pause um seinen Schützling<br />

zu kümmern, gehört ebenfalls zu<br />

den Aufgaben. Die Kinder tauchen in<br />

ein deutsches »Sprachbad« ein, erleben<br />

aber gleichzeitig auch das Einbeziehen<br />

der Herkunftssprache. In »Deutsch<br />

intensiv«-Kursen bauen sie systematisch<br />

ihren deutschen Wortschatz<br />

auf. Sich wiederholende Rituale und<br />

verlässliche Strukturen ermöglichen<br />

durch wiederkehrende Sprachmuster<br />

ein rasches Sich-zurecht-Finden. Der<br />

Unterricht ist darauf ausgerichtet, dass<br />

jedes Kind, anknüpfend an sein Vorwissen,<br />

mit Hilfe von individuellen<br />

Plänen, wie zum Beispiel dem so genannten<br />

»Mathe-Rad«, in seinem Lerntempo<br />

seine Kompetenzen erweitern<br />

kann. Die größte Herausforderung besteht<br />

in der gleichzeitigen Einführung<br />

in die mündliche deutsche Sprache und<br />

in den Schriftspracherwerb.<br />

Wie gehen Sie dabei vor?<br />

Lesen lernen Kinder bei uns mit Kinderliteratur.<br />

Vom ersten Tag an lernen<br />

sie Schreibtabelle kennen. Die Buchstaben<br />

und Laute wohnen in verschiedenen<br />

Fenstern – die Kinder lernen<br />

sie als Lautgebärden kennen, was eine<br />

nachhaltige Verankerung unterstützt.<br />

Zusätzlich erhält jedes neu zugewanderte<br />

Kind täglich zwei Stunden außendifferenzierten<br />

Förderunterricht<br />

»Deutsch intensiv«. Die Gruppen sind<br />

nach Kindern aufgeteilt, die bereits<br />

eine Schriftsprache erworben haben,<br />

und Kindern, die ohne Schriftspra­<br />

4 GS <strong>aktuell</strong> <strong>134</strong> • Mai 2016

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