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Leo Juni 2018

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MUSIK<br />

Und auch sie musste erst 37 werden,<br />

um diese Freiheit zu entdecken<br />

und schätzen zu lernen. „Ein<br />

großer Durchbruch war für mich<br />

zu versuchen, die Masken und die<br />

Perfektion loszulassen“, sagt sie,<br />

und das war für jemanden mit<br />

ihrem Background sicher keine einfache<br />

Einsicht. Die neue Christina<br />

jedenfalls hat kein auffallendes<br />

Burleske-Image mehr, sie trägt keine<br />

Frisuren, die aussehen, als hätten Kunsthandwerker eine<br />

Woche daran gearbeitet, sie hat nichts mehr an sich, das an<br />

die alten Versuche erinnert, Britney Spears an Verruchtheit<br />

zu übertreffen, es gibt keinen Kampf mehr gegen Hater oder<br />

andere Künstler, mit denen sie mal Beef hatte (zum Beispiel<br />

P!nk) … Nein, Christina hat zu viel Zeit ihrer Karriere damit<br />

verbracht, etwas anderes als sie selbst zu sein, etwas für die<br />

Welt zu spielen und fremde Erwartungen zu erfüllen. Popstar<br />

zu sein ist ein Höllenjob. Eine Diva darzustellen noch viel<br />

mehr. Dabei hat sie sich selbst immer schon als etwas ganz<br />

Einfaches angesehen – jetzt mehr denn je: Sie ist jemand,<br />

der Soul sing, sagt sie, und außerdem liebt sie einen guten<br />

Hip-Hop-Beat. Und ab einem bestimmten Punkt im Leben<br />

kann man dann auch einfach all das Theater lassen und sich<br />

seinen Leidenschaften hingeben … man selbst sein.<br />

Aber dazu war nicht nur diese innere Befreiung nötig. Wenn<br />

man bei The Voice als Coach arbeitet, dann heißt das in<br />

den USA – im Gegensatz zu hier –, dass die aktive Musikkarriere<br />

nicht mehr so wichtig ist, zumindest nicht mehr im<br />

Fokus steht. Von 2011 bis 2016 war Christina Mitglied in der<br />

Jury und einer der Coaches, deshalb führte sie ein Leben<br />

im Fernsehmodus. Was sie dort so lange hielt, waren unter<br />

anderem auch ihre Kinder, denn die Regelmäßigkeit und<br />

Planbarkeit des Jobs harmonierten sehr gut mit dem Leben<br />

als Mutter. Doch nicht nur ihre Kandidaten, auch sie selbst<br />

musste vor der Kamera funktionieren. Was sie natürlich auch<br />

tat – immerhin begann auch ihr Weg Mitte der Neunziger<br />

als Teenager beim Mickey Mouse Club (ebenso wie der von<br />

Britney und Justin Timberlake). Aber kurz darauf wurde die<br />

Musik zum Mittelpunkt ihrer Existenz und sie mit „Genie In<br />

A Bottle“ 1999 ein Star, der weltweit mehr als 43 Millionen<br />

Tonträger verkaufen sollte. Doch ihr letztes Album<br />

liegt nun schon lange zurück und mit jedem Jahr bei<br />

The Voice wurde ihr deutlicher, dass es bei diesem<br />

Format darum geht, eine Show aufzuziehen, in<br />

der nur gutes Fernsehen und nicht gute Musik<br />

zählt. Währenddessen musste Christina<br />

trotzdem immer makellos sein, es gab Regeln,<br />

die zu befolgen waren, und keinen<br />

Raum für kreative Ausbrüche. Und genau<br />

deswegen wurde der Wunsch, dort<br />

aufzuhören und wieder neu anzufangen,<br />

irgendwann übermächtig.<br />

FOTO: M. ZRNIC<br />

Dieser Situation nun haben wir also<br />

Christinas erstes Album nach gut<br />

