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Christian Jenewein, Wir Kinder vom 64er O-Dorf Leseprobe

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eim förmlichen „Sie“ blieben und deren Begegnung sich auf die gemeinsame<br />

Liftfahrt beschränkte.<br />

Auch eine „Sitte“, die es in Bauerndörfern wohl nicht gab: Anders<br />

als in den Dörfern am Land, gab es bei Begegnungen im „O-<strong>Dorf</strong>“ im<br />

Regelfall nur das „Sie“. Insbesondere für uns <strong>Kinder</strong> war es undenkbar,<br />

einen Erwachsenen mit „Du“ anzureden. Ein Fauxpas dieser Art<br />

wurde sofort mit einer deftigen Rüge oder gar mit der Feststellung geahndet,<br />

dass man ein „Rattler“ sei. Wobei es in dieser Zeit auch dazugehörte,<br />

dass die O-Dörfler nicht selten pauschal als „Rattler“ bezeichnet<br />

wurden: „Oh mei, a O-<strong>Dorf</strong>-Rattler!“, lautete oft genug der Befund.<br />

Mit „Rattler“ bezeichnet man üblicherweise einen kleinen Hund,<br />

der als „Stallhund“ gehalten wurde, um den Bauernhof frei von Ratten<br />

und ähnlichem Getier zu halten. Klarerweise hat dieser „Rattler“ nichts<br />

mit dem O-<strong>Dorf</strong>-Rattler zu tun. Einen Menschen, der aus „schlechtem<br />

Haus“ kam, kein Benehmen hatte sowie sozial- und bildungstechnisch<br />

eher am unteren Rand der Gesellschaft angesiedelt und folglich jemand<br />

war, der mit hoher Wahrscheinlichkeit schon einmal mit der Polizei Erfahrungen<br />

gemacht hatte, bezeichnete der Volksmund als „Rattler“.<br />

Die O-Dörfler generell als Rattler zu bezeichnen, wäre ein fataler<br />

Fehler. Dass dem nicht so war und ist, geht schon daraus eindeutig<br />

hervor, dass in diesem „<strong>Dorf</strong>“ auch Familien wohnten, die Akademiker<br />

und Künstler oder schlicht Ehepaare waren, die nur ein – meist sehr<br />

„behütetes“ und damit oft isoliertes – Kind und keine Erfahrungen mit<br />

der Polizei hatten.<br />

Aufgrund der Anzahl der Vielkinderfamilien war die Möglichkeit,<br />

dass sich unter den vielen Familien auch Personen befanden, die<br />

dem „Rattler“-Klischee tatsächlich entsprachen oder diesem zumindest<br />

nahe kamen, zumindest gegeben. Trotzdem: In Wahrheit war das<br />

„O-<strong>Dorf</strong>“ ein „<strong>Dorf</strong>“, dessen Einwohner kaum wirklich mit Kriminalität<br />

zu tun hatten. Das beweist schon die Zahl der Polizeibeamten in der<br />

Wache „O-<strong>Dorf</strong>“, die damals im ganzen Tag (24 Stunden) mit vier bis<br />

fünf Polizisten besetzt war.<br />

An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass ich in den folgenden<br />

Erzählungen die Beteiligten nur mit Vornamen nenne. Das findet seine<br />

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