<strong>#165</strong> | APRIL <strong>2019</strong> ALLTAG Life in Plastic? Not Fantastic! Abfall wo er nicht hingehört Geschälte Orangen, vorgekochte Kartoffeln, Erdbeeren im Februar aus Chile, Biogemüse extraverpackt: Während sich im Supermarkt der Unsinn in Regalen häuft, stapelt sich der Abfall auf der anderen Seite zu Hause und in der Öffentlichkeit. Doch das sind lediglich Symptome eines Problems, dessen Wurzeln viel tiefer greifen. von Valérie Hug 14
Draussen herrschen Temperaturen um die Null Grad Celsius, als ich Anfang Februar dieses Jahres den Supermarkt betrete. Mir bietet sich die übliche Szenerie: Ein Turm aus Avocado, rechts davon Äpfel und Birnen aus der Schweiz, links davon das exotische Gemüse aus Südamerika und Afrika, dahinter das mehr oder weniger saisonale Gemüse. Auf meinem Weg zu den Kartoffeln komme ich am Kühlregal mit dem bereits vorgewaschenen Salat, Dressings, Kräutern und Pilzen vorbei, und bleibe wie angewurzelt stehen. Himbeeren. Und Blaubeeren. Und Erdbeeren. Im Februar? Ich bin verwirrt. In welchem Land bitte ist das im Januar gewachsen? Sogar in Italien und Spanien müsste es doch dafür ein wenig zu kalt sein. «Land siehe Verpackung» heisst es da. Der Boden der Plastikbox schliesslich verrät mir, dass die Himbeeren aus Chile kommen. So etwas habe ich in einem 0815-Supermarkt hierzulande noch nicht erlebt. Wer bitte braucht im Winter frische Beeren? Oder mit dem Flugzeug eingeflogene Mangos? Muss wirklich alles rund um die Uhr das ganze Jahr verfügbar sein? Wer überhaupt bestimmt, was bei uns in die Regale kommt? Und von wo überall kommen diese Dinge? Die Migros meint auf Anfrage, dass man der sehr eingeschränkten Auswahl heimischer Produkte schnell überdrüssig werde und man mit Beeren aus Chile im Februar mehr Abwechslung bieten würde. Und schliesslich hätten die Kundinnen und Kunden die Wahl, ob sie Importware kaufen wollen oder nicht. Wie aber sieht das beispielsweise bei Mangos by Air aus? Müssen solche Früchte wirklich mit dem Flugzeug eingeflogen und die Umwelt dadurch um ein Vielfaches mehr belastet werden? Auch auf diese Frage hat die Migros eine Antwort: «Durch einen kürzeren Transport kann [die Mango] länger am Baum reifen und ist damit geschmacksintensiver.» Auch hier lasse man den Kundinnen und Kunden «bewusst» die Wahl, ob sie Flugware kaufen möchten. Alles klar. Einziger Trost ist, dass die geflogenen Produkte in der Wertschöpfungskette der Migros nach eigenen Angaben CO2-kompensiert werden. Konsum um jeden Preis In der Schweiz hat sich die Bevölkerung in den letzten hundert Jahren gemäss Bundesstatisik mehr als verdoppelt (1916: 3,861,000 Einwohner, 2016: 8,327,000 Einwohner). Genauso ist auch der Lebensmittelkonsum in die Höhe geschnellt. Und auch unsere Ansprüche sind gestiegen. Die Kosten unseres gewachsenen Lebensmittelkonsums und vor allem auch Fleischkonsums trägt die Umwelt. Dabei könnte hier bereits eine Menge Abfall und CO2-Emissionen eingespart werden, wenn der Mensch vermehrt saisonal und regional einkaufen würde sowie seinen Fleischkonsum überdenken würde. Doch der Mensch will seine Bedürfnisse stillen, und das um scheinbar jeden Preis. Erdbeertorte mit frischen Erdbeeren im Winter? Warum auch nicht. Keine Zeit, Kartoffeln oder Kürbis zu schälen, schneiden und zu kochen? Das braucht es noch unbedingt im Sortiment. Das Schälen von Orangen ist immer so nervig? Zum Glück gibt es vorgeschälte Früchte, die nun umständlich in Plastik verpackt werden müssen, da ihre schützende, naturgegeben Hülle irgendwo beim Produktmarketing auf der Strecke blieb. Je länger es geht, desto mehr Unsinn scheint sich in den Regalen der Supermärkte zu stapeln – alles natürlich schön aufwendig in Extraschichten von Plastik verpackt. Das Paradoxe: Gleichzeitig rühmen