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soziologie heute Oktober 2011

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<strong>Oktober</strong> <strong>2011</strong> <strong>soziologie</strong> <strong>heute</strong> 31<br />

Public Observer<br />

Justitia – blind und unfrei aber geldgierig<br />

von Bernhard Martin<br />

Aktuelle Meinungsumfragen zeigen,<br />

dass das Unbehagen über vermeintliche<br />

bzw. tatsächliche Untätigkeit hiesiger<br />

Gerichte und weisungsgebundener<br />

Staatsanwaltschaften bei vermuteter<br />

Wirtschaftskriminalität und politischer<br />

Korruption wächst. Es besteht<br />

der Verdacht, dass die Gewaltenteilung<br />

aufgrund persönlicher und korporativer<br />

Netzwerke unter den staatlichen<br />

Funktionseliten nicht funktioniert.<br />

Die Judikative, der Montesquieu in<br />

seiner Staatstheorie die wichtige Rolle<br />

über Exekutive und Legislative zu entscheiden<br />

beimaß, erfüllt diese hohen<br />

Erwartungen nicht. Das mag daran<br />

liegen, dass der „Geist der [österreichischen]<br />

Gesetze“ nicht dem allgemeinen<br />

Geist der Völker entspricht.<br />

– Österreichs „Realverfassung“ ist<br />

ein teilweise noch aus der Monarchie<br />

stammender Wildwuchs, in welchem<br />

systemischer Amtsmissbrauch meist<br />

sanktionsfrei durchgeht.<br />

Auch im gerichtlichen Alltag wächst seit<br />

Jahr und Tag die Unzufriedenheit mit<br />

der Justiz: Im November 2007 wurden an<br />

Oberlandesgerichten Ombudsstellen eingerichtet.<br />

Seither verzeichnen diese mehr<br />

als 8400 Beschwerden von Bürgern und<br />

Bürgerinnen. Die am häufigsten genannten:<br />

Falschurteile und horrende Gerichtskosten.<br />

– Folge der kürzlich auch von der<br />

Rechtsanwaltskammer geäußerten Kritik:<br />

das staatliche profi t center Justiz hob die<br />

absurd hohe Kosten für Aktenkopien ab<br />

1. August <strong>2011</strong> gleich noch mal um 10 - 20<br />

Prozent an.<br />

Woran krankt das System? – Für die liberale<br />

Staatstheorie, die auf Vertrags- und<br />

Wahlfreiheit abstellt, war und ist die Judikative<br />

keine notwendige Staatsaufgabe.<br />

John Locke beschrieb checks and balances<br />

zwischen Exekutive und Legislative für<br />

föderal konstituierte Staaten als hinreichend<br />

stabilisierend. Hingegen am europäischen<br />

Kontinent, wo Absolutismus<br />

und Legitimitätsprinzip bis <strong>heute</strong> eine<br />

kulturelle Altlast gegenüber Demokratie<br />

und Verfassungsstaat darstellen, entstand<br />

aus der streitsüchtigen Juristerei<br />

eine dritte Staatsgewalt. – Die Idee von<br />

Montesquieu, dass Regierende sich an<br />

Gesetze hielten und bereit wären, die<br />

Macht über die Gesetze sich (von der Judikative)<br />

nehmen zu lassen, war allenfalls<br />

gut gemeint – siehe Berlusconi-Land.<br />

Als derselbe historische Irrweg wurde<br />

in Österreich die realitätsferne Kopfgeburt<br />

Rechtspositivismus ausgedacht und<br />

wird diese juristische Ideologie bis <strong>heute</strong><br />

konserviert, um unter seinesgleichen<br />

ungestört „Rechtsgeschäfte“ machen zu<br />

können und preistreiberische Gerichtsgebühren<br />

einzuheben. Mit wissenschaftshistorisch<br />

und rechtsphilosophisch anders<br />

inspirierten Demokratien bzw. konstitutionellen<br />

Monarchien verglichen, werden<br />

für die Justiz weitere typisch (alt-)österreichische<br />

Charakteristika deutlich: I(m<br />

föderale)n Österreich sind alle Gerichte<br />

Bundesgerichte und gegen gerichtliche<br />

Entscheidungen sind keine Verfassungsbeschwerden<br />

möglich. So judiziert eine<br />

Berufsgruppe nicht nur das eigene Privileg,<br />

sondern auch eine vordemokratische<br />

Staatsordnung mit Entscheidungen, die<br />

am Recht des Stärkeren/Zahlungskräftigeren<br />

orientiert werden. – Zuungunsten von<br />

Individualrechten und gegen jede Vorstellung<br />

