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JAKOB DER LÜGNER - Badisches Staatstheater - Karlsruhe

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Geschichte kam mir weder originell vor<br />

noch neuartig, sie kam mir vor wie eine<br />

Geschichte, die ich schon hundertmal<br />

gehört oder gelesen hatte. Sie mag sich<br />

tatsächlich so zugetragen haben, aber<br />

das reicht nicht aus für eine gute Geschichte“,<br />

erklärt Becker in einem kurzen<br />

Essay mit dem Titel wie es zu jakob dem<br />

lügner kam. Becker nutzte die Wahrheit<br />

als Inspiration und erfand die Geschichte<br />

eines Mannes, von dem die Leute glaubten,<br />

dass er ein Radio versteckt hielt.<br />

Jakob der Lügner war geboren, ein Mann,<br />

der kein Held sein will – und der sich<br />

dennoch entscheidet, die Lüge auf sich zu<br />

nehmen und die Bewohner des Ghettos<br />

mit guten Nachrichten aus einem Radio zu<br />

beliefern, das gar nicht existiert. Denn er<br />

weiß, wie nötig die Menschen Hoffnung<br />

brauchen. „Vielleicht ist der Unterschied<br />

zwischen beiden Geschichten das, was<br />

man einen künstlerischen Einfall nennt“,<br />

schreibt Jurek Becker, „hoffentlich.<br />

Jedenfalls schien mir jetzt ein sinnvolles<br />

Motiv gegeben, die Geschichte zu<br />

erzählen. Ich hatte eine neue Konstellation<br />

gewonnen und eine Möglichkeit<br />

dazu, eine besondere Art von Heldentum<br />

vorzuführen, und auch ein bisschen zu<br />

philosophieren. Meinem Vater hat bis<br />

zuletzt seine Version besser gefallen. Er<br />

hat gesagt: ‚Dass du so wenig Vertrauen<br />

zu dem hast, was wirklich passiert.‘“<br />

Dem ersten Film-Exposé, das viele Episoden<br />

und Figuren bereits enthält, fügt<br />

Becker beim Schreiben des Romans einen<br />

zentralen Aspekt hinzu: Gleich zu Beginn<br />

führt er seinen namenlosen Erzähler ein,<br />

einen Überlebenden des Ghettos, der aus<br />

einer größeren zeitlichen Distanz auf die<br />

Ereignisse zurückblickt – einen Zeugen,<br />

über den sich die Frage nach der Wahrheit<br />

und dem Erzählen auf einer zweiten<br />

Ebene stellt. Er füllt die Leerstellen in den<br />

Geschichten, ergänzt sie um Vermutungen<br />

und Möglichkeiten, reflektiert und kommentiert<br />

kritisch das Geschehen wie auch<br />

den eigenen Versuch, davon zu erzählen.<br />

„Die Geschichten, die er erzählt, sind in<br />

emotionaler Hinsicht so real wie Jakobs<br />

Radio“, schreibt Sander L. Gilman in seiner<br />

Jurek Becker-Biografie über den Erzähler<br />

in jakob der lügner.<br />

„Ich habe schon tausendmal versucht,<br />

diese verfluchte Geschichte loszuwerden,<br />

immer vergebens. Entweder es waren<br />

nicht die richtigen Leute, denen ich sie<br />

erzählen wollte, oder ich habe irgendwelche<br />

Fehler gemacht ... Jedesmal, wenn<br />

ich ein paar Schnäpse getrunken habe,<br />

ist sie da, ich kann mich nicht dagegen<br />

wehren.“ Beckers Erzähler ist kein unbeteiligter<br />

Beobachter; das Erlebte und<br />

Verdrängte bestimmt und definiert seine<br />

Persönlichkeit in der Gegenwart. Quälende<br />

Fragen nach der eigenen Angst und<br />

Handlungsunfähigkeit verfolgen ihn und<br />

sind entscheidend für die Perspektive,<br />

aus der heraus er die Geschichte betrachtet.<br />

Der Versuch, sich seiner Vergangenheit<br />

zu stellen, gerät zur unbarmherzigen<br />

Selbstbefragung: Warum das unbewegliche,<br />

stille und geduldige Abwarten in der<br />

Hoffnung auf Rettung, Erlösung, Befreiung?<br />

„Es hat dort, wo ich war, keinen<br />

Widerstand gegeben“, stellt der Erzähler<br />

nüchtern fest – und „wahrscheinlich<br />

werde ich nie damit fertig.“<br />

Im Versuch, zu einer tiefer liegenden,<br />

emotionalen Wahrheit vorzudringen,<br />

überschreitet der Erzähler die Grenzen<br />

faktischer Wahrheit und räumt sich, was<br />

die von ihm überlieferten Geschichten<br />

um Jakob und die anderen Bewohner des<br />

Ghettos betrifft, eine gewisse Freiheit<br />

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