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BLICKWECHSEL 2018

Journal für deutsche Kultur und Geschichte im östlichen Europa. Schwerpunkthema: »Zwischen Trauer und Triumph. Das Jahr 1918 und seine Folgen im östlichen Europa«

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Ausgabe 6<br />

<strong>2018</strong><br />

<strong>BLICKWECHSEL</strong><br />

MENSCHEN<br />

29<br />

ZWISCHEN ALLEN STÜHLEN<br />

Fritz Schalek aus Leitmeritz/Litoměřice und die Verwerfungen des 20. Jahrhunderts<br />

Deutsch war für Fritz Schalek die Muttersprache, Tschechisch<br />

sprach er fließend, freilich mit Akzent. Auf dem Klingelschild<br />

seiner Prager Wohnung stand als Vorname Bedřich. »Wie<br />

hätte ich denn«, fragte er sich, »gerade den Namen Fritz,<br />

der ja für die Deutschen stellvertretend stand,<br />

belassen sollen?« Der 2006 verstorbene ehemalige<br />

Chefredakteur der Prager Volkszeitung<br />

saß in vielerlei Hinsicht zwischen<br />

den Stühlen.<br />

Im Jahr 1913, kurz vor Ausbruch<br />

des Ersten Weltkrieges,<br />

kommt Fritz Schalek in Leitmeritz/Litoměřice<br />

als Sohn einer<br />

Christin und eines Juden zur<br />

Welt. 1918 stirbt seine Mutter.<br />

Der Vater arbeitet als Richter<br />

am Kreisgericht in Leitmeritz<br />

und leitet 1929/30 den aufsehenerregenden<br />

Betrugsprozess gegen<br />

den »Hellseher« Hanussen.<br />

Sein Sohn Fritz bricht mit der bürgerlichen<br />

Welt des Vaters, wird Mitglied der Wandervogel-Bewegung,<br />

arbeitet in einer Fabrik und<br />

schließt sich dem Kommunistischen Jugendverband an.<br />

Er ist einer derer, die Anfang der 1930er Jahre gegen den<br />

aggressiven Nationalismus der Sudetendeutschen ankämpfen,<br />

verteilt Broschüren, in denen die Sudetendeutsche Heimatfront<br />

als »Sudetendeutsche Hitlerfiliale« verballhornt<br />

wird. Wegen solcher Aktivitäten muss er nach dem Münchener<br />

Abkommen, als deutsche Truppen in Nordböhmen<br />

einmarschieren, mit einer Verhaftung rechnen. Er emigriert<br />

nach England. Im Exil wird er Soldat und landet mit den Alliierten<br />

in der Normandie.<br />

In England lernt er seine Frau, eine ungarische Jüdin, kennen;<br />

ihr erster Sohn wird dort geboren. Nach dem Ende des<br />

Krieges gehen die drei in die Tschechoslowakei. Zurück in<br />

Leitmeritz, erlebt Schalek die Vertreibung der Deutschen.<br />

Anders als seine Schwester darf er wegen seiner politischen<br />

Tätigkeit bleiben und bekommt eine Stelle im tschechoslowakischen<br />

Innenministerium. Ab 1951 kann er als Redakteur<br />

bei der neugegründeten deutschsprachigen Zeitung Aufbau<br />

und Frieden arbeiten. Er steigt zum Chefredakteur des<br />

Blattes auf, das später Prager Volkszeitung heißt.<br />

Die in der Tschechoslowakei verbliebenen Deutschen<br />

erhalten 1968, während des Prager Frühlings, endlich die<br />

nach 1945 verweigerte offizielle Anerkennung als nationale<br />

Minderheit. Im Jahr nach der Niederschlagung<br />

der Reformbewegung gründet sich – maßgeblich<br />

von Schalek vorangetrieben –<br />

der Kulturverband der Bürger deutscher<br />

Nationalität in der ČSSR.<br />

Doch auf den Prager Frühling<br />

folgt ein Winter: 1970 wird<br />

Schalek als Chefredakteur<br />

entlassen, aus dem Vorstand<br />

des Kulturverbands<br />

und aus der Kommunistischen<br />

Partei ausgeschlossen.<br />

Er schlägt sich fortan<br />

als freiberuflicher Dolmetscher<br />

durch. Politisch ist er<br />

kaltgestellt. Doch im hohen<br />

Alter wird er nochmals aktiv:<br />

Nach der Samtenen Revolution<br />

1989 gründet er einen neuen Minderheitenverband<br />

mit, aus dem die heutige<br />

Landesversammlung der Deutschen in Böhmen,<br />

Mähren und Schlesien hervorgeht.<br />

Ralf Pasch<br />

Fritz Schalek im März 1933 auf dem Weg von Leitmeritz nach Berlin,<br />

zur Familie seiner Cousine Lisa Fittko. Sein Vater hatte ihn nach<br />

der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten gebeten, Lisas<br />

jüdische Eltern zur Flucht in die Tschechoslowakei aufzufordern. Sie<br />

folgten dem Rat. Über die Tschechoslowakei und Frankreich gelangten<br />

sie in die USA, wo sie bis zu ihrem Tod lebten. Quelle: Nachlass<br />

Fritz Schalek, Collegium Bohemicum Aussig/Ústí nad Labem<br />

Fritz Schalek (1913–2006) ist einer von fünf Protagonisten<br />

der Wanderausstellung Die Schaleks – eine<br />

mitteleuropäische Familie. Fünf Biografien erzählen<br />

hundert Jahre Geschichte, die das Deutsche Kulturforum<br />

östliches Europa in Potsdam gemeinsam mit<br />

dem Collegium Bohemicum in Aussig/Ústí nad Labem und dem<br />

Kulturreferenten des Adalbert Stifter Vereins, München, realisiert.<br />

Ein Kurzfilm über die Familie Schalek kann auf dem YouTube-Kanal<br />

des Kulturforums abgerufen werden.<br />

Ralf Pasch ist Journalist, Buchautor und Autor der Wan der -<br />

ausstellung.

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