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JAKOB DER LÜGNER - Badisches Staatstheater - Karlsruhe

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die guten Nachrichten nicht versiegen,<br />

erfindet sie, denkt sich das versteckte<br />

Radio aus, das er angeblich hört, unter<br />

Lebensgefahr, alles nur, um den anderen<br />

im Ghetto Mut zu machen, Hoffnung<br />

zu geben. Sie warten auf die Russen.<br />

Schließlich sind sie Juden: gewohnt, auf<br />

den Messias zu warten ...<br />

In Polen gibt es keine Stadt Bezanika,<br />

aber im August 1944, als die Gestapo<br />

ihre letzten Deportationsbefehle an die<br />

Mauern des Ghettos von Lodz schlug,<br />

stand die Rote Armee schon 120 Kilometer<br />

– selbst damals nur ungefähr eine<br />

Schnellzug-Stunde – vor Lodz ... Man<br />

kann sich vorstellen, wieviel Hoffnung<br />

und Freude bei jeder Nachricht von einem<br />

weiteren Vorrücken der Russen aufkeimten,<br />

und wie bitter die Enttäuschung und<br />

Verzweiflung waren, als der Vormarsch<br />

stockte. In den letzten Julitagen verlangsamte<br />

sich die russische Offensive und<br />

kam dann zum Stillstand – so dass die SS<br />

und die Gestapo genug Zeit hatten, mit ihrer<br />

Vernichtungsarbeit weiterzumachen.<br />

In Lodz waren die Deportationen aus dem<br />

Ghetto Ende August abgeschlossen ...<br />

Sehr dramatische und sehr erschreckende<br />

Momente können sich dem Gedächtnis<br />

von Kindern mit eisiger Genauigkeit<br />

einprägen – wenn sie nicht verdrängt<br />

werden –, und Jurek muss viele verdrängt<br />

haben. Von der düsteren alltäglichen Realität<br />

des Ghettolebens wird ihm jedoch<br />

eine allgemeine diffuse Erinnerung an<br />

Angst und Verlust geblieben sein, aus der<br />

sich natürlich sehr dramatische Momente<br />

und andere für ihn besonders wichtige<br />

Ereignisse punktuell heraushoben. Dass<br />

Jurek Becker 1962/63, als er die erste<br />

Version von Jakob Heyms Geschichte<br />

schrieb – das Exposé für einen Film,<br />

den Frank Beyer machen sollte –, und<br />

kurz danach, als er das Drehbuch in den<br />

Roman jakob der lügner umarbeitete,<br />

den Eindruck hatte, seine Erinnerungen<br />

würden nicht genügend Stoff für Memoiren<br />

hergeben, kann man sich deshalb gut<br />

vorstellen. Aber als er die Handlung und<br />

die Personen mit ihrem Zauber erfunden<br />

hatte, konnte er eine erdichtete<br />

Geschichte schreiben, seine eigenen<br />

Erinnerungen so nutzen und umwandeln,<br />

wie es für die Erzählung notwendig war,<br />

und durch Informationen ergänzen, die<br />

er von seinem Vater und anderen älteren<br />

Überlebenden gehört oder sich lesend<br />

angeeignet hatte. Auch dieses Material<br />

wurde durch seine Phantasie verändert.<br />

Vielleicht entdeckte er erst in diesem Umwandlungsprozess<br />

den Ton der Erzählung,<br />

der den richtigen Klang für ihn hatte: die<br />

Stimme seines schwermütigen, manchmal<br />

stockenden Erzählers, der ein in der<br />

Hölle spielendes Märchen erzählt.<br />

Vielleicht hatte er den Erzähler aber auch<br />

von Anfang an im Kopf. In jedem Fall aber<br />

müssen ihn beim Schreiben quälende<br />

Fragen verfolgt haben: War er den Erinnerungen<br />

an das Ghetto gerecht geworden,<br />

die er sich bewahrt hatte und denen er<br />

trauen konnte? Hatte er den Toten die<br />

Achtung erwiesen, die ihnen gebührte?<br />

War seine Arbeit authentisch und in<br />

emotionaler Wahrheit verankert?<br />

Diese belastenden Fragen sind mir vertraut,<br />

weil ich selbst mit ihnen konfrontiert<br />

war, als ich lückenhafte Erinnerungen<br />

an meine Kindheit im von Deutschen<br />

besetzten Polen für einen Roman – lügen<br />

in zeiten des krieges – nutzte. Ich habe<br />

nicht den geringsten Zweifel, dass Becker<br />

die richtige Entscheidung traf, als er sie<br />

zugunsten seines Romans beantwortete.<br />

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