sortimenterbrief Juli/August 2019
Das österreichische Branchenmagazin für Buchmarkt, Buchverkauf und Buchwerbung. Ausgabe Juli-August 2019
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novitätenleseprobe<br />
Advertorial<br />
waten. Sämtliche Pflastersteine, die den<br />
historischen Belag der Stadt bildeten,<br />
waren von den Absenkungen geradezu<br />
fortgesprengt worden und lagen nun<br />
lose auf den Plätzen und Straßen. Zwar<br />
hatte man zwischendurch immer<br />
wieder versucht, sie anzubetonieren,<br />
doch lösten sie sich, sobald das Loch<br />
durch eine feuchte Nacht auch nur<br />
einen Millimeter absackte. Ganzjährig<br />
herrschte akute Rutschgefahr; nur<br />
waren wir Meister darin geworden,<br />
uns dennoch fortzubewegen. Sogar die<br />
Greise, normalerweise kaum in der Lage,<br />
auf festem Untergrund im Equilibrium<br />
zu bleiben, streckten versiert den<br />
Gehstock von sich, als wären sie auf<br />
hohen Seilen unterwegs. Der Kirchturm<br />
indessen hatte eine neue Dimension<br />
der Bedrohlichkeit entwickelt: Manche<br />
behaupteten, er stehe im 45-Grad-<br />
Winkel, und auch wenn offizielle<br />
Messungen die Überzogenheit dieser<br />
Aussage bestätigten, war die Kipptendenz<br />
nicht vollkommen von der<br />
Hand zu weisen.<br />
Abgesehen von der Kirche war der<br />
Hauptplatz das Zentrum des Einbruchs:<br />
Seine Mitte hing ganze drei Meter<br />
tiefer als noch vor einem Jahr. Auf<br />
ihm waren die Steine nicht bloß lose,<br />
sondern in der Mitte geradewegs auf<br />
einen Haufen zusammengerutscht –<br />
trichterförmig fiel er zum Bildnis des<br />
ehemaligen Erzengels hin ab. Dort<br />
unten, also am Tiefpunkt der Parabel,<br />
hatte sich im vergangenen Monat der<br />
erste Durchbruch ins Bergwerk ereignet.<br />
Dünn wie ein Nadelöhr erst, dann<br />
bald faust- und beindick. Ich sah diese<br />
schwarze Leerstelle, von der ich durch<br />
meine Berechnungen wusste, dass sie<br />
über der tiefsten Senke des Loches lag,<br />
täglich auf meinem Weg zur Arbeit, und<br />
stellte mir vor, wie ein Stein, in diese<br />
Auslassung geworfen, hundertfünfzig<br />
Meter in den Berg einfallen würde.<br />
Fortbewegen konnte man sich über<br />
den trichterförmigen Hauptplatz nur<br />
mehr auf seinem steinernen Pizzarand.<br />
Ich und die anderen, die ihn dennoch<br />
passieren mussten, schoben uns am<br />
schmalen Grat neben der Häuserfront<br />
entlang, einander höflich, wie auf<br />
einer Einfahrt, den Vorrang lassend<br />
– den Bekannten zuwinkend, wenn<br />
sie sich auf der gegenüberliegenden<br />
Seite des Platzes an den Laternen<br />
entlanghangelten. Man stand auf<br />
derselben Struktur und war einander<br />
dennoch unerreichbar. Ich schob mich<br />
mit dem Rücken zur Wand an der<br />
Ostseite des Platzes vorbei, langsamer<br />
als sonst, weil um diese Zeit schon eine<br />
Gruppe Volksschüler, vorne und hinten<br />
mit Seilen an die Lehrerinnen gespannt,<br />
auf dem Weg zur Schule war. Trotz des<br />
desolaten Zustandes ihrer Stadt hatten<br />
die Groß-Einländer frohen Mutes<br />
Blumenzwiebeln in die Pflanzkästen<br />
gesteckt, deren ausbrechende Triebe sich<br />
nun in meinem Nacken rieben. Es fühlte<br />
sich an, als wäre man stundenlang damit<br />
zugange, diesen Platz zu überqueren,<br />
dabei dauerte es nur ein paar Minuten.<br />
Das vielleicht Merkwürdigste war<br />
überhaupt, wie sehr der Rhythmus der<br />
Einbrüche sich auf das Zeitgefühl aller<br />
Groß-Einländer übertrug: In Wochen,<br />
in denen die Einbrüche rasch vor sich<br />
gingen, schien die Zeit zu rasen und<br />
man hatte kaum Gelegenheit, die<br />
vielen Veränderungen im Ortsbild<br />
zu bemerken, sodass sich in wenigen<br />
Momenten die Verwitterung von Jahren<br />
zu ereignen schien. Blieb aber alles<br />
konstant, so nahm der Fluss der Dinge<br />
fast eine gewisse Zähigkeit an, und die<br />
Monate rollten in belangloser Indolenz<br />
über mich. Ich bemerkte dann kaum,<br />
wie ein ganzer Herbst vergangen war.<br />
So wie die Natur in der Taktung ihrer<br />
vier Jahreszeiten die Zeitwahrnehmung<br />
normalerweise beeinflusste, so sehr<br />
standen und flossen die Dinge hier mit<br />
den Absenkungen.<br />
Den Hauptplatz zu verlassen, war ein<br />
Segen. Zwar war der Rest der Stadt<br />
ebenfalls bis zu einem gewissen Grad<br />
verheert, doch hatte man mit keinem<br />
so groben Gefälle zu rechnen. Ganz im<br />
Gegenteil: Ich war auch heute angenehm<br />
überrascht, wie intakt in der Nordstadt<br />
alles schien, auch wenn dieser Eindruck<br />
nichts war als eine optische Täuschung.<br />
Erst vor wenigen Wochen hatten wir<br />
bemerkt, dass die Sehenswürdigkeiten,<br />
die hier alle dicht versammelt standen,<br />
immer mehr kippten, und daraufhin<br />
beschlossen, die Gehsteige einfach<br />
im exakt selben Winkel zu neigen.<br />
Das waren nur zehn Grad, die wir<br />
mit hydraulischen Stemmanlagen<br />
bewältigt und mit Betoneinspritzungen<br />
unterstützt hatten, doch der einwandfrei<br />
gerade Eindruck wurde dem Hirn durch<br />
diese Farce bewahrt.<br />
Aus der Innenstadt heraus musste ich<br />
eine letzte Hürde überwinden; eine<br />
einzelne Treppenstufe, die mittlerweile<br />
von zwanzig Zentimetern auf einen<br />
halben Meter Höhe angewachsen war.<br />
Allein das Schloss selbst stand, da es<br />
auf dem nackt emporragenden Felsen<br />
abgesetzt worden war, in derselben<br />
Position wie die letzten vierhundert<br />
Jahre ...<br />
Raphaela Edelbauer<br />
Das flüssige Land. Roman<br />
ca. 352 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag<br />
978-3-608-96436-3, € 22,70 (A) | Klett-Cotta<br />
ET: 24. <strong>August</strong><br />
www.klett-cotta.de<br />
<strong>sortimenterbrief</strong> 7-8/19 23