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1 - Eulenfisch - Bistum Limburg

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Vor der Schrift<br />

kamen die Träume<br />

Ein spannender Plot nach allen Regeln<br />

orientalischer Erzählkunst. Patrick Roths neuer<br />

Roman fügt der Bibel neue Geschichten hinzu.<br />

Von Eckhard Nordhofen<br />

Sunrise, der neue Roman von Patrick Roth, gibt<br />

sich sprachlich uralt, homerisch, metrisch, biblisch:<br />

Das Buch Joseph – so der Untertitel. Musik und Rhythmus<br />

des Textes sind prachtvoll, eine antiquarische<br />

Verfremdung. Sie passt zu dem, wovon er erzählt, dem<br />

Grausamen, Erhabenen und Göttlichen. Er fordert uns<br />

auf, laut zu rezitieren, zu lesen, wie in vormodernen<br />

Zeiten. So entsteht ein seltener Effekt: größtmöglicher<br />

Abstand und seltsame Präsenz.<br />

In der Dramaturgie der christlichen Heilsgeschichte<br />

kann auf Joseph, den Vater Jesu, keinesfalls verzichtet<br />

werden. Er wird gebraucht als Platzhalter des himmlischen<br />

Vaters, des Gottes, dem schließlich alle Vaterschaft<br />

gebührt. So wenig die Evangelien von diesem<br />

Joseph sonst wissen, so viel kann uns Roth, genauer,<br />

seine Erzählfigur, eine Alte namens Neith, über ihn berichten.<br />

Aber ohne dass Joseph träumt, kann nichts erzählt<br />

werden.<br />

Im Traum, seinem Gottesmedium, empfängt er die<br />

Weisungen. Joseph der Träumer – das war schon der<br />

Liebling des Stammvaters Jakob, der mit seinen Träumen<br />

die Brüder so sehr gegen sich aufbrachte, dass sie<br />

ihn nach Ägypten verkauften, wo er ohne seine Träume<br />

niemals Karriere gemacht hätte. Joseph der Träumer<br />

wandert durch die Zeiten, immer ein anderer, immer<br />

derselbe, immer nach Ägypten und wieder zurück. Der<br />

neue Gott des alten Israels war, anders als die Gottheiten<br />

der anderen Völker, kein Teil des Kosmos, sondern<br />

dessen Schöpfer. Daher kann er auch nicht besichtigt<br />

werden, und von ihm darf es kein Bild geben.<br />

Er offenbart sich niemals, ohne dass er sich gleichzeitig<br />

verbirgt. So wird die Traumerzählung zu einer literarischen<br />

Form, die der singulären Wirklichkeit des<br />

„ganz Anderen“ (Paul Tillich) angemessen ist.<br />

Wenn es um solche Wahrträume geht, haben wir keinen<br />

präziseren Übersetzer als Patrick Roth. Für keinen<br />

anderen Schriftsteller sind Träume eine so ergiebige<br />

Quelle der Inspiration, zunächst die biblischen, dann<br />

aber auch seine eigenen. Er braucht sie als Königsweg<br />

zu der Wirklichkeit, die ihn wirklich interessiert. An<br />

sie glaubt er fest: „Nur im Traum gibt es Orte, die sind<br />

nicht zu suchen. Denn keine Absicht, kein noch so fest<br />

vor dem Schlaf gefasster Wille bringt dich dorthin.“<br />

So lässt er im Roman Joseph seinen Sohn belehren.<br />

Hier trifft Roth den Kernpunkt der biblischen Aufklärung:<br />

Du darfst es dir nicht selber machen! Bleib auf<br />

deiner Seite, wenn dein Gegenüber wirklich der ganz<br />

Andere sein soll. Alles, was du machen kannst, ist, dich<br />

auf Empfang zu stellen. Roth ruft die biblische Schlüsselszene<br />

auf, in der der Prophetenschüler Samuel seine<br />

Frequenz mit dem Satz justiert: „Rede Herr, dein Diener<br />

hört.“ Hören, was vom Anderen kommt, das ist die<br />

ganze Kunst.<br />

Wie Patrick Roth dabei vorgeht, hält er poetologisch<br />

nicht geheim. So wie andere schlafen gehen, so legt er<br />

sich nieder, um zu träumen. Für die traumfrische Aufzeichnung<br />

liegt ein Diktiergerät griffbereit neben dem<br />

Bett: konditionierte Inspiration. So hat Roth im fernen<br />

Kalifornien, wo er als deutscher Schriftsteller in fruchtbarem<br />

Abstand lebt, Joseph den Träumer beträumt. So<br />

Ausschnitt aus dem Buchcover „Sunrise“, Wallstein Verlag<br />

hat er sich das Baumaterial für die Kathedralen der<br />

Imagination beschafft, in die er uns mitnimmt. Dort<br />

aber zeigt sich die sprachliche Meisterschaft des Drehbuchschreibers<br />

