INFO Mai-Juni 06-2020
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Thema
Vertiefung in der Schule gemacht werden
und die Zeit daheim Familienzeit sein darf.
Es würde, über die sozialen Grenzen hinweg,
Druck von überforderten Eltern nehmen.
Symbolisches Kapital kann für Kinder stützend
und hemmend sein. So verweigerten
sich Jugendliche aus englischen Arbeitermilieus
der Bildungsförderung, weil die
harte Arbeit des Vaters als positiver Wert
galt und Bildungsaufstieg als Milieuverrat
gegolten hätte. Umgekehrt dürfte der hohe
symbolische Wert, den Bergbauernfamilien
mit ihrer Lage oft verbinden, das Selbstvertrauen
von Kindern auch stärken, sich
der Welt zu öffnen, wie sich exemplarisch
an Biografien zeigt. Förderlich war dabei
oft, dass der Dorfpfarrer, als Symbolfigur,
die Begabung des Kindes erkannte und
förderte. Für die Ganztagsschule stellt sich
die Frage, inwieweit diese in der Lage ist, so
etwas wie eine College-Identität auszubilden,
einen Schul-Spirit, der allen Kindern
Zugehörigkeit und aufrichtende Symbolik
vermittelt.
Ähnliches gilt für das soziale Kapital: Kann
die ausgedehnte Präsenzzeit die unterschiedliche
– und oft karriereentscheidende
– Verteilung sozialer Beziehungen
ausgleichen, indem sich unter den Kindern
Netzwerke jenseits der Familien-Milieus
knüpfen? Hier zeigt sich zugleich die Tücke
selektiver Bildungsangebote: Wenn Ganztagsschule
das Parallelangebot nur für
Benachteiligte ist, verfehlt sie ihren Zweck.
Sie müsste eine Schule für alle sein.
Die Kinder sollten
kochen, putzen,
aufräumen, Fahrräder
reparieren und im
Garten arbeiten dürfen.
Eine weitere Einschränkung: Lernen findet
nicht nur in der Schule statt, das formale
Lernen dort bedarf non-formaler und
informeller Verknüpfungen – das Lernen
im Schulhof, auf dem Schulweg, daheim,
mit den Nachbarskindern. Nun sind diese
Lernräume in urbanisierten Lebenswelten
stark eingeschränkt. Damit die Ganztagsschule
hier ausgleichen kann und nicht zur
Verschulung des Alltags führt, darf sie keine
zeitliche Streckung der Regelschule sein.
Sie muss Lernen als Erfahrung verstehen.
Die Kinder sollten kochen, putzen, aufräumen,
Fahrräder reparieren und im Garten
arbeiten dürfen.
So wäre die Ganztagsschule Anlass, Schule
neu zu denken: durch weniger gedrängten
und nach Fächern künstlich getrennten Stoff,
durch Öffnung des Stundentakts, durch
Kompetenzentwicklung nicht auf Arbeitsblättern,
sondern an Alltagsanforderungen;
durch Raum und Zeit für Disziplinen verschränkendes
und jahrgangübergreifendes
Lernen an Projekten; durch Einbeziehung
außerschulischer Aktivitäten, zu denen Kinder
aus benachteiligten Familien weniger
Zugang und (anfängliche) Motivation haben.
Es ginge also nicht darum, Schule einfach
nur auf den ganzen Tag auszudehnen, um
Kinder an die Schule abzutreten, sondern
Schule wieder ganz zu verstehen. Sollte dies
auch in der Regelschule möglich sein, wäre
die Debatte um die Ganztagsschule schon
ein Erfolg.
Hans Karl Peterlini
Professor für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung
an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt
Quellen
• Baur, Siegfried/Peterlini, Hans Karl (2016): An
der Seite des Lernens. Erfahrungsprotokolle
aus dem Unterricht an Südtiroler Schulen – ein
Forschungsbericht. Innsbruck: Studienverlag.
• Bourdieu, P. (1993): Sozialer Sinn. Kritik der
theoretischen Vernunft. Übersetzt von Günther
Seib. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
• Bourdieu, Pierre (2006): Wie die Kultur zum
Bauern kommt. Über Bildung, Schule und Politik.
Hrsg. von Margareta Steinrücke, Hamburg: VSA.
Mai/Juni 2020
17