EGTA-Journal 04-2019
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Michael Kerstan<br />
Pachtgebühr im Jahr. Die cubanische<br />
Geschichte von 1902 bis 1968 – die Battista-Diktatur,<br />
die Revolución, die Verminung<br />
der cubanischen Häfen, elegant als<br />
„Embargo” umschrieben, und die darauf<br />
folgende Hinwendung Castros zur Sowjetunion<br />
– das politische Tagesgeschäft<br />
ist nicht Thema des Stücks, auch wenn<br />
dessen politische Brisanz auf einer anderen<br />
Ebene bis in die Gegenwart ragt.<br />
Das Revolutionäre an Miguelo Barnets<br />
Ansatz war, Geschichte und Biographie<br />
aus der Sicht des Betroffenen und nicht<br />
aus Sicht der Be-Herrschenden zu erzählen.<br />
Und in der Tat, mit Barnets/Montejos<br />
El Cimarrón wurde die Disziplin der ethnobiographischen<br />
Forschung begründet.<br />
Enzensberger hat aus dem Buch Barnets<br />
fünfzehn Bilder extrahiert, die dann das<br />
Estéban Montejo im Alter von 1<strong>04</strong> Jahren<br />
http://2.bp.blogspot.com/_StEfgRKULTs/TECz-<br />
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Libretto für Henzes Rezital wurden. <br />
Hans Werner Henze hatte Estéban Montejo<br />
noch persönlich kennen lernen können,<br />
da war dieser schon 108 Jahre alt.<br />
Er schreibt:<br />
„Ich hatte noch nie einen so alten Mann<br />
gesehen. Er war baumlang, ging langsam<br />
und hochaufgerichtet, seine Augen waren<br />
lebendig, er strahlte Würde aus, schien sich<br />
klar darüber, eine historische Persönlichkeit<br />
zu sein. (…) Er erzählte Geschichten aus<br />
der Cimarrónería und von seinem Sexualleben,<br />
das von ungewöhnlicher Promiskuität<br />
gewesen sein muss. Seine Stimme hatte<br />
den melodiösen Klang, der jeden Augenblick<br />
in Singen überzugehen scheint, wie<br />
man ihn bei Creolen häufig findet. Unser<br />
Besuch dauerte etwa zwei Stunden, während<br />
derer Estéban eine Zigarette nach der<br />
anderen rauchte. (...)” 9<br />
Schon der Beginn des Stückes vermittelt<br />
einen Eindruck von den erweiterten<br />
Spieltechniken, die der Komponist mit<br />
Hilfe von Leo Brouwer entwickelt hatte:<br />
Der Gitarrist hält sein Instrument wie<br />
eine Gambe auf den Knien und bearbeitet<br />
die Saiten mit einem Violinbogen, der<br />
Flötist erzeugt, ebenfalls mit einem Bogen,<br />
ein surrendes Geräusch am Rande<br />
eines hängenden Beckens, der Schlagzeuger<br />
versetzt die Temple Bells in<br />
Schwingungen, bis ein obertonreicher<br />
Klang entsteht. Der Sänger trägt den Vokal<br />
„u” bei, und der gemeinsame Sound<br />
beschreibt Cubas Landschaft, sein Klima,<br />
seine Naturkatastrophen.<br />
„Ein ausgedehntes Stück für Gitarre allein,<br />
wie Fragmente eines alten Lieds, steht für<br />
den Transfer des Afrikanischen in die karibische<br />
Welt.“ 10<br />
Aus diesem Zitat stammt der Titel meines<br />
Artikels, und von Henze ist es nachgerade<br />
philosophisch gemeint: Von dem<br />
„alten Lied” gibt es nur mehr Fragmente,<br />
Erinnerungs-Bruchstücke, und, ich zitiere<br />
weiter, dieser Beginn sei wie „eine Brücke<br />
zu dem Märchen vom Ursprung der Sklaverei.”<br />
Henze wusste noch nicht, dass z.B. der<br />
Staat New York an seinen staatlichen<br />
Schulen den Gebrauch des Wortes „Sklaverei”<br />
abgeschafft hat, um den Nachfahren<br />
der Sklaven keine „schlechten Gefühle”<br />
zu vermitteln. - Das ist die Gegenseite<br />
der sogenannten „political correctness”.<br />
Eher wollen die Weißen in den USA die<br />
Erinnerung daran verwischen, auf welchen<br />
Grundlagen ihr teilweise obszöner<br />
Wohlstand aufgebaut ist. Henze<br />
wusste natürlich, dass die Sklaverei kein<br />
Märchen war, aber er wusste auch, dass<br />
Menschen ihre Schandtaten und die ihrer<br />
Vorfahren gerne vergessen machen,<br />
verfälschen oder verklären.<br />
Die „Fragemente eines alten Lieds” beziehen<br />
sich aber auch auf Henzes Komponierweise<br />
– die Gitarre singt ja im Cimarrón<br />
erstmals das „Neue Lied”.<br />
Musikbeispiel 5:<br />
Das El Cimarrón-Ensemble mit dem<br />
Schlagzeuger Ivan Mancinelli, dem Bariton<br />
Robert Koller, der Flötistin Vera Klug<br />
und der Gitarristin Christina Schorn.<br />
Die Aufführung ist vom Juli 2007 am<br />
Stadttheater Konstanz. mit dem Anfang<br />
des I. Bildes von El Cimarrón.<br />
https://youtu.be/w-HFzm1Y-58<br />
9 Henze 1971, 41<br />
10 Henze 1971, 41<br />
74 <strong>EGTA</strong>-<strong>Journal</strong>