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sortimenterbrief Mai 2019

Das österreichische Branchenmagazin für Buchmarkt, Buchverkauf und Buchwerbung. Ausgabe Mai 2019

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uchrezension<br />

www.barbara-brunner.at<br />

Der aktuelle Lesetipp von Dr. Barbara Brunner<br />

Tschechische Auslese aus dem Wieser Verlag<br />

Liebe Menschen,<br />

im Wieser Verlag ist eben eine Reihe mit<br />

zeitgenössischer Literatur aus Tschechien<br />

erschienen, dem Gastland der Leipziger<br />

Buchmesse. zehn kleine Bände, keiner<br />

mehr als 100 Seiten, meist enthalten<br />

sie jeweils drei Texte, Geschichten, aus<br />

denen man gar nicht mehr auftauchen<br />

mag – so bunt, so vielfältig, spannend,<br />

lustig, böse, traurig, herzerwärmend,<br />

gemein, sentimental, aufmüpfig sind sie.<br />

Kurzum, es ist herrlich, sich mit dieser<br />

Literatur bekannt zu machen. Die Bücher<br />

sind wie Puzzle-Teile und ergeben richtig<br />

aneinandergelegt ein Bild mit vielen<br />

goldenen Bäumen ...<br />

Nur ein paar Beispiele:<br />

Michael Viewegh lässt in seiner Erzählung<br />

Das Städtchen der Schriftsteller den Autor<br />

Oskar Rache nehmen an den grässlichen<br />

Klatschtanten, die immer wieder<br />

Gerüchte über ihn in die Welt setzen,<br />

wie so eine Rache ausgehen kann, mag<br />

man sich lieber nicht vorstellen; in Die<br />

Definition von Liebe lernt die verwöhnte<br />

jung verheiratete Vilma ein altes Ehepaar<br />

kennen, das offensichtlich immer noch in<br />

tiefer Zuneigung verbunden ist, und bei<br />

einem Gespräch zwischen den beiden<br />

unterschiedlichen Frauen über die Liebe<br />

wird ihnen die Definition der alten Dame<br />

einen trockenen Lacher bescheren ...<br />

Jirí ˇ Kratochvil wiederum schreibt sich<br />

selbst als Autor in seine<br />

Geschichten hinein,<br />

was bei den Berichten<br />

eines sprechenden, klugen<br />

Araberhengstes<br />

über die letzten Tage<br />

des Zweiten Weltkrieges<br />

nachvollziehbar ist. Überhaupt<br />

die Geschichte des<br />

Landes – sie spielt in vielen<br />

Erzählungen eine Rolle,<br />

der Kommunismus, der die<br />

Menschen geprägt, verbogen<br />

oder gar gebrochen hat, jene,<br />

für die die Lehren der Partei<br />

Glaubenssätze waren, jene,<br />

die immer noch an Lenin als Messias<br />

der Massen glauben, und jene, die sich<br />

dagegen auflehnen oder die wie Schwejk<br />

sich diesem Diktat schelmisch widersetzt<br />

haben. Es gibt aber auch Geschichten<br />

wie Der letzte Russe von Dora Cechova, ˇ<br />

die ohne weiteres den Stoff für einen<br />

großen Kriminalroman bergen, und die<br />

in ihrer Kürze doch zu der spannenden<br />

Handlung auch ein Psychogramm<br />

über Liebe, Gehorsam und Macht<br />

sind. Oder Der Held von Madrid von<br />

Markéta Pilátová, ein Kurzroman über<br />

Frantisek Rek, der als junger Mann in<br />

den Spanischen Bürgerkrieg gezogen ist,<br />

um als Francesco ein Held zu sein. Aber<br />

nach seiner Rückkehr wurde er beileibe<br />

nicht gefeiert, sondern vielmehr schief<br />

angesehen, wurde als westlicher Spion<br />

denunziert und diskriminiert und musste<br />

sich verstecken ...<br />

Jirí ˇ Hájícek ˇ lässt in einer Erzählung<br />

die mittlerweile in Österreich lebende<br />

und zu Wohlstand gekommene Jana<br />

Kühlmayer ihre alte Heimat besuchen,<br />

sie trifft ehemalige Bekannte und<br />

lässt mit ihnen die in ihren Augen<br />

wunderbare Vergangenheit wieder<br />

auferstehen – eine Geschichte voll der<br />

fröhlichen, aber falschen Nostalgie, vom<br />

Auseinanderdriften von Lebenswelten,<br />

aber auch von der Beständigkeit von<br />

Freundschaften. Berührend ist Hájíceks ˇ<br />

Der Engel auf dem Dachboden, in der<br />

Jana auf der Suche nach der Geschichte<br />

Covercollage „Tschechische Auslese“ aus dem Wieser Verlag<br />

ihres Vaters statt bei ihrer Tante bei einer<br />

fremden Frau landet, die ihr aber im<br />

Laufe eines von Mandellikör getränkten<br />

Abends von einem Engel erzählt, den<br />

Janas Vater vor 40 Jahren aus der Kirche<br />

für sie gestohlen hat ... und den die<br />

beiden Frauen um Mitternacht ebenso<br />

glücklich wie leicht betrunken endlich<br />

zurückbringen.<br />

Auch die Tücken des Alltags, unerfüllte<br />

Wünsche und das resignierende<br />

Akzeptieren der Realität finden Eingang<br />

in Texte wie die von Petra Soukupová mit<br />

dem inspirierenden Titel Montagmorgen:<br />

Sie schreibt über ein junges Paar, dessen<br />

Liebe mit der Geburt der beiden Kinder<br />

vom Alltag erstickt wird, und übrig<br />

bleiben nur unerfüllte Träume ...<br />

Liebe Menschen, ich könnte Ihnen noch<br />

von so vielen Geschichten berichten, die<br />

ich in diesen zehn kleinen Bänden mit so<br />

großem Genuss gelesen habe.<br />

Gregor Sander schreibt in seinem<br />

Nachwort zu Jirí ˇ Hájíceks ˇ Dann blühen<br />

die Gräser: „Es gibt Menschen, die mir<br />

sagen, sie mögen keine Erzählungen.<br />

Das liegt vermutlich daran, dass man<br />

sich darin nicht so verlieren kann wie<br />

in einem dicken Roman. Die Leser von<br />

Erzählungen müssen wach sein, kreativ<br />

und selbst etwas dazugeben zu so einem<br />

Text. Sie müssen den Eisberg unter der<br />

Wasseroberfläche sehen<br />

können, dessen Spitze ihnen<br />

der Autor beschreibt.“<br />

In diesem Sinn wünsche ich<br />

Ihnen eine inspirierende,<br />

vergnügte Reise zu den<br />

tschechischen Eisbergen!<br />

Herzlich<br />

Ihre<br />

Barbara Brunner<br />

56 <strong>sortimenterbrief</strong> 5/19

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