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INFO Mai-Juni 06-2020

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Thema

Vertiefung in der Schule gemacht werden

und die Zeit daheim Familienzeit sein darf.

Es würde, über die sozialen Grenzen hinweg,

Druck von überforderten Eltern nehmen.

Symbolisches Kapital kann für Kinder stützend

und hemmend sein. So verweigerten

sich Jugendliche aus englischen Arbeitermilieus

der Bildungsförderung, weil die

harte Arbeit des Vaters als positiver Wert

galt und Bildungsaufstieg als Milieuverrat

gegolten hätte. Umgekehrt dürfte der hohe

symbolische Wert, den Bergbauernfamilien

mit ihrer Lage oft verbinden, das Selbstvertrauen

von Kindern auch stärken, sich

der Welt zu öffnen, wie sich exemplarisch

an Biografien zeigt. Förderlich war dabei

oft, dass der Dorfpfarrer, als Symbolfigur,

die Begabung des Kindes erkannte und

förderte. Für die Ganztagsschule stellt sich

die Frage, inwieweit diese in der Lage ist, so

etwas wie eine College-Identität auszubilden,

einen Schul-Spirit, der allen Kindern

Zugehörigkeit und aufrichtende Symbolik

vermittelt.

Ähnliches gilt für das soziale Kapital: Kann

die ausgedehnte Präsenzzeit die unterschiedliche

– und oft karriereentscheidende

– Verteilung sozialer Beziehungen

ausgleichen, indem sich unter den Kindern

Netzwerke jenseits der Familien-Milieus

knüpfen? Hier zeigt sich zugleich die Tücke

selektiver Bildungsangebote: Wenn Ganztagsschule

das Parallelangebot nur für

Benachteiligte ist, verfehlt sie ihren Zweck.

Sie müsste eine Schule für alle sein.

Die Kinder sollten

kochen, putzen,

aufräumen, Fahrräder

reparieren und im

Garten arbeiten dürfen.

Eine weitere Einschränkung: Lernen findet

nicht nur in der Schule statt, das formale

Lernen dort bedarf non-formaler und

informeller Verknüpfungen – das Lernen

im Schulhof, auf dem Schulweg, daheim,

mit den Nachbarskindern. Nun sind diese

Lernräume in urbanisierten Lebenswelten

stark eingeschränkt. Damit die Ganztagsschule

hier ausgleichen kann und nicht zur

Verschulung des Alltags führt, darf sie keine

zeitliche Streckung der Regelschule sein.

Sie muss Lernen als Erfahrung verstehen.

Die Kinder sollten kochen, putzen, aufräumen,

Fahrräder reparieren und im Garten

arbeiten dürfen.

So wäre die Ganztagsschule Anlass, Schule

neu zu denken: durch weniger gedrängten

und nach Fächern künstlich getrennten Stoff,

durch Öffnung des Stundentakts, durch

Kompetenzentwicklung nicht auf Arbeitsblättern,

sondern an Alltagsanforderungen;

durch Raum und Zeit für Disziplinen verschränkendes

und jahrgangübergreifendes

Lernen an Projekten; durch Einbeziehung

außerschulischer Aktivitäten, zu denen Kinder

aus benachteiligten Familien weniger

Zugang und (anfängliche) Motivation haben.

Es ginge also nicht darum, Schule einfach

nur auf den ganzen Tag auszudehnen, um

Kinder an die Schule abzutreten, sondern

Schule wieder ganz zu verstehen. Sollte dies

auch in der Regelschule möglich sein, wäre

die Debatte um die Ganztagsschule schon

ein Erfolg.

Hans Karl Peterlini

Professor für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung

an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt

Quellen

• Baur, Siegfried/Peterlini, Hans Karl (2016): An

der Seite des Lernens. Erfahrungsprotokolle

aus dem Unterricht an Südtiroler Schulen – ein

Forschungsbericht. Innsbruck: Studienverlag.

• Bourdieu, P. (1993): Sozialer Sinn. Kritik der

theoretischen Vernunft. Übersetzt von Günther

Seib. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

• Bourdieu, Pierre (2006): Wie die Kultur zum

Bauern kommt. Über Bildung, Schule und Politik.

Hrsg. von Margareta Steinrücke, Hamburg: VSA.

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