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JAKOB DER LÜGNER - Badisches Staatstheater - Karlsruhe

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im Umgang mit Wahrscheinlichkeit ein:<br />

„Die Wahrscheinlichkeit ist für mich<br />

nicht ausschlaggebend, es ist unwahrscheinlich,<br />

dass ausgerechnet ich noch<br />

am Leben bin. Viel wichtiger ist, dass<br />

ich finde, so könnte oder sollte es sich<br />

zugetragen haben. Und das hat nichts<br />

mit Wahrscheinlichkeit zu tun.“ Diese<br />

erzählerische Freiheit ermöglicht es<br />

ihm, die Lücken in der Geschichte kraft<br />

seiner Fantasie zu schließen und in den<br />

verschütteten Zwischenräumen einer<br />

großen historischen Wahrheit zahlreiche<br />

kleine Geschichten aufzuspüren – und zu<br />

erfinden. Stellvertretend für viele, deren<br />

Biografien ausgelöscht wurden, gibt er<br />

einigen von ihnen eine Geschichte, einen<br />

Namen, ein Gesicht, erzählt von ihren<br />

Träumen und Hoffnungen, ihrer Angst ums<br />

Überleben – aber auch von ihren alltäglichen<br />

Begegnungen, Sorgen, Freuden<br />

und Streitigkeiten. Aus diesen kleinen, erfundenen<br />

Geschichten voller Humor und<br />

Verzweiflung entsteht das, was Beckers<br />

Schriftstellerkollege Louis Begley in seinem<br />

Nachwort zu jakob der lügner „ein<br />

in der Hölle spielendes Märchen“ nennt.<br />

Am Ende des Romans steht zunächst der<br />

für den Film geplante Schluss, in leicht<br />

abgewandelter Form, eine Erfindung des<br />

Erzählers, eine tragisch-schöne Fantasie,<br />

die mit der Ironie des Schicksals spielt:<br />

Jakob, der Mann, der die ganze Zeit mit<br />

seinen guten Nachrichten aus einem erfundenen<br />

Radio im Ghetto für Zuversicht<br />

gesorgt hat, ist selbst am Ende aller Hoffnung<br />

angelangt. Bei einem selbstmörderischen<br />

Fluchtversuch wird er von einem<br />

deutschen Posten erschossen – wenige<br />

Augenblicke bevor die Rote Armee das<br />

Ghetto erreicht. So könnte oder sollte die<br />

Geschichte also enden – würde es nach<br />

dem Erzähler gehen. Doch auch wenn ihm<br />

10<br />

dieses utopische Ende weit besser gefällt,<br />

sieht er sich gezwungen, einen zweiten<br />

Schluss hinzuzufügen, einen, der mit<br />

der Realität vereinbar ist: Das Ghetto wird<br />

von den deutschen Besatzern aufgelöst,<br />

alle Ghettobewohner werden deportiert.<br />

Denn die Rote Armee hat nie ein Ghetto<br />

befreien können. Die Menschen haben<br />

vergeblich auf ihre Befreiung gewartet.<br />

Dass Roman wie Verfilmung über weite<br />

Strecken nicht versuchen, die tatsächlichen<br />

Schrecken des Lebens im Ghetto<br />

abzubilden, war für Filmregisseur Frank<br />

Beyer eine bewusste Entscheidung: „Die<br />

Bilder des Grauens, die wir aus Dokumentarfilmen<br />

über Ghettos und Konzentrationslager<br />

kennen, kommen in unserem<br />

Film nicht vor. Wir haben die Erfahrung<br />

gemacht, dass der Zuschauer durch<br />

Schockwirkungen dieser Art sich eher<br />

verschließt, als für die Gedanken- und<br />

Gefühlswelt des Autors und Regisseurs<br />

sich öffnet.“ Die Deutschen bleiben in<br />

der Geschichte fast anonym, spielen als<br />

einzelne Figuren keine größere Rolle.<br />

Jurek Beckers Vater hatte sich seinem<br />

Sohn gegenüber kritisch über die realitätsfremde<br />

Zeichnung des Ghetto-Alltags<br />

geäußert: „Den blöden Deutschen kannst<br />

du erzählen, wie’s im Ghetto zugegangen<br />

ist, mir nicht, ich war dabei. Ich bin ein<br />

Zeuge. Mir kannst du solche lächerlichen<br />

Geschichten nicht erzählen. Ich weiß,<br />

dass es anders war.“ Aber der Sohn hatte<br />

sich entschieden, so und nicht anders<br />

über den Holocaust zu schreiben. Im Osten<br />

wie im Westen wurde der Roman ein<br />

großer Erfolg. Für seine ungewöhnliche<br />

Auseinandersetzung mit der Shoah erhielt<br />

Becker verschiedene Auszeichnungen<br />

und wurde in den Schriftstellerverband<br />

der DDR aufgenommen.<br />

Georg Krause, Cornelia Gröschel

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