08.02.2018 Aufrufe

soziologie heute Oktober 2011

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

<strong>Oktober</strong> <strong>2011</strong> <strong>soziologie</strong> <strong>heute</strong> 25<br />

den protestantischen Kirchen die weitgehende Freiheit der Religionsausübung. Das Protestantengesetz von 1961<br />

regelte das Verhältnis zwischen den protestantischen Kirchen und dem Staat neu im Sinne voller innerer Freiheit der<br />

Kirchen.<br />

Das Staatsgrundgesetz von 1867 gesteht den staatlich anerkannten Kirchen und Religionsgemeinschaften den Status<br />

einer „Körperschaft öffentlichen Rechts“ samt dem Recht auf öffentliche Religionsausübung zu (Artikel 14-16). 1912<br />

wurde im Kaiserreich Österreich durch das Islamgesetz der Islam als Religionsgesellschaft anerkannt und den Muslimen<br />

Selbstbestimmungsrecht zugesichert. Artikel 63 des Vertrags von Saint Germain (im Verfassungsrang stehend)<br />

räumt auch den Anhängern nicht anerkannter Religionen die öffentliche Religionsausübung ein.<br />

Es war eine leidvolle Geschichte, die (ohnehin bei weitem nicht alle) Gesellschaften zur Überzeugung brachte, dass<br />

die Menschen für ihre Lebensgestaltung und -entfaltung selbst verantwortlich sein können und sollen. Es waren<br />

aber zu keiner Zeit ausschließlich die politischen und religiösen Machthaber, die die Menschen bevormundeten,<br />

unterdrückten, ausbeuteten, quälten und töteten. Neid, Missgunst, Gier, Selbstsucht, Verblendung und Verhetzung<br />

gab es stets auch zwischen den Menschen innerhalb einer Schicht. So homogen kann eine Menschenmenge gar nicht<br />

sein, dass es nicht möglich wäre, eine Minderheit herauszupicken, die man verfolgen, ablehnen, jagen kann. Aber<br />

auch diesbezüglich haben wir (vielleicht nur vorübergehend?) gelernt. Moderne Rechtssysteme halten nicht nur die<br />

staatliche Gewalt gegenüber dem einzelnen in Zaum, sie schützen die Menschen auch vor den je anderen. Jenseits<br />

nationaler Gesetzgebung sichern die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (Art. 18) sowie die Europäische<br />

Menschenrechtskonvention (Art. 9) die Freiheit der Wahl und auch der Ausübung von Religion. Auch wenn ich nicht<br />

plane, Moslem zu werden und Burka zu tragen – das Recht darauf möchte ich mir nicht nehmen lassen.<br />

Im Erbe der Aufklärung kann es eigentlich nur einen Maßstab geben, anhand dessen Einschränkungen persönlicher<br />

Freiheit akzeptabel sind: die Vernunft. Demgemäß müssen derartige Restriktionen mit für alle nachvollziehbaren<br />

Gründen gerechtfertigt werden, genau diese aber sehe ich weit und breit nicht. Natürlich dürfen Praktiken einer<br />

ethnisch-kulturellen Gemeinschaft, die Personen in ihren Grundrechten beeinträchtigen, nicht akzeptiert werden.<br />

Entsprechend gehören wahrnehmbare und nachweisliche Unterdrückungsmaßnahmen gegenüber muslimischen<br />

Frauen unterbunden – genauso wie in jedem anderen Fall (was ja auch jenseits der muslimischen Gemeinde schwierig<br />

ist und keineswegs immer zufriedenstellend gelingt). Doch dass das Tragen einer Körperverhüllung (Burka) erzwungen<br />

sein kann rechtfertigt im vernünftigen Diskurs einfach nicht die Behauptung, dass es jedenfalls ein Symbol<br />

für Unterdrückung tatsächlich ist. Aber die Vernunft hat es offensichtlich schwer im 21. Jahrhundert.<br />

Alfred Rammer<br />

MMag. Dr., CR, geb. 1959, Studium der Theologie und anschließend der Soziologie in Linz, seit dem Jahr 1986 Religionsprofessor an der Höheren Technischen Bundeslehranstalt<br />

in Leonding, Ethikbeirat bei der Public Opinion GmbH, Vorstandsmitglied der Vereinigung für katholische Sozialethik in Mitteleuropa und seit 2008 Chefredaktionsmitglied<br />

bei <strong>soziologie</strong> <strong>heute</strong>. Forschung, Lehre und Publikationstätigkeit in den Bereichen Wissenschaftstheorie, Sozialphilosophie, Geschichte der Soziologie, Politische<br />

Soziologie sowie Wehrethik.<br />

Foto: Dieter Schütz /pixelio.de<br />

Foto: Alexandra Bucurescu/pixelio.de<br />

Foto: Alexandra Bucurescu/pixelio.de

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!