EGTA-Journal 04-2019
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Michael Kerstan<br />
1980 führte Hans Werner Henze<br />
für sich den Begriff „Imaginäres<br />
Theater” ein - er verstand<br />
darunter eine Art narrative Musik,<br />
mit oder ohne ausgesprochenem<br />
Text, aber mit durchaus szenischen<br />
Elementen oder Elementen,<br />
die eine Szene nahelegen. Zu dieser<br />
Gruppe gehören mindestens<br />
die Vertonung des Lorca-Gedichts<br />
El Rey de Harlem.<br />
Imaginäres Theater I (1980)<br />
und dessen Komplementär,<br />
das Klarinettenkonzert<br />
Le Miracle de la Rose. Imaginäres<br />
Theater II (1982),<br />
das auf ein Gedicht Jean<br />
Genets zurückgeht, obwohl<br />
kein Text vertont worden<br />
ist. Aber auch verschiedene<br />
Orchesterwerke, wie das<br />
2. Violinkonzert (1971), oder Heliogabalus<br />
Imperator. Allegoria per musica<br />
(1972) und nicht zuletzt das einstündige<br />
Werk Immolazione für Orchester, Tenor,<br />
Bass-Bariton, Vokalensemble und konzertierendes<br />
Klavier auf ein Gedicht von<br />
Franz Werfel von 2010 hat er später unter<br />
dem Dach des „Imaginären Theaters“<br />
versammelt. Henzes „Imaginäres Theater“<br />
sieht eigentlich überhaupt keine<br />
Bühnenhandlung vor, gleichwohl hat er<br />
selber den Musikern oder Sängern einige<br />
Regieanweisungen in die Partituren<br />
geschrieben, und überlässt es ihnen, ob<br />
und welche szenischen Aktionen und<br />
Aktivitäten sie in ihr Spiel einbauen.<br />
Eine weitere quasi-szenische Konzertform<br />
hat Henze mit seinem „Rezital für<br />
vier Musiker” El Cimarrón (1970) geprägt.<br />
Es gehört zur Gruppe seiner cubanischen<br />
Kompositionen, die 1969-1972<br />
entstanden sind. Zu ihr gehört die Fernsehoper<br />
La Cubana (1972, sozusagen<br />
eine weibliche Komplementärin zum Cimarrón,<br />
einige der Lieder in der Sammlung<br />
Voices und seine Sinfonia N. 6 (die<br />
„cubanische“, 1969).<br />
Es versteht sich ja schon fast von selbst,<br />
dass in diesen Werken die Gitarre und<br />
ihre Verwandten eine gewichtige Rolle<br />
spielen. Henze war auf Vermittlung<br />
von Hans Magnus Enzensberger im April<br />
1969 und von Oktober 1969 bis April<br />
1970 nach Cuba eingeladen worden, um<br />
in Havanna zu lehren. Er nutzte die Zeit<br />
aber auch, um bei der Zuckerrohrernte<br />
zu helfen und um cubanische Künstler<br />
kennen zu lernen, darunter die Dichter<br />
Heberto Padilla und Miguel Barnet sowie<br />
den Komponisten und Gitarristen<br />
Leo Brouwer. Der Gitarrist zeigte ihm<br />
eine große Bandbreite anderer, neuer<br />
Spieltechniken und Möglichkeiten der<br />
Klangerzeugung auf der Gitarre.<br />
HWH: „Leo hat bei der Komposition geholfen,<br />
indem er mit neuen Ideen über Erweiterungen<br />
des Gitarrenklangs kam.“ 8 .Erste<br />
Ergebnisse dieser Zusammenarbeit<br />
kann man in der Sinfonia N. 6 hören, in<br />
der neben der Gitarre auch ein Charango<br />
(10 saitig, mit einem aus einem Gürteltierpanzer<br />
bestehenden Korpus) und/<br />
oder ein Banjo besetzt ist.<br />
Da unser Thema das Musiktheater ist,<br />
wenden wir uns direkt dem Rezital El Cimarrón<br />
zu. Wie schon gesagt, handelt<br />
es sich hierbei um eine Hybridform, ein<br />
„imaginär” gedachtes Theater, eigentlich<br />
ein Konzert. Das lässt sich schon daran<br />
erkennen, dass die Besetzung aus vier<br />
„Musikern” besteht: Bariton, Flöte, Gitarre<br />
und Schlagzeug, mithin keine „Rolle”<br />
vergeben wird. Der Bariton ist nicht der<br />
Cimarrón. Gleichwohl wird das Stück in<br />
den meisten Aufführungen als szenische<br />
Version gegeben und der Sänger dunkel<br />
geschminkt.<br />
Bei seinem ersten Cuba-Aufenthalt lernte<br />
Hans Werner Henze den Ethnologen<br />
und Schriftsteller Miguel Barnet kennen.<br />
Dieser hatte soeben die Biographie des<br />
entlaufenen Sklaven Estéban Montejo<br />
veröffentlicht, nach einigen Jahren, in<br />
denen er mit Montejo Interviews geführt<br />
hatte. Auf Cuba wurden die entlaufenen<br />
Sklaven als „Cimarrónes” bezeichnet, daher<br />
der Titel „El Cimarrón”. Montejo wurde<br />
1860 geboren und gleich verkauft,<br />
so dass er seine Eltern nie kennenlernen<br />
konnte. Schon als Kind lief er mehrmals<br />
seinen Besitzern davon, wurde eingefangen<br />
und auf das Übelste bestraft und gefoltert.<br />
Dann erlebte er den ersten Sklavenaufstand<br />
mit, die Abschaffung der<br />
Sklaverei und beteiligte sich am Kampf<br />
gegen die Spanier bis zur cubanischen<br />
Staatsgründung unter US-amerikanischer<br />
Protektion 1902.<br />
Ich gestatte mir in diesem Zusammenhang<br />
einen winzigen Exkurs: Die cubanische<br />
Verfassung von 1902 wurde in Washington<br />
formuliert und enthält einen<br />
Zusatz, das sogenannte „Platt-Amendment”:<br />
In diesem wird den USA das<br />
Recht eingeräumt, jederzeit auf Cuba militärisch<br />
intervenieren zu dürfen, wenn<br />
sie ihre Interessen gefährdet sehen, und<br />
sie haben auf ewig das Recht, Gunatanamo<br />
Bay zu pachten für 2.000,00 Dollar<br />
8 Henze 1971, 39<br />
Ausgabe 6 • 4/<strong>2019</strong><br />
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