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BLICKWECHSEL 2018

Journal für deutsche Kultur und Geschichte im östlichen Europa. Schwerpunkthema: »Zwischen Trauer und Triumph. Das Jahr 1918 und seine Folgen im östlichen Europa«

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STADT IM STRUDEL<br />

17<br />

Bei Restaurierungsarbeiten gefundene<br />

jüdische Grabsteine und das Grabkreuz<br />

des im russisch-ukrainischen Krieg<br />

gefallenen Infanteristen Juri Golub<br />

(1991–2014) rahmen die Kapitel von<br />

Klevemans Buch über Lemberg/Lwiw.<br />

In der ersten Hälfte stellt der Autor<br />

bekannte und inspirierende Größen<br />

von heute sowie aus dem »fröhlichen<br />

Lemberg« der Zweiten Polnischen<br />

Republik vor, etwa die Lemberger<br />

Mathematiker mit ihrem Schottischen<br />

Buch, den Logiker und Epistemologen<br />

Kazimierz Twardowski, die Biologen<br />

Ludwik Fleck und Rudolf Weigl oder<br />

die Philosophin und Jiddisch schreibende<br />

Avantgardistin Debora Vogel.<br />

1939 bestand die Bevölkerung zur<br />

Hälfte aus Polen und zu einem Drittel<br />

aus Juden; von den weiteren Minderheiten<br />

waren 12 bis 16 Prozent Ukrainer.<br />

In der zweiten Hälfte seiner »Biographie<br />

einer Stadt« versinkt Kleveman<br />

in den immer dunkler werdenden<br />

Strudeln des untergehenden Lemberg.<br />

Das »Jammertal« begann 1939<br />

mit der sowjetischen Besetzung, 1941<br />

folgte die deutsche. Nach Rückkehr der<br />

Roten Armee im Juli 1944 musste fast<br />

die gesamte polnische Bevölkerung die<br />

Stadt verlassen. Als Ergebnis des Krieges<br />

blieben von 300 000 Einwohnern<br />

nur 10 Prozent. Die jüdische Gemeinschaft<br />

wurde – wie der Autor hervorhebt<br />

– unter Beteiligung der Bevölkerung<br />

fast vollständig vernichtet. Hieran<br />

mag man sich seitens der offiziellen<br />

ukrainischen Geschichtsschreibung<br />

bislang nur zögerlich erinnern.<br />

In Begegnungen mit alten und jungen<br />

Zeitzeugen versucht Kleveman<br />

seine Memoirenstudien zu vertiefen,<br />

erreicht aber – anders als seine als<br />

Motto zitierte chassidische Leitfigur<br />

Rabbi Nachman – nicht wirklich die<br />

Herzen. Es hätte noch weiterer Lektüre,<br />

Treffen und Sprachkenntnisse bedurft.<br />

Christian Weise<br />

Lutz C. Kleveman: Lemberg. Die vergessene<br />

Mitte Europas. Berlin: Aufbau Verlag 2017,<br />

315 S. ISBN: 978-3-351-03668-3, 24 €<br />

Christian Weise bereist und studiert seit fast 25<br />

Jahren die Ukraine, publiziert u. a. zur Kirchengeschichte<br />

und übersetzt ukrainische Literatur.<br />

PIONIERLEISTUNG IN WESTPREUSSEN<br />

Bereits ab Mitte der 1840er Jahre wurden<br />

Pläne für eine Bahnstrecke von<br />

Berlin über Königsberg (heute Kaliningrad)<br />

bis Eydtkuhnen (heute Tschernyschewskoje)<br />

an der russischen Grenze<br />

entwickelt. Die größten baulichen Probleme<br />

bestanden dabei in der Überwindung<br />

der Weichsel bei Dirschau/<br />

Tczew und der Nogat bei Marienburg/<br />

Malbork. Federführend bei Planung<br />

und Bau der beiden Brücken war der<br />

aus Soest in Westfalen stammende<br />

Ingenieur Carl Lentze (1801–1883), der<br />

auch beim Bau des Oberländischen<br />

Elbing-Osterode- und des Suezkanals<br />

mitwirkte. Die statischen Berechnungen<br />

und die Ausführungspläne<br />

fertigte der Schweizer Rudolf Eduard<br />

Schinz (1812–1855). Zur Überquerung<br />

der Weichsel bei Dirschau konzipierte<br />

Lentze eine sechsfeldrige Gitterkastenbrücke<br />

mit Portalbauten in einer imposanten<br />

Gesamtlänge von 837 Metern<br />

nach dem Vorbild der 1850 eröffneten<br />

Britanniabrücke über die Menai Strait in<br />

Wales. Die Pfeilertürme und die Portale<br />

der Widerlager gestaltete der bedeutendste<br />

Schinkel-Schüler, Friedrich<br />

August Stüler (1800–1865).<br />

Am 18. Oktober 1857 wurde die Brücke<br />

für den Eisenbahnverkehr freigegeben.<br />

Sie war die erste weitgespannte<br />

eiserne Gitterkastenbrücke des europäischen<br />

Festlands und galt damit<br />

als Pionierleistung. Am selben Tag<br />

wurde auch die Marienburger Eisenbahnbrücke<br />

über die Nogat in Betrieb<br />

genommen. Dirschau entwickelte sich<br />

in der Folge zu einem Eisenbahnknotenpunkt:<br />

Hier wurde nicht nur der<br />

Durchgangsverkehr zwischen Berlin<br />

und Königsberg, sondern auch der Verkehr<br />

zwischen den Landesteilen westlich<br />

und östlich der Weichsel geregelt.<br />

Inzwischen ist der Wiederaufbau der<br />

im Zweiten Weltkrieg stark beschädigten<br />

Brücke eingeleitet worden. Er hängt<br />

unter anderem von der EU-Finanzierung<br />

ab.<br />

Lothar Hyss<br />

Dr. Lothar Hyss ist Direktor des Westpreußischen<br />

Landesmuseums in Warendorf ( S. 56/57).<br />

Weichselbrücke bei Dirschau, Abbildung in<br />

der Zeitschrift für Bauwesen, 1855

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