von Gerechtigkeit.<br />

Adorno/Horkheimer schrieben in ihrer<br />

„Dialektik der Aufklärung“ im Kontext zu<br />

Gerechtigkeit, welche im Recht untergehe,<br />

und Gleichheit, dass die Binde über den Augen<br />

der Justitia nicht bloß bedeute, dass<br />

ins Recht nicht eingegriffen werden solle,<br />

sondern dass dieses nicht aus Freiheit<br />

stamme. – Was heißt das für die Demokratie?<br />

Etwa nicht, dass eingedenk der Verfassung<br />

alles Recht vom Volk ausgeht und die<br />

Bürger sich ihrer Grundfreiheiten sicher<br />

wähnen dürfen? Offenbar nicht vor Gerichten,<br />

da die „richterliche Freiheit“ derart<br />

interpretiert wird, dass in der Beweiswürdigung<br />

bloße „Glaubhaftmachungen“<br />

relevante Tatsachen überwiegen können.<br />

– Eine geradezu apostolische Überhöhung<br />

des Richteramtes, die eben nicht selten zu<br />

eklatanten Fehlurteilen über materiell gerechtfertigte<br />

Forderungen führt.<br />

Primat(en) der Politik<br />

Es darf bezweifelt werden, ob hierzulande<br />

eine reformorientierte politische Kraft<br />

existiert, die willens und in der Lage ist,<br />

aus der Zwischenkriegszeit stammende,<br />

nach 1945 restaurierte ständische Strukturen<br />

durch eine zeitgemäße Staats- und Verfassungsreform<br />

sowie eine ebenso überfällige<br />

wie grundlegende Justizreform mit<br />

der Europäischen Staatengemeinschaft in<br />

Einklang zu bringen.<br />

Ohne Reformdruck durch das Volk ist das<br />

Prinzip vom Primat der Politik eine Leerformel<br />

für Möchtegern-Staatsmänner. Aus<br />

reiner Pose gegenüber den von Banken<br />

kontrollierten Massenmedien schrecken<br />

Regierungspolitiker nicht davor zurück,<br />

sich international zum Affen zu machen.<br />

Wie jüngst mit dem Gekreische gegen die<br />

Budapester Entscheidung, das „Recht“<br />

von u.a. österreichischen Banken, ungarische<br />

„Häuslbauer“ mit teuren Fremdwährungskrediten<br />

auszuquetschen, gesetzlich<br />

beschneiden zu wollen. – In Ungarn<br />

ist der Konsumentenschutz als sozialpolitische<br />

Staatsaufgabe offenbar nicht an<br />

einen privaten Verein in Wien und die Arbeiterkammer<br />

ausgegliedert. Die ungarische<br />

Regierung kämpft aufgrund finanzieller<br />

Engpässe wegen der Schuldenpolitik<br />

korrupter Vorgängerregierungen für den<br />

Schutz ihrer Nation, was für hiesige Bankenschützer<br />

offenbar sekundär ist.<br />

In der Republik Österreich ist es jedenfalls<br />

so, dass die Legislative im Vergleich<br />

zu Exekutive und Judikative ein Randdasein<br />

führt. In autoritärer Tradition wird<br />

das „freie Mandat“ in demokratiepolitisch<br />

unerträglicher Weise unterdrückt; offen<br />

durch Klubzwang in den Regierungsparteien,<br />

versteckt durch existenzgefährdende<br />

Klagedrohungen etwa gegen einzelne,<br />

korruptionsbekämpfende Volksvertreter.<br />

Last exit direkte Demokratie<br />

Der Ausweg für Opposition und Volk eingedenk<br />

von Reformstau und rapide steigenden<br />

Schulden bis zur Staatsgefährdung<br />

muss lauten: Druck auf die Regierung mit<br />

Elementen direkter Demokratie ausüben.<br />

Jedoch am besten gleich mittels bindenden<br />

Volksabstimmungen und nicht bloß<br />

als Volksbefragung wie aktuell über die<br />

Zukunft des Bundesheeres oder als Volksbegehren<br />

zur Bildung. Weil diese werden<br />

in geübter Praxis durch Neuwahlen und<br />

einem Regierungswechsel von der politischen<br />

Agenda gestrichen.<br />

Das am Willen des Volkes orientierte Parlament<br />

möge daher künftig genauer darauf<br />

achten, Vertreter legitimistischer Staatspolitik<br />

in Exekutive und Judikative in den<br />

gebotenen Schranken – und tunlichst fern<br />

von der Legislative – zu halten.<br />

Dr. Bernhard Martin ist freischaffender Mediensoziologe in Wien.

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