Roth. Mitten in wilden Kampf- und<br />

Action-Szenen setzt er die Zeitlupe ein, verlangsamt<br />

das Tempo radikal bis hin zum inneren Film-Still, das<br />

er mit allen Details durch Wortkunst so plastisch vor<br />

uns aufbaut, dass eindringliche Bilder entstehen. Das<br />

kann sonst nur Kino. Das wird dann sehr dicht – Dichtung<br />

halt. Wir verstehen die verrücktesten Verrenkungen<br />

dieser lebenden Bilder, und es gelingt uns, sie<br />

zu glauben. Die Handwerkskunst des formbewussten<br />

Traumschreibers besteht aber auch darin, dass er seinen<br />

spannenden Plot nach allen Regeln orientalischer<br />

Meistererzähler konstruiert. Das zieht dann durch, wie<br />

in einem Krimi. Zu den Regeln der Traumschreiberei<br />

gehört ferner die präzise Spiegelung des Unbekannten<br />

im Bekannten. Über die Zeiten der Bibel, ihre Örtlichkeiten<br />

und Geografie weiß er alles. Er kennt die Religionsgeschichte<br />

des Monotheismus und überbaut, ganz<br />

in der Manier biblischer Redaktoren, Geschichte mit<br />

Geschichten.<br />

Was soll Joseph mit dem Traumbefehl machen, den<br />

geliebten Sohn zu schlachten? Was wäre das für ein<br />

Gott, der solches befiehlt? Würde es bei ihm ausgehen<br />

wie bei Abraham, der gehorsam war und Isaak schon<br />

gebunden hatte? Opfer – ein Thema von atavistischer<br />

Aktualität, nicht nur für Roths Joseph. Der kennt die<br />

alten Geschichten, die nichts anderes enthalten, als<br />

seine und unsere aktuellen Fragen.<br />

So liest Roth und lässt lesen im Buch der Bücher,<br />

dass alle kennen und das vom Unbekannten erzählt.<br />

Ein Kabinettstück ist die „Geschichte vom verlorenen<br />

Buch“: Von Nazareth bricht Joseph auf, um mit Frau<br />

und Sohn in Jerusalem erstmals das Pessachfest zu feiern.<br />

Sie kommen an geschichten und geschichtsträchtigen<br />

Orten vorbei, an Megiddo, wo der König Joschija<br />

starb. „Und Jesus verlangte, dass Joseph ihm vor allem<br />

genauer erzähle vom verlorenen Buch, wie und warum<br />

Joschija es wieder gefunden. Denn nie wurde er satt,<br />

davon zu hören.“<br />

Joschija gilt bis heute, vor allem im Judentum, als<br />

ein Gründervater der Buchreligion. Im zweiten Buch<br />

der Könige wird berichtet, wie er den Tempel zu Jerusalem<br />

wieder herrichten lässt, wie man dabei das verlorene<br />

Buch mit der göttlichen Weisung wiederfindet.<br />

Joseph erzählt und kommentiert die Geschichte, wie<br />

sie überliefert war. Doch für ihn gilt vor allem: „Ohne<br />

Absicht, ohne Wissen, ohne danach zu suchen“, nur so<br />

kann das verlorene Buch Gottes gefunden werden.<br />

Die Nacherzählung Josephs formt Patrick Roth zu<br />

einer in Stufen gesteigerten Lehrererzählung über<br />

das, was Schrift, Heilige Schrift, kann und was nicht.<br />

„Da ward gefunden das verlorene Buch“, meint Jesus<br />

schon, als man die Schriftrolle in Händen hielt. Joseph<br />

dagegen: „Noch nicht gefunden war es. Denn was nutzt<br />

die Schriftrolle dem, der sie zwar greifen, aber nicht<br />

lesen kann?“<br />

Lesen aber heißt noch nicht verstehen, verstehen<br />

heißt noch nicht das Verstandene in die Tat umsetzen,<br />

und die richtigen Taten kann nur der tun, der die Macht<br />

dazu hat. Und jedes Mal spricht Jesus sein: „Da ward<br />

gefunden das verloreneBuch.“ Und jedes Mal Joseph:<br />

„Noch nicht gefunden war es ...“ Im Rothschen Zwischenreich<br />

der Wirklichkeiten wird als Höhepunkt und Pointe<br />

der zwölfjährige Jesus im Tempel selbst zum verlorenen-<br />

wiedergefundenen Buch. In der Konkurrenz der<br />

Gottesmedien plädiert Roth für das Fleisch gewordene<br />

Wort. Es kommt nach der Schrift und in ihrer Konsequenz.<br />

Vor der Schrift aber kamen die Träume.<br />

© Die Zeit, 06.06.2012, Nr. 24<br />

Prof. Dr. Eckhard Nordhofen ist Honorarprofessor<br />

für theologische Ästhetik und Bildtheorie an der Justus-<br />

Liebig-Universität Gießen.<br />

84 EULENFISCH _ Medien<br />

EULENFISCH _ Medien 85

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