Taxi Times Berlin - November / Dezember 2019
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RECHT<br />
Niemand hat die Absicht, eine Geschwindigkeitsmessung vorzutäuschen: <strong>Berlin</strong>er<br />
Gründlichkeit – oder werden die abgeschalteten Geräte geschont?<br />
Dieser Anblick hat auf viele eine ähnliche<br />
Signalwirkung wie die Streifen einer Wespe.<br />
SCHULDIG!<br />
BEWEISE? HABEN WIR NICHT.<br />
In einem Rechtsstaat kann jemand nur für eine ihm nachgewiesene Tat<br />
verurteilt werden. Verpflichtet das die Behörden zur Herausgabe von<br />
Rohmessdaten bei Geschwindigkeitsverstößen?<br />
Das Recht auf Rohmessdatenherausgabe<br />
statt pauschaler Technikhörigkeit:<br />
Die Entscheidung des<br />
saarländischen Verfassungsgerichts aus<br />
dem Juli <strong>2019</strong> (Urteil vom 5.7.<strong>2019</strong>, Az. Lv<br />
7/17) sorgt weiter bundesweit für Wirbel<br />
bei Behörden und Gerichten. Das hohe<br />
Gericht hatte sich mit der Frage zu befassen,<br />
ob der Betroffene zu Zwecken seiner<br />
Verteidigung das Recht hat, Einsicht in die<br />
Rohmessdaten der jeweiligen Messreihe zu<br />
bekommen, um sich effektiv verteidigen<br />
zu können. Bis dahin wurde an deutschen<br />
Gerichten eine Verpflichtung der Bußgeldstellen,<br />
dem Verteidiger die gesamte Messreihe<br />
zur Verfügung zu stellen, in der Regel<br />
abgelehnt. Besonders gern wurde hierzu<br />
auf Gründe des Datenschutzes verwiesen.<br />
Außerdem schienen die Verkehrsrichter<br />
nicht gewillt, die Ergebnisse eines standardisierten<br />
Messverfahrens anzuzweifeln<br />
– à la „es wird schon richtig sein“.<br />
Die Begründung der Verfassungsrichter<br />
aus dem Saarland klingt daher in den<br />
Ohren eines jeden Verteidigers wie Mozart<br />
und Beethoven zusammen: „Zu den grundlegenden<br />
rechtsstaatlichen Anforderungen<br />
an die Verurteilung einer Bürgerin oder<br />
eines Bürgers gehört, dass er die tatsächlichen<br />
Grundlagen seiner Verurteilung zur<br />
Kenntnis nehmen, sie in Zweifel ziehen und<br />
sie nachprüfen darf“; „staatliches Handeln<br />
darf in einem freiheitlichen Rechtsstaat<br />
für die Bürgerin und den Bürger nicht<br />
undurchschaubar sein.“<br />
Man darf natürlich an dieser Stelle<br />
nicht unerwähnt lassen, dass sich das<br />
Urteil auf einen Einzelfall und nur auf ein<br />
bestimmtes Geschwindigkeitsmessgerät,<br />
nämlich des Traffistar S350 der Firma<br />
Jenoptik, bezog. Bei diesem Gerät wurden<br />
die Rohmessdaten gar nicht erst gespeichert.<br />
Der vom Verfassungsgericht entwickelte<br />
Grundgedanke ist jedoch auch auf<br />
andere Geschwindigkeitsmessverfahren<br />
(Poliscan F1, Leivtec XV3, PRoVida etc.)<br />
zu übertragen. In <strong>Berlin</strong> hat diese „Blitzer-<br />
Entscheidung“ nicht nur das Amtsgericht<br />
in der Kirchstraße beschäftigt, auch die<br />
Behörden zeigten sich beeindruckt und<br />
handelten schnell (na, geht doch). Noch<br />
im Juli reagierte die <strong>Berlin</strong>er Polizei. Sie<br />
mottete die vorhandenen Geräte vom Typ<br />
Jenoptik Traffistar S350 ein. Betroffen<br />
waren sechs mobile Blitzer. Aber auch<br />
drei fest installierte stationäre Messgeräte<br />
wurden vorübergehend außer Betrieb<br />
gesetzt. Seit Anfang <strong>November</strong> wird aber<br />
wieder gelasert, da Rechtsexperten rund<br />
um Innensenator Geisel zu der Auffassung<br />
gefunden haben, dass die Entscheidung aus<br />
dem Saarland in <strong>Berlin</strong> keine Bindungswirkung<br />
entfalte. <strong>Berlin</strong>er Richter am<br />
Amtsgericht sehen das anders. Mir wurde<br />
in einem Verfahren Einsicht in die Rohmessdaten<br />
gewährt, und das von mir mit<br />
der Auslesung beauftragte Sachverständigenbüro<br />
konnte schon herausfinden, dass<br />
die zur Verfügung gestellten Daten nicht<br />
vollständig sind. Es bleibt spannend. Eine<br />
grundsätzliche Entscheidung des Kammergerichts<br />
zu dieser Problematik bleibt<br />
abzuwarten.<br />
Achtung: Abgeschlossene Fälle werden<br />
von dieser neuen Sichtweise nicht berührt.<br />
Ihnen allen wünsche ich: „Gute Kasse!“<br />
Alexandra Decker, Rechtsanwältin<br />
FOTO: stock.adobe.com; Axel Rühle / <strong>Taxi</strong> <strong>Times</strong><br />
32 NOVEMBER/DEZEMBER <strong>2019</strong> TAXI