sechs Jahren zu verdanken, und<br />

passenderweise hat sie es „Liberation“<br />

– Befreiung – genannt. „Wenn<br />

du älter wirst, machst du deinen<br />

Frieden mit deinen Unvollkommenheiten<br />

und mit dir selbst – was es<br />

dir erlaubt loszulassen.“ Was aber<br />

nicht bedeutet, dass sie etwas<br />

bereut. Was gewesen ist, ist einfach<br />

nur Vergangenheit. Und ihre neue<br />

Freiheit hat dabei auch nicht unbedingt<br />

etwas mit Erwachsenwerden<br />

zu tun – sie sieht sich immer noch<br />

als Mädchen, denn Mädchen haben eben eher diese Freiheit<br />

zu tun, was sie wollen. Paradoxerweise hat sie sich ihr Leben<br />

lang aber auch gleichzeitig als jemanden wahrgenommen,<br />

der schon immer eine alte Lady in einem jungen Körper war.<br />

Doch in einem Menschen ist mehr als genug Platz für ein<br />

paar gelebte Gegensätze. Man muss eben nur seinen Frieden<br />

damit machen. „… ich bin verwundbar, ich bin stark …“, sagt<br />

sie deshalb wie selbstverständlich und schaut mit ihren neuen<br />

Songs in den Spiegel. Und dort wird die ungeschminkte<br />

Christina für viele kaum wiederzuerkennen sein, denn auch<br />

sie selbst hat sich in den letzten zwei Jahren neu entdeckt –<br />

und das ist nicht nur metaphorisch gemeint: Nicht umsonst<br />

postet sie seit Wochen in den sozialen Medien ihre Fotos in<br />

für ihre Verhältnisse fast minimalistischem Stil. Keine großen<br />

Gesten, sondern einfache Ehrlichkeit und Klarheit.<br />

Die neue Musik von Xtina hingegen hält sich absolut nicht<br />

zurück, ganz im Gegenteil. Schon die erste Single „Accelerate“<br />

ist ein ausgemachter, wenn auch gar nicht mal so gefälliger<br />

Banger, der sich mit Ty Dolla $ign und 2 Chainz zwei der<br />

erfolgreichsten Rapper der letzten Jahre ans Mikrofon holt.<br />

Produziert wurde der Track übrigens auch gleich von Kanye<br />

West, den Christina im Studio von Rick Rubin getroffen hat.<br />

Aus diesem kleinen Moment entstand dann auch noch ein<br />

weiterer Song, „Maria”, der Aguileras Liebling auf dem Album<br />

geworden ist. Kein Wunder, handelt er doch letztlich von ihr<br />

selbst und ihrer Befreiung – Maria ist ihr zweiter Vorname.<br />

Fast ebenso wichtig ist ihr das Lied „Fall In Line“, in dem<br />

sie zusammen mit Demi Lovato singt (welche Christina –<br />

wenig überraschend – als einen ihrer größten Einflüsse und<br />

Heldinnen nennt). Christina schrieb den Text übrigens schon<br />

lange vor #MeToo und #TimesUp, aber mit genau den dort<br />

angesprochenen Problemen im Kopf. „Ich musste meiner<br />

Mutter zusehen, wie sie sich unterordnete … oder sie wurde<br />

geschlagen“, erzählte sie vor kurzem, und in einem Tweet<br />

fasste sie ihre Motivation und an wen sich der Track richtet<br />

so zusammen: „An jeden, der zum Schweigen gebracht und<br />

unterdrückt wurde, an all die, die Wahrheit suchen und mutig<br />

denken … befreit eure Stimmen und brecht aus, gebt niemals<br />

nach und passt euch nie an.“<br />

Dieses Statement steht dann auch ganz passend für „Liberation“<br />

an sich. Eine neue Christina Aguilera ist zurück. Schön,<br />

dass sie sich wieder selbst gefunden hat.<br />

*fis

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