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„Die Leiden des jungen Todor“<br />

Von Todor Ovtcharov<br />

Die guten<br />

alten Zeiten<br />

Ich hatte mal eine Tante, von der niemand sicher<br />

war, wie alt sie eigentlich war. Wenn alle Legenden<br />

über ihr Leben wahr waren, dann war sie<br />

mindestens 106. Das schien unglaublich, da sie immer<br />

in bester physischer und psychischer Verfassung war.<br />

Das einzig Schlechte an ihr war, dass sie allen immer<br />

die Wahrheit sagte. Sie betrachtete zum Beispiel meine<br />

Mutter und meinte, dass sie genau drei Kilo zugenommen<br />

hatte. Meine Mutter schämte sich, da sie wusste,<br />

dass ihr genau diese drei Kilo schlaflose Nächte<br />

bereiteten und sie ohne Erfolg versuchte, sie wieder zu<br />

verlieren. Wie konnte die Tante genau wissen, um wie<br />

viel meine Mutter zugenommen hatte? Das blieb ein<br />

Geheimnis genau wie ihr langes, fast ewiges Leben.<br />

Man erzählte, dass sie die halbe Welt umkreist hatte<br />

ohne einen einzigen Groschen auszugeben. Als ich<br />

sie fragte, ob das stimmt, antwortete sie: „Für schöne<br />

Frauen gibt es keine Grenzen!“ und schickte mich,<br />

ihr Zigaretten zu kaufen, die sie danach mit einer sehr<br />

langen Zigarettenspitze rauchte. Als sie erfuhr, dass<br />

ich nach Wien fahren werde, sagte sie: „Oh Wien! Dort<br />

musste man vor dem ersten Weltkrieg sein. Damals war<br />

das Leben wirklich schön! Man zahlte mit echtem Gold<br />

und das Gold war überall. Selbst wenn man nur eine<br />

Goldmünze in seiner Tasche hat, dann fühlt man sich<br />

sicher!“ Ich hatte noch nie eine Goldmünze besessen<br />

und kannte dieses Gefühl von Sicherheit nicht. „Und<br />

genau das ist dein Fehler!“, sagte meine Tante. Obwohl<br />

ich keine Goldmünze hatte, fuhr ich trotzdem nach<br />

Wien. Das erste Mal, als ich wieder in Bulgarien war,<br />

fragte sie mich, wie ich mich fühle. „Gut!“, antwortete<br />

ich. Sie schüttelte nur den Kopf. „Du wirst früher oder<br />

später verstehen, dass Wien nicht mehr das ist, was es<br />

einmal war!“ Das sind die letzten Worte, die ich von ihr<br />

gehört habe.<br />

„Wien ist nicht mehr das, was es einmal war!“,<br />

sagt der Taxifahrer zu mir und nickt in meine Richtung<br />

während wir warten, dass der unendliche Nachmittagsverkehr<br />

endlich abebbt. Er fährt in einem Gemisch aus<br />

Arabisch und Wienerisch fort: “Als ich hierher gekommen<br />

bin, 1973, war alles schöner, ruhiger und sauberer.<br />

Die Menschen waren reicher. Sie mieteten das Taxi für<br />

einen ganzen Abend und ich fuhr sie von einer Feier<br />

zur nächsten. Jetzt wollen sie nicht mal einen Zehner<br />

spendieren. Es ist voll mit Betrunkenen und Drogensüchtigen,<br />

die guten alten Wiener mit guten Manieren,<br />

dicken Brieftaschen und Respekt vor den arbeitenden<br />

Taxifahrern gibt es nicht mehr. Überall nur Ausländer.<br />

Zuerst kamen die diebischen Polen, als die Mauer fiel.<br />

Alles wurde schrecklich. Und früher haben die Menschen<br />

nicht mal ihre Häuser zugesperrt. Danach ist alles<br />

schrecklich geworden! Es kam das ganze Gesindel aus<br />

Jugoslawien und jetzt neuerdings alle Araber! Ich bin ein<br />

echter Wiener! Und diesen schereckliche Verkeher gab<br />

es auch nicht!” Ich bin sicher, dass der Fahrer ein echter<br />

Wiener ist, so wie er sich über alles beschwert mit<br />

einem leichten arabischen Akzent. Und von den guten<br />

alten Zeiten zu träumen, als die Menschen das Taxi für<br />

einen ganzen Abend gemietet haben und er Tausende<br />

von Schilligen bekam. Ich kann nichts zu ihm sagen. Der<br />

Taxifahrer heißt Muhammed und kommt aus Ägypten.<br />

Nichts hat sich verändert seit den Erzählungen<br />

meiner Tante bis zu dem Gespräch mit Muhammed. Und<br />

Wien ist auch dasselbe. ●<br />

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