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The Red Bulletin Januar 2020 (DE)

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K O L U M N E<br />

Thilo Mischke<br />

BEGEGNUNGEN<br />

ABSEITS <strong>DE</strong>S ALLTÄGLICHEN<br />

Er ist 200 Tage im Jahr unterwegs,<br />

Jetlag ist bei Korrespondent und Reisereporter<br />

Thilo Mischke (TV-Dokureihe<br />

„Uncovered“) ein Dauerzustand. Auf<br />

seinen Expedi tionen trifft der 38-jährige<br />

Berliner immer wieder Menschen, die<br />

ihn faszi nieren. Dieses Mal: Sandro,<br />

einen Brasilianer, der im Amazonas vom<br />

Urwald fürs Leben lernt.<br />

Da stehen wir beide auf einem Holzschiff, das<br />

sich durch das schwarze Wasser des Rio Negro<br />

in Brasilien kämpft, flussaufwärts, langsam<br />

zieht die Landschaft an uns vorbei. Eine Landschaft, die<br />

Sandro und mir viel bedeutet. Kaimane rutschen träge ins<br />

Wasser, Vögel schreien, und Kinder schwimmen hier.<br />

Wir fahren durch den Amazonas, durch den Regenwald,<br />

suchen für eine Fernsehreportage das Kokain, das<br />

hier über die Flussarme geschmuggelt wird. Aber eigentlich<br />

interessiert mich diese dumme Droge nicht, die Nasen<br />

und Natur zerstört. Ich interessiere mich nur für diesen<br />

Wald. Kann nicht aufhören, hineinzublicken<br />

in dieses endlose<br />

Grün. Ich starre, bis die Augen<br />

brennen.<br />

Der Amazonas bedeutet mir<br />

viel – als Kind in der DDR wollte<br />

ich hier immer hin. Ich wusste<br />

noch nicht, was Freiheit wirklich<br />

ist. Aber unter diesen Bäumen,<br />

im Mulch, zwischen Tieren und<br />

Pflanzen, da dachte ich, läge<br />

diese Freiheit, die ein Mensch<br />

braucht. Ich habe so viel über<br />

den Urwald gelesen, jedes Buch,<br />

das es gab. Jedes Mal, wenn ich<br />

im Amazonas bin, wenn ich<br />

Früchte probiere, die nicht gut<br />

aussehen, aber nach Käsekuchen<br />

schmecken, wenn ich mich zusammen<br />

mit Indigenen von<br />

Ameisen stechen lasse, wenn<br />

ich nachts mit Naturschützern<br />

durch den Wald robbe, um illegale Goldgräber zu verjagen,<br />

fühle ich die Freiheit, die ich als Kind geahnt habe.<br />

Sandro ist hier groß geworden. Er ist ein kleiner Mann<br />

mit kleinen Händen, einem kleinen Kopf. Würden wir<br />

uns umarmen, könnte ich mein Kinn in seinem Haar<br />

ablegen. Er besteht hauptsächlich aus Muskeln und<br />

funktionaler Kleidung. Sein Blick ist wissend, ein Blick,<br />

der giftige Schlangen und Pflanzen erkennt. Er hat von<br />

diesem Wald vieles gelernt. Vielleicht sogar alles, was im<br />

Leben wichtig ist. Vor allem eins: Wenn der Wald geht,<br />

„Der Wald, er hätte mich<br />

umbringen können. Aber er hat<br />

mich am Leben gelassen.“<br />

Einst erlebte Guide Sandro die Güte der Natur. Heute<br />

fürchtet er ihren Zorn darüber, dass wir sie zerstören.<br />

ist auch unsere Zeit auf der Erde vorbei. Weil wir dann<br />

bewiesen haben, wie egoistisch wir sind. Wie dumm.<br />

„Ich bin durch den Amazonas gelaufen, damals in den<br />

Acht zigern. Ich bin hier groß geworden. Aber ich wollte<br />

die Natur begreifen“, sagt er, als ich ihn frage, wie er diese<br />

Natur verstehen konnte. Heute begleitet er ausländische<br />

Journalisten in diesen Wald, will ihnen zeigen, was er<br />

gelernt hat. Diese Fläche, so groß wie Europa – grün,<br />

feucht und tödlich. „Ich habe die Menschen, die mit dem<br />

Wald leben, kennengelernt.“ Er meint die Indigenen, die<br />

hier noch so leben, als gäbe es keine Handelskriege, keine<br />

Umweltverschmutzung. „Sie haben mich aufgenommen“,<br />

sagt er, „und mir alles beigebracht.“<br />

Der Wald wird licht, während wir fahren. Obwohl er es hier<br />

nicht sein dürfte. Flächen, so groß wie ganze Bundesländer<br />

in Deutschland, stehen in Flammen. „Es tut weh,<br />

wenn ich das sehe“, sagt er. Der Nachmittag kommt<br />

schnell, die Sonne verschwindet, das Licht wird erträglicher.<br />

„Das Verrückte ist, dass wir etwas zer stören, was<br />

Millionen von Lebensformen beherbergt. Wir zerstören<br />

etwas, was Nahrung, Heimat<br />

und Geburtsstätte ist. Das ergibt<br />

doch keinen Sinn, oder?“ Aber<br />

die Welt, sie will Gold, Uran,<br />

Drogen, Holz, Essen, sie will<br />

Rindfleisch und Kokosöl. Und<br />

ich kann es der Welt nicht mal<br />

vorwerfen. Wir haben es uns<br />

bequem gemacht. Diese Bequemlichkeit<br />

aufzu geben wird<br />

schwierig. Vielleicht müssten<br />

die Menschen der Welt hierherkommen,<br />

müssten sich ansehen,<br />

was wir zerstören für unseren<br />

Luxus.<br />

„Einmal, da ging es nur ums<br />

Überleben, ich hatte mich verirrt“,<br />

erzählt Sandro. „Der Wald,<br />

er hätte mich umbringen können,<br />

aber er hat mich am Leben<br />

gelassen. Mit seinen Früchten,<br />

dem frischen Wasser, mit allem.“ Dort habe er gemerkt,<br />

wie unbedeutend wir sind. Wir machen alles kaputt, weil<br />

wir wissen, dass wir schwach sind. Wir wollen die Natur<br />

beherrschen, weil wir ahnen, dass wir gegen sie keine<br />

Chance hätten. Sandro schlägt mit den Händen auf die<br />

Reling des Schiffes. „Ich konnte noch lernen, weil der<br />

Wald existierte, aber jetzt verschwindet er, und die<br />

Konsequenzen werden unsere Kinder spüren.“ Weil das<br />

Wetter wütend werden wird, weil wir verstehen werden:<br />

Nicht nur Tiere und Pflanzen kommen aus diesem Wald,<br />

sondern auch der gute Wille der Natur.<br />

MICHAEL TERHORST BLAGOVESTA BAKARDJIEVA THILO MISCHKE<br />

20 THE RED BULLETIN

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