EGTA-Journal 04-2019
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Michael Kerstan<br />
„Zahn verfault,<br />
Muse mault;<br />
Blutdruck sinkt,<br />
Der Versfuß hinkt;<br />
Bauchkrawall,<br />
Sprachzerfall;<br />
Magensenkung,<br />
Bildverrenkung;<br />
Man könnte jetzt beinahe eine komische<br />
Oper vermuten, doch es kommt ganz<br />
anders: Hier nun ihre Kurz-Zusammenfassung:<br />
Der Dichterfürst Gregor Mittenhofer hält<br />
Hof im Alpengasthof Schwarzer Adler. Dort<br />
hat sich seit vierzig Jahren Hilda Mack eingemietet,<br />
die auf die Rückkehr ihres Bräutigams<br />
wartet, den sie immer noch auf einer<br />
Bergtour wähnt. Sie strickt seit damals<br />
an einem Schal für ihn, weil sie vermutet,<br />
er habe sich erkältet, wo er doch so lange<br />
draußen war. Und sie hat Visionen, lebt in<br />
ihrer ganz eigenen Welt, wie es scheint. Mit<br />
Mittenhofer kommt auch dessen Entourage:<br />
Sekretärin Carolina von Kirchstetten,<br />
Geliebte Elisabeth Zimmer und Leibarzt Dr.<br />
Reischmann. Die Ankunft dessen Sohnes<br />
Toni mit der Bergbahn wird noch erwartet.<br />
Der Dichter tyrannisiert die Schar, von der<br />
jede und jeder Einzelne vom erfolgreichen<br />
Künstler abzuhängen scheint, emotional,<br />
finanziell, symbiotisch. Als Toni ankommt,<br />
verliebt er sich sofort in Elisabeth und sie<br />
sich in ihn, was dumm ist, denn sie ist ja<br />
die Geliebte des Dichters. Solange aber Hilda<br />
Mack noch ihre Visionen hat, die er einfach<br />
mitschreibt und dann als eigene Gedichte<br />
höchst erfolgreich verkaufen kann,<br />
sind ihm die Menschen ohnehin gleichgültig.<br />
Die Probleme beginnen, als man nach<br />
vierzig Jahren den Leichnam von Hildas<br />
Knochen rheumatisch,<br />
Rhythmus erratisch;<br />
Haut zu spröd,<br />
Form zu öd;<br />
Muskel hart,<br />
Sinn vernarrt;<br />
Verdauung zu schwach,<br />
Das Genie läßt nach.”<br />
Bräutigam auffindet, der von einem auftauenden<br />
Gletscherfluss freigegeben wird<br />
– er ist seit seinem Tod um keinen Tag gealtert.<br />
Nun hören sofort Hildas Visionen auf,<br />
d.h. Mittenhofers Geld- bzw. Inspirationsquelle<br />
versiegt, und er braucht dringend<br />
eine neue. Er bittet das junge glückliche<br />
Paar, ihm doch eine letzte Freude zu machen<br />
und ihm vom Hammerhorn ein Edelweiß<br />
zu holen, dann wäre es frei. Das Paar<br />
geht also auf den Berg, und ein Wetterumschwung<br />
wird angekündigt: Jetzt könne<br />
man noch Bergwanderer herunterbringen,<br />
wer aber oben bliebe, sei dem Tod durch<br />
Erfrieren ausgesetzt. Der Dichter hält still,<br />
genau wie seine Entourage, obwohl jeder<br />
weiß, dass dies den Tod von Elisabeth und<br />
Toni bedeutet. Sie werden Tage später tot<br />
aufgefunden, und endlich kann der Dichter<br />
seine vor einiger Zeit begonnene Elegie beenden,<br />
die er dem verstorbenen Paar widmen<br />
wird, die „Elegie für junge Liebende”.<br />
Der Komponist hatte die Vorstellung<br />
von einer psychologisch sehr nuancierten<br />
Kammeroper mit „rein musikalischen<br />
Ideen von Klangfarben und Formen“ entwickelt<br />
4 . In der kleinen Besetzung, die<br />
solistische Streicher vorsieht, werden die<br />
sechs Protagonisten durch ihnen zugehörige<br />
Instrumente charakterisiert: Elisabeth<br />
durch die Violine, Toni durch die Vi-<br />
ola; Hilda bekommt Altflöte und Flöte an<br />
ihre Seite, Carolina das Englischhorn und<br />
Dr. Reischmann das Fagott. Mittenhofer<br />
wird polarisiert: Wenn er sich seiner Autorität<br />
sicher ist, steht ihm Blech zur Seite<br />
(Horn, Trompete, Posaune), und wenn<br />
er sich unsicher fühlt, schwingt/erklingt<br />
das Flexaton.<br />
Äußere und zwischenmenschliche Atmosphäre<br />
werden durch eine Anzahl<br />
von Kurztoninstrumenten zum Tönen<br />
gebracht, außer Gitarre und Mandoline<br />
sind das Klavier und Celesta, Harfe sowie<br />
Marimba- und Vibraphon.<br />
Die Themen und Motive des Werks sind<br />
traditioneller Stoff – die konservierte<br />
Gletscherleiche mit all ihren Derivaten<br />
füllt bis heute das Sommerloch in den<br />
Medien (z.B. in Form des Kultes um „Ötzi”,<br />
die Bergwerke von Falun, neue Methoden,<br />
sich für die Zukunft einfrieren zu<br />
lassen). Es geht dabei natürlich auch<br />
um die Vorstellung von ewiger Jugend,<br />
und um welchen Preis sie erreichbar ist,<br />
und in der Figur des Poeten um Unsterblichkeit,<br />
ein verwandtes Motiv. Das größere<br />
Thema indessen ist die Figur des<br />
schöpfenden Künstlers – wie weit darf<br />
er gehen, was darf er sagen, schreiben,<br />
tun, was muss er lassen, damit ihm der<br />
Nachruhm zurecht bleibt, wenn er denn<br />
bleibt.<br />
Gelegentlich wurden wahlweise Auden<br />
oder Henze selbst mit Mittenhofer<br />
identifiziert, und Henze machte daraus<br />
ein Vexierspiel, wenn er seine jährliche<br />
Spende für die Münchener Biennale mit<br />
„Gregor Mittenhofer” unterzeichnete.<br />
Die Gitarre wird in der Elegie für junge<br />
Liebende noch traditionell verwendet<br />
– oft mit einstimmigen Tonfolgen oder<br />
4 MuP 1984, 87<br />
Ausgabe 6 • 4/<strong>2019</strong><br />
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