sich ebendiese Supermärkte damit, dass sie Produkte aus der Region fördern, hohe Produktionsstandards unterstützen und Abgaben auf kleine Plastiksäckli (die bei den Gemüseregalen sind immer noch gratis) erheben. Auf die Frage, wie viel wichtiger es der Migros ist, vorgeschälte, vorgekochte und bereits geschnittene Produkte anzubieten, statt auf die dadurch anzufallende Plastikpackungen zu verzichten, antwortet der Grossverteiler: «Convenience-Produkte sind stark im Kommen und werden insbesondere im Sommer stark nachgefragt. Wir sind aber bestrebt, die Verpackungen ökologischer zu gestalten sowie Mehrweglösungen voranzutreiben. Bis 2020 hat sich die Migros zum Ziel gesetzt, 600 Tonnen Verpackungsmaterial einzusparen oder ökologisch zu optimieren.» Eine Frage des Lifestyles Diese Extraschichten von Plastik und Verpackungsmaterial sind es auch, die weltweit ein Problem darstellen. Einer der Gründe für diese riesigen Müllmengen lässt sich vermutlich in unseren Essensgewohnheiten festmachen. Über die letzten Jahre hinweg haben diese sich stark verändert. Da unsere Gesellschaft immer mobiler wird, hat sich auch die Abfolge der Mahlzeiten weitgehend aufgelöst, immer öfter findet die Nahrungsaufnahme unterwegs, alleine und rund um die Uhr statt. «On the go» ist der neue Esstisch. Das belegt auch die Statistik: Heutzutage geben Menschen in der Schweiz bereits doppelt so viel Geld für die Schnellverpflegung wie noch vor zehn Jahren aus (2,7 Milliarden/Jahr). Auf der anderen Seite hat sich nicht nur unser Lebensstil gewandelt, Essen selbst ist zum Lifestyleprodukt avanciert. Da wäre beispielsweise das Fiji-Wasser. Brauchen wir hier in der Schweiz wirklich vulkanisch mineralisiertes Wasser aus dem Südpazifik für 2.95 Franken pro 50cl? Ähnlich unsinnig ist das Mineralwasser der Marke Voss, wo 80cl stolze 5.90 Franken kosten. Vor allem hier in der Schweiz, wo wir Leitungswasser in Trinkwasserqualität haben ist es doch nicht nötig, Wasser über den ganzen Globus zu schicken und damit die Umwelt bis zu 450mal mehr zu belasten? Vom entstehenden PET- und Transportabfall einmal abgesehen. Mittlerweile hat auch die EU eingesehen, dass der Produktion und dem Vertrieb von Einweg-Plastik Einhalt gegeben werden muss. Am 27. März hat das EU-Parlament die europaweite Plastikstrategie angenommen. Das bedeutet, dass spätestens ab 2022 sämtliche Einwegprodukte, für die es umweltfreundlichere Alternativen gibt, vom Markt genommen werden müssen. Dazu zählen beispielsweise Wattestäbchen, Einweggeschirr oder Plastikstrohhalme. Auch dürfen ab 2024 Getränkebehälter aus Kunststoff nur noch dann vertrieben werden, wenn ihr Verschluss/Deckel an der Flasche befestigt ist. Ein erster Lichtblick. Aus den Augen aus dem Sinn? Doch es sind nicht nur die Verpackungen, welche die Müllzahlen in die Höhe springen lassen. Auch Essen selbst landet oft genug im Abfall. In der Schweiz beläuft sich diese Menge jährlich pro Kopf auf 117kg. Das entspricht 500 bis 1000 Franken. Oder anders gesagt: Jedes achte Lebensmittel in Privathaushalten landet in der Mülltonne. Das sich etwas ändern muss, wie wir mit unseren Lebensmitteln umgehen, liegt auf der Hand. Und auch wenn vieles in der Entscheidungsmacht grosser Konzerne liegt, so kann man als Einzelperson doch schon eine Menge unternehmen, um seinen täglichen Abfallberg etwas zu verkleinern: Sei dies, indem man bewusster einkauft – ob vermehrt saisonal und/oder regional –, auf Verpackungen wie etwa Plastiksäcke verzichtet oder gewisse Marken und Konzerne gänzlich meidet, die etwa durch Land und Water Grabbing die Existenz von funktionierenden, lokalen bäuerlichen Betrieben gefährden. Im Kleinen kann Grosses bewirkt werden. Man muss nur damit beginnen. 3 <strong>#165</strong> | APRIL <strong>2019</strong> 15