sortimenterbrief Juli/August 2019
Das österreichische Branchenmagazin für Buchmarkt, Buchverkauf und Buchwerbung. Ausgabe Juli-August 2019
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© Victoria Herbig<br />
Ein Roman aus Österreich<br />
über Geschichtsverdrängung<br />
und historische Verantwortung<br />
Ein Ort, der nicht gefunden werden will. Eine österreichische Gräfin, die über<br />
die Erinnerungen einer ganzen Gemeinde regiert. Ein Loch im Erdreich, das die<br />
Bewohner in die Tiefe zu reißen droht. In ihrem schwindelerregenden Debütroman<br />
geht Raphaela Edelbauer der verdrängten Geschichte Österreichs und den bis heute<br />
sichtbaren Strukturen auf den Grund.<br />
Raphaela Edelbauer, geboren 1990 in Wien,<br />
wuchs im niederösterreichischen Hinterbrühl auf.<br />
Sie studierte Sprachkunst an der Universität für<br />
Angewandte Kunst, war Jahresstipendiatin des<br />
Deutschen Literaturfonds und wurde für ihr Werk<br />
Entdecker. Eine Poetik mit dem Hauptpreis der<br />
Rauriser Literaturtage 2018 ausgezeichnet. Beim<br />
Bachmannpreis in Klagenfurt gewann sie 2018 den<br />
Publikumspreis. <strong>2019</strong> wurde ihr der Theodor-Körner-<br />
Preis verliehen.<br />
Zum Buch<br />
Der Unfalltod ihrer Eltern stellt die<br />
Wiener Physikerin Ruth vor ein nahezu<br />
unlösbares Paradox. Ihre Eltern<br />
haben verfügt, im Ort ihrer Kindheit<br />
begraben zu werden, doch Groß-<br />
Einland verbirgt sich beharrlich vor den<br />
Blicken Fremder. Als Ruth endlich dort<br />
eintrifft, macht sie eine erstaunliche<br />
Entdeckung. Unter dem Ort erstreckt<br />
sich ein riesiger Hohlraum, der das<br />
Leben der Bewohner von Groß-Einland<br />
auf merkwürdige Weise zu bestimmen<br />
scheint. Überall finden sich versteckte<br />
Hinweise auf das Loch und seine<br />
wechselhafte Historie, doch keiner will<br />
darüber sprechen. Nicht einmal, als<br />
klar ist, dass die Statik des gesamten<br />
Ortes bedroht ist. Wird das Schweigen<br />
von der einflussreichen Gräfin der<br />
Gemeinde gesteuert? Und welche<br />
Rolle spielt eigentlich Ruths eigene<br />
Familiengeschichte? Je stärker sie in<br />
die Verwicklungen Groß-Einlands zur<br />
Zeit des Nationalsozialismus dringt,<br />
desto vehementer bekommt Ruth den<br />
Widerstand der Bewohner zu spüren.<br />
Doch sie gräbt tiefer und ahnt bald, dass<br />
die geheimnisvollen Strukturen im Ort<br />
ohne die Geschichte des Loches nicht<br />
zu entschlüsseln sind.<br />
Leseprobe<br />
Das Loch war von unbekannter<br />
Tiefe, Verästelung und Feuchtigkeit.<br />
Es zog sich wie ein unterirdisches<br />
Myzel unter den Bergkuppen und<br />
Siedlungen durch, brach in Röhrchen<br />
und Netzen an die Oberfläche und<br />
schob kontinentaldriftartig das nervöse<br />
Erdreich zu grobkörnig atmenden<br />
Halden zusammen, unter denen der<br />
faulige, pilznetzige Verfallsprozess sich<br />
eingenistet hatte. Die Bodenkruste<br />
wurde im Laufe der Jahrzehnte weicher<br />
und weicher: schmatzende Sedimente,<br />
die sich unter den Häusern und Straßen<br />
hinwegtragen ließen, gaben sich der<br />
Verflüssigung hin, die in minuziöser<br />
Kleinstarbeit von Tau und Nieselregen,<br />
feuchten Herbstabenden und Gartenschläuchen<br />
vollbracht wurde. Kein<br />
Niederschlag, der nicht wie eine<br />
spontane Einblutung dieses unter der<br />
Gemeinde schwelende Aneurysma fast<br />
zum Platzen gebracht hätte.<br />
Das Loch war im Grunde unbeherrschbar.<br />
Es war ein unendliches<br />
Ausatmen des Landes, dessen Brustkorb<br />
sich bis an die Rippen senkte, diese<br />
durchbrach und die Organe verdrängte.<br />
Der einzige Segen war, dass all das<br />
so unendlich langsam geschah, dass<br />
Generation um Generation sich die<br />
Sorge darum aufgeteilt hatte – und<br />
man alibihalber jede Woche Beton in<br />
Schächte kippen konnte und genug Zeit<br />
hatte, die zerbrechenden Fensterbretter,<br />
die sich den Absenkungen geschlagen<br />
gegeben hatten, zu tauschen, bevor die<br />
Kinder aus der Schule kamen.<br />
Das Ende des Winters und die<br />
Schneeschmelze vor ein paar Monaten<br />
hatten in kürzester Zeit die Hälfte der<br />
Stadt um über einen Meter tiefer sinken<br />
lassen und die Straßen in einen so<br />
desolaten Zustand gebracht, dass man<br />
beim Überqueren meinte, im Morast zu<br />
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<strong>sortimenterbrief</strong> 7-8/19