EGTA-Journal 04-2019
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Ulrike Merk<br />
Scheinbar durch das Ausfüllen des Dezimenabstands<br />
H-d‘ entsteht die erste<br />
Zweiunddreissigstel-Quintole, deren<br />
Fingersatz zu einem weiteren Baustein<br />
für nachfolgende Zweiunddreissigstelund<br />
Quintolenfiguren wird, kleine Fingersatzänderungen<br />
sind tonalen Anpassungen<br />
geschuldet.<br />
Zum Vergleich bietet sich die Zweiunddreißigstel-Quintole<br />
aus Zeile 2 (H-ce-a-d‘<br />
mit Barrée in VII) mit den zwei<br />
Zweiunddreißigstelfiguren aus Zeile 4<br />
(Fis-G-H-e und H-c-e-a mit Barrée in II<br />
und Saitenwechsel) und der sich anschließenden<br />
Zweiunddreißigstel-<br />
Quintole (e-fis-a-d‘-fis‘) an.<br />
Fingersatz-Patterns und ihre Rückung<br />
auf andere Griffpositionen und/oder Saiten<br />
lassen sich in vielen Werken von Leo<br />
Brouwer als eines seiner ganz persönlichen<br />
Stilmerkmale finden. Dies ist ein<br />
grundlegend gitarristisches Merkmal,<br />
das sich Nichtgitarristen über den Notentext<br />
nicht zwangsläufig erschließt.<br />
Nun ist Leo Brouwer nicht der erste<br />
Komponist, der Fingersatzrückungen<br />
benutzt, man denke zum Beispiel an die<br />
Werke von Heitor Villa-Lobos oder allgemein<br />
an Griffrückungen im Flamenco. 31<br />
Fingersatzrückungen sind somit ein<br />
gängiges technisches Merkmal gitarristischer<br />
Spieltechnik.<br />
Leo Brouwer jedoch generiert aus Fingersatzpatterns<br />
neues kompositorisch-melodisches<br />
Material, das er geschickt<br />
in die Konzeption seiner Werke<br />
eingliedert und weiterentwickelt ohne<br />
reine Effekthascherei. Ja, man mag anmerken,<br />
dass in seinen frühen Werken<br />
der Effekt noch eher inszeniert wirkt,<br />
doch die Preludios Epigramaticos werden<br />
allgemein bereits zu seiner dritten<br />
Schaffensphase gerechnet.<br />
Die Einteilung der Werke Leo Brouwer<br />
in Schaffensphasen sehe ich jedoch kritisch,<br />
weil ich keine klaren Brüche, Verwerfungen,<br />
Abkehren o. ä. in seinem<br />
umfangreichen Oeuvre erkennen kann.<br />
Vielmehr erleben wir einen Komponisten,<br />
der mit großer Neugier alles Neue<br />
für sich erobert, jedoch immer zu seinem<br />
Personalstil zurückkehrt, zweifellos<br />
um neue Erfahrungen reicher, die in weiteren<br />
Werken vertieft werden oder nicht.<br />
No. 2 „Tristes hombres si no mueren<br />
de amores“<br />
Das Epigramm ist der dritte Vers des Ge-<br />
32 33<br />
dichts Tristes guerras<br />
Dieses Preludio ist dem japanischen Gitarristen<br />
Ichiro Suzuki gewidmet.<br />
Wichtiges Motivmaterial liefert die eröffnende<br />
pentatonische Linie (a-h-d‘-e‘<br />
g‘-a‘) und ist zugleich Klangtextur im<br />
Wechsel zwischen Oktav- und Quintflageolett-Tönen,<br />
die an japanische<br />
Koto erinnert. In den beiden Vivace-Teilen<br />
erscheint als neue Klangtextur der<br />
Wechsel zwischen Leersaite und Bindung<br />
zum Ton im 2. Bund. Eine Figuration,<br />
die aus dem Fingersatz in der<br />
Spielpraxis entnommen scheint. Die<br />
Flageoletts werden wieder zu ordinario<br />
gespielten Tönen (8 va basso). Die pentatonische<br />
Linie verwandelt sich zu einem<br />
beständig schwebenden Quartklang<br />
H-e-a mit Großsekundvorhalten,<br />
der an beiden Endungen/Schlussstellen<br />
den Beginn des Preludios nachbildet.<br />
Der erste Tempo 1 –Teil zeigt ein Bicinium<br />
mit Freude am Variieren, mit Verweis<br />
auf den Beginn. Im zweiten Tempo 1<br />
–Teil wird eine einfache Melodie zunächst<br />
mit Quintakkorden begleitet<br />
und weiter entwickelt und kehrt zu<br />
einer, sich beständig verkürzenden<br />
Flageolettlinie zurück, die in Auskomponiertem<br />
„morendo“ dynamisch und<br />
im Ambitus auf ein Schlussflageolett<br />
h‘, den Zentralton des Stücks, in dreifachem<br />
pianissimo zusteuert.<br />
Doch keine Bange, der für viele Werke<br />
Leo Brouwers typische pulsierend-rhythmische<br />
Fluss, man könnte auch von „Drive“<br />
sprechen, versiegt auch in diesen<br />
sechs Preludios erst mit dem letzten Ton.<br />
31 Vgl. Ulrike Merk, Musik aus Al-Andalus als Erneuerungs- und Inspirationsquelle für die Spanische Moderne –<br />
Kontextualisierungen und Exemplarische Analysen des Gitarren-Repertoires, Göttingen 2017, S. 64 f.<br />
32 Miguel Hernandéz, Obra Poetica Completo, hrsg. v. Leopoldo de Luis und Jorge Urrutia, Madrid 1977 3 , S. 456.<br />
33 Sinngemäß übersetzt: Traurige Männer, wenn sie nicht aus Liebe sterben.<br />
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