Thema | Dossier 14 <strong>EDUCATION</strong> <strong>3.19</strong>
Thema | Dossier Glück Wenn ein Traktor, eine Bratwurst oder ein Gipfeli Kinder glücklich machen Esther Diener Eine Wurst über dem Feuer zu grillieren, das war für die 11-jährige Alina ein glücklicher Moment. Den 16-jährigen Flurin macht es hingegen glücklich, dass ein Mitschüler weg ist, den er nicht so gernhat. In der Heilpädagogischen Schule (HPS) der Region Thun ist Glück so vielfältig wie die über 100 Schülerinnen und Schüler. «Jaaaah», entfährt es dem 10-jährigen Joël. Er reckt seine Arme in die Höhe und zeigt, wie glücklich er sich fühlt. Glück, das heisst für ihn, mit dem Mami ins Flugzeug zu steigen und ans Meer zu fliegen. Sein Mitschüler Marlon bleibt am Boden, während Joël von seinen Plänen erzählt. Denn Marlon möchte lieber viel Geld. Damit will er einen Traktor kaufen. Sein Glück sieht er im Traktorfahren. Wohin? «Egal, einfach herumfahren», sagt er. Joël und Marlon besuchen die Heilpädagogische Schule der Region Thun, eine Tagesschule für Kinder und Jugendliche mit einer geistigen oder mehrfachen Beeinträchtigung. Zusammen mit einigen Mitschülerinnen und Mitschülern erzählen sie, was Glück für sie bedeutet. Kurz zuvor, pünktlich zum Schulbeginn um 8.45 Uhr, ist wie jeden Morgen eine Flotte von Kleinbussen beim Holzbau der HPS in Steffisburg vorgefahren. Ein grosser Teil der 110 Schülerinnen und Schüler wird mit dem Fahrdienst von zu Hause abgeholt. Bis nach Belp, Guggisberg, Gerzensee und Konolfingen sammeln die Fahrerinnen und Fahrer jeden Morgen die Kinder ein. Für den 15-jährigen Erik aus der Abschlussklasse ist genau das Glück: jeden Morgen mit dem Bus zur Schule zu fahren, dort anzukommen, dort den Tag zu verbringen. Erik ist dann stundenlang glücklich: Denn Erik hat kein Lieblingsfach. Er mag alles Mögliche. Auch seine Mitschüler hat er alle gern. «Natürlich nicht immer», fügt er hinzu, aber wenn ihn jemand einmal aufrege, sei es auch schnell wieder gut. Gibt es denn gar nichts, was ihn unglücklich macht? «Eigentlich nicht», sagt er. Er sei so glücklich, dass er gar keinen Wunsch offen habe, stellt Erik nach kurzem Überlegen ruhig fest. In der HPS der Region Thun gehen Kinder und Jugendliche im Alter von 4 bis 18 Jahren zur Schule. Sie sind in fünf Stufen eingeteilt: von der Eingangsstufe über die Basis- und die Mittelstufe bis zur Ober- und zur Abschlussstufe. 30 bis 40 Lehrpersonen unterrichten in den 16 Klassen. In Steffisburg gibt es keine Kurzlektionen zu 45 Minuten wie in einer Regelschule. «Wir haben drei Blöcke. Der erste dauert bis zur Morgenpause, der zweite bis zum gemeinsamen Mittagessen und der dritte bis Schulschluss um 15.30 Uhr», erklärt der Heilpädagoge Paul Schmutz. Das Fächerangebot orientiert sich am Lehrplan 21, ist jedoch den besonderen Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler angepasst. «Wir halten uns an die Grundideen, jedoch auf einem anderen Niveau», verdeutlicht Paul Schmutz. Das heisst zum Beispiel: Französisch gibt es an der HPS der Region Thun schon. Nur nehmen die Schülerinnen und Schüler nicht lektionenweise ein Französisch- Lehrbuch durch. Sondern sie lernen vor dem Klassenlager in der Romandie jene Wörter und Sätze, die sie dann dort brauchen können. In dieser Schule ist die 11-jährige Alina glücklich. Und ganz besonders glücklich war sie, als sie eine Bratwurst über dem Feuer grillierte. Alina nimmt ein Blatt hervor, wo sie all ihr Glück festgehalten hat. Es ist voll mit Bildern. Auch ein grosser, schwarzer Hund ist darauf. Alinas Lehrerin, Franziska Leichtnam, lächelt. Denn auch für sie bedeutet Glück, Augenblicke zu geniessen, «Momente im Alltag zu erhaschen, die wie Sternschnuppen an einem vorbeirasen», sagt sie. Etwa jenen Moment an einem düsteren und wolkenreichen Tag, wenn plötzlich die Sonne kurz hervorblickt und alles in ein goldenes Licht taucht. Glück kann aber auch etwas ganz anderes sein: Nämlich dass etwas fehlt, was einen unglücklich macht. So geht es derzeit Flurin, 16-jährig. «Ich bin glücklich, weil ein Schüler weg ist, den ich nicht mag», gibt er, ohne zu zögern, zu. Der missliebige Schulkollege ist beim Schnuppern für eine Lehrstelle und verhilft damit Flurin eine ganze Woche lang zu Glücksgefühlen. Flurin ist auch fest entschlossen, seine Glückssträhne fortzusetzen: Fürs Wochenende will er Freunde einladen, solche, die er mag. Drei andere Kinder sehen ihr grosses Glück in der Ferne: Elisa fliegt mit ihrem Vater nach Kanada. Fabian träumt davon, mit den Eltern einmal nach Schweden zu reisen. Und die 12-jährige Sophie darf nach Amerika zu den Grosseltern. Gleichzeitig bedeutet ihr Glück aber auch, in Steffisburg ins Coop zu gehen, ein Gipfeli zu kaufen und es dann zu essen. «Unterwegs zu sein, etwa auf einer Wanderung oder auf einer Skitour, und zu merken, dass ich nur gerade an das denke, was jetzt ist und an nichts anderes»: Das bedeutet auch für den HPS-Lehrer Paul Schmutz Glück. ▶ <strong>EDUCATION</strong> <strong>3.19</strong> 15