soziologie heute Oktober 2011
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<strong>Oktober</strong> <strong>2011</strong> <strong>soziologie</strong> <strong>heute</strong> 7<br />
Nicht mehr aktuell sind die beiden „Ismen“ jeweils für sich genommen. Denn Liberalismus<br />
und Sozialismus hatten ihren Ausgangspunkt in ganz anderen Kontexten als den<br />
heutigen soziopolitischen und gesellschaftlichen Bedingungen: Bürgerlicher Liberalismus<br />
entwickelte sich im Kampf gegen die überkommene feudale Ordnung, das „ancien<br />
régime“. In der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft wurden Sozialismen eine unausweichliche<br />
Reaktion gegen die drohende und schließlich tatsächliche Proletarisierung<br />
der meisten in Abhängigkeit arbeitenden Menschen.<br />
Dieter Senghaas<br />
Professor am Institut für Interkulturelle<br />
und Internationale Studien<br />
an der Universität Bremen<br />
Beide politische Bewegungen haben im Laufe der Zeit schließlich in Teilen Europas zu<br />
einem von den jeweiligen „Ismen“ nicht vorhergesehenen Gesellschaftsmodell geführt:<br />
zu einem zwar immer noch optimierbaren, aber prinzipiell nicht hintergehbaren Profil<br />
der rechtsstaatlich-demokratischen Ordnung moderner Prägung und darin dem unabweisbaren<br />
Bemühen um Chancen- und Verteilungsgerechtigkeit, deren Ausmaße und<br />
Realisierung weiterhin umstritten sind. Auf diesem Wege ließen sich gesellschaftspolitische<br />
und kulturelle Konfliktfronten von sozial mobil werdenden und sich politisierenden<br />
Gesellschaften abfedern; es gelang, grundlegende Konflikte einigermaßen zivilisiert zu<br />
bearbeiten. Wo dieser konfliktreiche Prozeß jedoch mißlang, kamen korporatistisch-faschistische<br />
bzw. totalitäre Systeme, wenn auch langfristig erfolglos, an die Macht.<br />
Heute wiederholen sich in vielen Teilen der Welt (man denke derzeit an „Arabellion“) die<br />
grundlegenden gesellschaftspolitischen Kämpfe um politische Teilhabe und soziale Gerechtigkeit,<br />
die die Geschichte von Teilen Europas im 19. und 20. Jahrhundert kennzeichneten.<br />
Auch sehen sich die relativ konsolidierten liberal-sozialdemokratischen Länder in<br />
und außerhalb Europas in der Folge von Globalisierung und einer kopflos-blinden Sucht<br />
nach Deregulierung einer drohenden ordnungspolitischen Bestandsgefährdung ausgesetzt.<br />
Dem ist mit allem Nachdruck entgegenzuwirken, denn Verteilungsgerechtigkeit<br />
und Fairneß sind weiterhin unerläßliche Voraussetzungen einer zeitgemäßen modernen<br />
politischen Ordnung.<br />
Die Weltwirtschafts- und Finanzkrise hat eindeutig gezeigt, dass insbesondere im Finanzbereich<br />
nicht regulierte Märkte erhebliche Schäden für einzelne Länder, aber auch in globaler<br />
Hinsicht, anrichten können. Es stellt sich die Frage, was kann getan werden, dass<br />
derartige wirtschaftliche Zusammenbrüche, wie wir sie im Jahr 2008 und 2009 erlebt<br />
haben, nicht mehr passieren. Sicherlich wäre es auf der einen Seite ein vordringlichstes<br />
Ziel die Finanzmärkte aus globaler Sicht einheitlich zu regulieren, so zb. eine Transaktionssteuer<br />
einzuführen, Leerverkäufe von Aktien zu verbieten und den Computerhandel<br />
mit Aktien, Devisen und anderen Finanzprodukten so zu reglementieren, dass nicht ein<br />
Automatismus eintritt, wenn beispielsweise ein Computer anfängt, Aktien zu verkaufen,<br />
es die anderen auch machen und damit ein globaler Abwärtstrend ohne realwirtschaftliche<br />
Gründe ausgelöst wird.<br />
Liberalismus oder<br />
Sozialismus?<br />
Auf der anderen Seite hat die Weltwirtschaft von den globalen Finanzmärkten bzw. von<br />
dem globalen Handeln auch sehr viel profitiert. Große Volkswirtschaften wie China, Indien,<br />
Indonesien oder Brasilien sind zumindest teilweise zu erheblichem Wohlstand gekommen.<br />
Man sollte also das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Die Regulierung<br />
der Finanzmärkte ist notwendig. Eine Regulierung in ökosozialer Hinsicht ist es ebenso.<br />
Andererseits ist jedoch darauf zu achten, dass das marktwirtschaftliche Funktionsprinzip<br />
erhalten bleibt und nicht durch planwirtschaftliche Elemente ersetzt wird, denn mit<br />
planwirtschaftlichen Wirtschaftssystemen haben wir ja auch sehr schlechte Erfahrungen<br />
gemacht.<br />
Friedrich Schneider<br />
Professor am Institut für Volkswirtschaftslehre<br />
an der Johannes-<br />
Kepler-Universität Linz<br />
Gibt es nun einen Königsweg? Ich glaube kaum. Ein Wirtschaftssystem, das auf der<br />
Marktwirtschaft beruht, aber sowohl Markt- als auch Politikversagen minimiert, erfordert<br />
viel Pragmatismus und Einsicht und kann nur mit dem Willen aller Beteiligter errichtet<br />
werden. Es ist allerdings zur Zeit ein Gebot der Stunde, eine effektive Regulierung der<br />
Finanzmärkte energisch voranzutreiben und international durchzusetzen.