Positiv_4_2018_web
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BAUERN IM OBERAARGAU<br />
Bäuerliche Weiterbildung: Pferdebeurteilung<br />
in der landwirtschaftlichen Winterschule.<br />
Nun geht der Getreidebau zurück, Viehhaltung, Milch<br />
und Milchprodukte (mit der Entstehung der ersten<br />
Talkäsereien ab 1815) gewinnen an Bedeutung. Die<br />
Obrigkeit erkennt den Wert eines gesunden und leistungsfähigen<br />
Bauernstandes. Die Vennerkammer (sie<br />
entspricht ungefähr der heutigen Finanzdirektion)<br />
beginnt, sich intensiver mit der Landwirtschaft zu<br />
befassen und kommt zum Schluss, dass ein Betrieb<br />
mindestens sechs Jucharten umfassen muss, um eine<br />
Familie zu ernähren. 1764 wird eine Landesökonomie-Kommission<br />
geschaffen. Diese befasst sich unter<br />
anderen mit der Förderung der Tierhaltung und erkennt,<br />
dass im Oberaargau zu viele geringwertige<br />
«Baslerkühe» (aus dem Elsass und dem Schwarzwald)<br />
gehalten werden. Sie empfiehlt bessere Zuchtstiere<br />
zu halten. 1780 wird die erste Viehversicherungskasse<br />
gegründet und ab 1784 jährlich eine<br />
Viehzählung durchgeführt.<br />
Dann kommt noch eine Pferdezuchtkommission<br />
dazu. Auf ihr Anraten hin werden Hengste aus<br />
Deutschland, Dänemark und England eingeführt und<br />
auf die Landesteile verteilt. Stuten dürfen nur von<br />
diesen Hengsten gedeckt werden. Ab 1765 werden<br />
Hengste, später auch Stuten und Fohlen, prämiert.<br />
Der Sanitätsrat, etwa vergleichbar mit der heutigen<br />
Sanitätsdirektion, befasst sich mit den Tierseuchen,<br />
«In den 1700er-Jahre entwickeln die<br />
Oberaargauer Bauern Eigeninitiative wie<br />
in keiner anderen Gegend der Schweiz»<br />
und es gelingt ihm oft, durch Absperrmassnahmen<br />
das Bernbiet seuchenfrei zu halten, auch wenn ringsum<br />
Viehseuchen auftreten.<br />
POLITISCH MÜNDIG – ABER NICHT ORGANISIERT<br />
Die zweite Hälfte der 1700er bringt der Landwirtschaft<br />
im Oberaargau eine neue Blütezeit und viele<br />
schöne, währschafte Bauernhäuser sind in dieser<br />
Zeit gebaut worden. Wie in keiner anderen Gegend<br />
der Schweiz entwickeln die Bauern im Oberaargau<br />
Eigeninitiative, und weil die Obrigkeit andere Probleme<br />
zu lösen hat, gewährt sie dem Landvolk grosse<br />
Handlungsfreiheit. So um die Mitte der 1800er Jahre<br />
sind die Bauern im Oberaargau recht hablich (wohlhabend)<br />
und politisch mündig geworden. Aber noch<br />
sind sie politisch nicht organisiert.<br />
Während sich die Arbeiter in der jetzt heraufziehenden<br />
Industrialisierung politisch organisieren und<br />
mit Karl Marx gar einen Philosophen finden, der eine<br />
Ideologie entwickelt, welche die Welt erschüttern<br />
wird (den Kommunismus), haben die Bauern keinen<br />
Karl Marx. 1897 wird zwar der Schweizerische Bauernverband<br />
gegründet, klugerweise mit Sitz in Bern,<br />
also im politischen Machtzentrum der Schweiz und<br />
des Kantons Bern. Bereits drei Jahre später wird das<br />
Büro nach Brugg verlegt. Weil die Frau des damaligen<br />
Verbandsdirektors Professor Ernst Laur von dort<br />
stammte und unter keinen Umständen nach Bern<br />
zügeln will. Der später weltberühmte Agronom kann<br />
sich zu Hause nicht durchsetzen, die Frau hat, wie<br />
man damals sagt, die «Hosen» an. Frauenpower mehr<br />
als ein halbes Jahrhundert vor der Einführung des<br />
Stimm- und Wahlrechts der Frauen. Und so ist Brugg<br />
bis heute der Hauptsitz des Bauernverbandes.<br />
22 s’<strong>Positiv</strong>e 4 / <strong>2018</strong>