MODEIris van Herpens Interesse für Mode fing auf dem Dachbodenihrer Großmutter an – ein kleines Mädchen, das mit großenAugen durch die umfangreiche Kleiderkollektion einer Matriarchinlief. Ein Stück stach besonders hervor. „Es war ausSpitze und Samt, handgefertigt, aus den Jahren um 1700. Ichwerde es nie vergessen“, sagt die niederländische Designerin.„Ihr Dachboden war mein Traumort, wo ich Kleider ausverschiedenen Epochen und Silhouetten erkundete.“Es ist ironisch, dass der kreative Ursprung von van Herpenin der Modegeschichte liegt, wenn man bedenkt, dass sieweithin als führende Modefuturistin gefeiert wird. Als Pionierinim schneidermäßigen 3D-Druck ist sie für ihre Couture-Stückeaus einer anderen Welt bekannt. „Die Sammlung meinerGroßmutter hat mir geholfen, den großen Einfluss der Zeitdarauf zu erkennen, wer wir sind und wie wir uns ausdrücken“,sagt sie.Das Konzept der Zeit steht im Mittelpunkt von van HerpensArbeit, bei der alte Techniken wie Handnähen und Sticken mitmodernster Technik verbunden werden. „Durch das Erlernentraditioneller Handwerkstechniken habe ich eine Liebe zurInnovation entwickelt“, sagt sie. „Diese Bereiche balancierensich gegenseitig aus. Ich könnte dieKleidungsstücke, die ich jetzt schaffe,ohne die handwerkliche Seite nichtumsetzen. Gleichzeitig ist es wichtig,neue Umsetzungen zu kennen. Mirerscheint es natürlich, beides zukombinieren.“ Diese Philosophie lässtsich in Arbeit umsetzen, die dasKonzept der Couture voranbringt.2012 wurde van Herpen als eine derJüngsten in der Designerwelt in die Chambre Syndicale deHaute Couture aufgenommen.Es überrascht nicht, dass ihre Fangemeinde ausgeistesverwandten Frauen wie Björk, Lady Gaga, SolangeKnowles, Tilda Swinton und Daphne Guinness besteht. EinVan-Herpen-Kleid ist nicht nur eine dekorative Form derpersönlichen Darstellung. Es ist ein Kunstwerk in fließendem,handgefertigtem Seidenplissé, wie in ihren voluminösen, freischwebenden Kleidern für das Frühjahr 2019, oder inhandbemaltem, handgegossenem, transparentem Polyurethan,wie in ihren cocktailkleidlangen, einem Exoskelett ähnelndenKleidern für das Frühjahr 2017. Alle technischen Leistungenhaben eine unverwechselbare, menschliche Note. Sie erklärt ihrEthos des Selbstnähens: „Meine Mutter hat in meiner JugendKleidung gemacht. Ich selbst habe mit 14 Jahren damitangefangen. An der Kunstakademie habe ich gelernt, nochmehr von Hand zu tun und habe die Nähmaschine kaumbenutzt. Mich interessierte das Handwerk, aber ich wolltelernen, neue Dinge auf andere Art und Weise zu tun.“Also begann sie, mit dem 3D-Druck zu experimentieren, umihre Komfortzone zu verlassen. Sie brauchte sieben Monate, umihr erstes Stück zu kreieren. „Der Computerbildschirm siehtzweidimensional aus. Ich war daran gewöhnt, ein Modell mit„IN MEINEM PROZESSGEHT ES IMMER UMBEWEGUNG,TRANSFORMATIONUND VERÄNDERUNG“meinen Händen zu drapieren, es fühlte sich seltsam an“,erinnert sie sich. „Aber nachdem ich die unglaublich vielenDetails gesehen hatte, war mir klar, dass ich Strukturen schaffenkönnte, die ich niemals von Hand herstellen könnte.“Einer der Gründe dafür, dass van Herpen als fortschrittlichgefeiert wird, liegt darin, dass anhand des 3D-Drucks einenachhaltigere Arbeitsweise in einer Branche angestrebt werdenkann, die für ihre enorme Umweltbelastung berüchtigt ist. Der3D-Druck reduziert den Abfall, indem ein einzelnes Kleidungsstückgeschaffen wird und dabei nur das exakt benötigteMaterial verwendet wird. Diese Arbeitsweise unterscheidet sichvöllig von der herkömmlichen Bekleidungsherstellung, bei derder Stoff meterweise ausgerollt, dann zugeschnitten undgenäht wird und schließlich die Reste weggeworfen werden.Beim 3D-Druck wird auch biologisch abbaubarer Kunststoffverwendet, während der Baumwollanbau Wasser in nichtnachhaltiger Menge verbraucht.„Das Bewusstsein dafür, wie wir anfangen, Abfall zureduzieren, wächst. Mit dem 3D-Druck kann Mode nachhaltigergemacht werden. Letztlich geht es jedoch um eine großeBranche, die sich verändern muss“, sagt sie. Van Herpenzufolge entwickeln sich radikaleVeränderungen eher von Grund aufund beruhen nicht auf Konglomeraten.„Die jüngeren Labels sind flexibler“,sagt sie. „Ich hoffe, dass die kleinerenStimmen ein größerer Teil der Branchewerden. Die letzten 50 Jahre wareneine Welle in Richtung Globalisierungund immer größerer Gruppen. Für eineVielfalt an Visionen ist es wichtig,Raum für neue Wege des Betrachtens und Kreierens von Modezu schaffen. Das bedeutet mehr Designer-Labels, dieunabhängig sind und überleben können.“Was ihre eigene Zukunft angeht, ist van Herpen ammeisten von den Möglichkeiten begeistert, die neueDrucktechniken bieten: die Manipulation der Zeit. Sie richtetihren Blick auf den 4D-Druck, eine Technik, die derzeit u. a.an der Harvard University und am MIT entwickelt wird.Damit ist ein neuartiger, individueller Zuschnitt eineskomplexen Kleidungsstücks auf die spezifischen Maße desKörpers des Trägers möglich. Aussehen und Form desKleides können sich unter bestimmten Umständen ändern.„Der 4D-Druck ist der nächste Schritt, Sie entwerfennicht nur Ihre Struktur, sondern auch, wie sie ihre Form imLauf der Zeit verwandelt. Er eröffnet eine neue Welt, in derich Farbe und Muster entwerfen kann, aber auch, was diesemit der Zeit tun und was diese Veränderung auslöst, ob esHitze oder Wasser oder etwas anderes ist“, sagt van Herpen.„Darauf bin ich ziemlich fixiert, denn in meinem Prozess gehtes immer um Transformation, Bewegung und Veränderung.“Das kleine Mädchen, das von der jahrhundertealtenSamtjacke ihrer Großmutter gebannt war, würde sicherlichzustimmen.FOTOGRAFIE: VORHERIGE SEITE: ART+COMMERCE/S-LVE SUNDSB, DIESE SEITE: PORTRAIT VON JEAN-BAPTISTE MONDINO58 THE JAGUAR
Iris van Herpen (oben) ist eine Pionierin imschneidermäßigen 3D-Druck. Ihre Kreationen aus eineranderen Welt, mit denen sie zahlreiche berühmte Fansgewonnen hat, überwinden die Grenzen der Couture