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REGIOBOTE Herbst 2018

Regionalmagazin für den Raum um Ottersberg, Oyten, Achim und Rotenburg.

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„Hinter dem<br />

Grünen Tor“<br />

Buchrezension<br />

Das gut recherchierte Buch „Hinter dem Grünen<br />

Tor“ aus dem Verlag für Regionalgeschichte<br />

in Bielefeld beinhaltet mehrere Artikel zu<br />

verschiedenen Themen der historischen Entwicklung<br />

der heutigen Rotenburger Werke.<br />

Das Vorwort der Vorstandsvorsitzenden, Jutta<br />

Wendland-Park und des Vorstandes Finanzen,<br />

Thorsten Tillner, begründet die Notwendigkeit<br />

des kritischen Blicks zurück in die Vergangenheit<br />

und die Aufarbeitung der Entwicklungen<br />

im Faschismus und die fragwürdigen Praktiken<br />

der Nachkriegszeit.<br />

Karsten Wilke beschreibt die Gründung und<br />

den Aufbau der Anstalten, aber auch die verhängnisvolle<br />

Gleichschaltung durch die Nazis<br />

und die Praxis von Zwangssterilisation und<br />

Mord in Gefolge der Aktion T4, benannt nach<br />

einem Treffen von „Verantwortlichen“ in der<br />

Berliner Tiergartenstraße 4 im Jahr 1939. Insgesamt<br />

sind diesem Treiben ca. 300.000 Menschen<br />

im Machtgebiet des Nationalsozialismus<br />

zum Opfer gefallen.<br />

Ein weiteren Beitrag dieses Autors beschäftigt<br />

sich mit der weiteren Entwicklung in den Jahren<br />

1950 bis 1975 - den pharmakologischen Experimenten<br />

und stereotaktischen Operationen<br />

am Hirn, von denen noch heute betroffene Patienten<br />

berichten können.<br />

Ulrike Winkler beschreibt die Anstalten und<br />

die Stadt Rotenburg als Sozialräume, geht auf<br />

die örtliche und räumliche Entwicklung im weitesten<br />

Sinne ein – bis zum letzten Raum, dem<br />

Friedhof.<br />

Hans-Walter Schmühl beschreibt die alltägliche<br />

Situation der Behinderten; Essen und Trinken,<br />

Freizeit, Schule und Arbeit, Gewalt und<br />

Leiden.<br />

Der letzte Teil des Werkes wird von Sylvia Wagner<br />

beigesteuert, sie geht anhand von Fallbeispielen<br />

auf den Einsatz von Medikamenten zur<br />

Ruhigstellung einerseits und zu pharmakologischen<br />

Versuchszwecken andererseits ein. Reale<br />

Formulare und persönliche Schicksale.<br />

Die Rotenburger Werke sind in der Geschichte<br />

der deutschen Behindertenwerkstätten kein<br />

Sonderfall – ähnliche Entwicklungen waren<br />

an vielen Einrichtungen gang und gäbe. Dies<br />

ist allerdings keine Entschuldigung, sondern<br />

ein Hinweis auf die unter bestimmten politischen<br />

und sozialen Verhältnissen mögliche unmenschliche<br />

und grausame Struktur.<br />

An dieser Stelle sei dem Rezensenten eine aktuelle<br />

Abweichung gestattet:<br />

In der Zeitschrift „Weltsichten – Magazin für<br />

globale Entwicklung und ökumenische Zusammenarbeit“,<br />

Nr. 9-<strong>2018</strong> findet sich ein Artikel<br />

über „Streit um das Recht auf Leben“, das die<br />

Praxis indigener Stämme in Brasilien, behinderte<br />

Kinder zu töten, problematisiert. Daselbst<br />

wird diskutiert, ob der brasilianische<br />

Staat zugunsten dieser Kinder eingreifen darf<br />

oder nicht (siehe auch: www.weltsichten.org).<br />

Das Buch „Hinter dem Grünen Tor“ ist uneingeschränkt<br />

zu empfehlen. Aber denken Sie<br />

nicht, dass die Behandlung mit dem Thema<br />

nicht mehr notwendig ist – die Problematik hat<br />

sich verschoben: nachdem die pränatale Untersuchungslogistik<br />

und die damit begründeten<br />

Abtreibungen die Geburt behinderter Kinder,<br />

insbesondere solcher mit Down-Syndrom,<br />

erheblich reduziert hat, wird heute in vielen<br />

Laboratorien in aller Welt an der genetischen<br />

Manipulation mittels z. B. der CRISPR/CAS-<br />

Technik zum Zwecke der Optimierung menschlicher<br />

körperlicher und geistiger Fähigkeiten<br />

gearbeitet. Welchen ökonomischen und globalen<br />

Machtinteressen dies wohl dienen wird…<br />

Jürgen Langenbruch M. A.<br />

Karsten Wilke/Hans-Walter Schmuhl/<br />

Sylvia Wagner/Ulrike Winkler: Hinter dem<br />

Grünen Tor, Verlag für Regionalgeschichte<br />

Bielefeld <strong>2018</strong>. ISBN: 987-3-7395-1142-9.<br />

04/18<br />

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